Der Fremde
Die erste Notiz zum Fremden findet man in den Tagebüchern vom August 1937[122], die letzte im Mai 1940.
Jean-Paul Sartre erkannte als Erster, dass dieses Werk viel mehr war als nur ein weiterer großer Roman der französischen Literatur. Obwohl seine 21-seitige Kritik, die er im Februar 1943 in den Cahiers du Sud veröffentlicht, im Zwischentonbereich bereits jenen feinen Spott enthält, mit dem er Camus später bloßstellen wird, hat er das Umstürzende des Romans doch sofort erfasst: Dieses Buch will die Welt und die Art, über sie zu sprechen, noch einmal neu erfinden.
Sartre erkennt die Sprengkraft des Fremden, auch wenn er die Originalität seines Autors nicht anerkennt und Camus in seiner langen Rezension zu einem kleinen Hemingway des Montparnasse macht, zu jemandem, dessen bleibendes Verdienst vor allem darin besteht, ein etwas ruppiges, neorealistisches Amerika ins Café de Flore gebracht zu haben.[123]
Genau das stimmte nun gerade nicht. Der Ton des Fremden ist zwar so unsentimental und direkt wie der neue schnelle Ton der jungen Amerikaner, doch er ist nicht so hart und männlich wie dieser. Camus’ Fremder spricht wie ein Kind, dem der zweite Blick, der durch Vorwissen formatierte Blick, auf die Welt fehlt und das alles wie zum ersten Mal sieht. Wollte man Vorläufer suchen, fände man sie in der romanischen Literatur des Ennui, in Alberto Moravias Die Gleichgültigen (1929), in Emmanuel Boves Meine Freunde (1924), in Sartres Der Ekel (1938).
Doch geht Camus viel weiter. Er überlässt seinem anspruchslosen Helden – diesem ersten kleinen Mann der französischen Literatur, der nichts Großartiges mehr vorhat – die Regie. Und die Welt schrumpft entsprechend auf die Größe dieses Angestellten mit festen Bürostunden, der allein in zwei Zimmern in der Vorstadt von Algier lebt. Seine Mutter ist gerade im Altersheim gestorben. Aus seinem Fenster sieht er auf eine belebte Straße. Straßenbahnen fahren, und Menschen eilen vorüber. Das zweite Zimmer bewohnt er nicht. Der Esstisch und das Bett stehen im selben Raum. Außerdem gibt es dort ein paar durchgesessene Strohstühle, einen Schrank und einen Toilettentisch. Mehr Komfort braucht er nicht – physisch, seelisch und literarisch nicht. Die Kargheit seiner Behausung entspricht seinem kaum möblierten Innenleben.
Am Sonntag stellt er einen Stuhl ans Fenster, sieht stundenlang hinaus und raucht. Er verbringt seine Tage in einem Büro im Hafenviertel. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Seefrachtbriefe, die er bearbeiten muss. Er macht das ohne Widerwillen. Am meisten stört ihn, dass das Rollhandtuch, an dem sich die Angestellten die Hände abtrocknen, am Abend feucht ist. Solchen Kleinigkeiten schenkt er besondere Beachtung. Die Beerdigung seiner Mutter beobachtet er wie ein zufälliger Gast. Sartre nannte das: Er sieht die Welt wie hinter Glas. Dabei ist er äußerst feinfühlig. Es sind nebensächliche Dinge, die ihm auffallen: die Tränen, die sich in den tiefen Gesichtsfurchen der alten Leute aufstauen; die dicken Bäuche der alten Frauen unter den eng gebundenen Schürzen; die Art, wie die Hosen der Männer auf den Schuhen aufliegen; das glänzende Schwarz des Straßenbelags. Er ist auch sehr empfänglich für Geräusche und für Farben. Später im Gefängnis wird er behaupten, dass man an einem einzigen Tag genug erlebe, um sich hundert Jahre lang daran zu erinnern. Am Tag nach der Beerdigung lernt er eine Frau im Schwimmbad kennen, mit der er am Abend ins Bett geht. Als sie ihn bald darauf zur Heirat drängt, stimmt er zu. Als sie fragt, ob er sie liebe, verneint er. Seine Gefühlskälte ist so stark, dass man sie heldenhaft nennen kann. Mit dem Unterschied, dass der klassische männliche Held seine Gefühle nur beherrscht, während Meursault gar keine Gefühle hat.
Er ist der direkte Nachfahre des erwähnten Protagonisten Mersault aus Camus’ gescheitertem Roman Der glückliche Tod. Doch es gibt große Unterschiede zwischen den beiden. Mersault war ein Abenteurer, ein Eroberer, ein Mörder aus Vorsatz und Eigennutz. Er wollte, was seit Balzac alle bürgerlichen Romanhelden wollen, Geld, Reisen, Sex, Immobilien. Meursault hingegen erwartet nichts vom Leben. Er war einmal in Paris und hatte Ambitionen. Aber er fand die Stadt grau und schmutzig. Die Pariser waren ihm zu blass, und er mochte die Tauben dort nicht. Also kehrte er zurück in die Welt der Verlierer und kleinen Leute in der Provinz. In diesem Punkt nimmt Meursault einen im Westen wenig verbreiteten Standpunkt ein: Er ist an der Verbesserung seiner Lage nicht interessiert. Damit fehlt ihm die Grundausstattung neuzeitlicher Bürgerlichkeit. Der Fremde ist ein Mann der Vormoderne, ein Held des Verzichts und des wunschlosen Unglücks.
Auch seine Herkunft ist nicht bürgerlich. Seine Freunde in der algerischen Vorstadt sind der Wirt Céleste, bei dem er täglich isst; der alte Nachbar, der seinen räudigen Köter beschimpft und nach dessen Verschwinden verzweifelt weint; und der Zuhälter Raymond, von dem er sich widerstandslos in die Geschichte mit den Arabern hineinziehen lässt, in deren Verlauf er zum Mörder wird. Diese Welt der einfachen Leute ist ein Reservat des Allzumenschlichen, der ehrlichen Tränen und der wortlosen Freundschaft in diesem Roman, der nicht jeden Winkel mit dem unbarmherzigen Lichtstrahl seines Desillusionismus ausleuchtet.
Der erste Teil des Buches wirkt wie ein Kurzfilm zu Camus’ vergangenem Leben in Algier. Der Kameraeffekt ergibt sich aus der Ich-Erzählung: Meursault selber ist die Kamera, und der Leser wird eingeschlossen in seinen Lebensfilm, der beinahe ein Stummfilm ist, so wenig teilt er uns mit über seine Gefühle, Überlegungen und Ansichten. Wir sehen Meursault dabei zu, wie er am Freitag am Sarg seiner Mutter schwarzen Kaffee trinkt, wie er am Samstag im Kino die Brüste der Stenotypistin Maria streichelt, wie er am Sonntag eine Werbeanzeige für Salz aus einer alten Zeitung ausschneidet und danach mit seinem Nachbarn Blutwurst isst und Wein trinkt. Mit ihm gemeinsam spüren wir das endlos langsame, sinnlose Ticken der Uhr, die unser Leben abzählt.
Die alles entscheidende Szene, in der Meursault sein Leben verspielt und das eines anderen beendet, vollzieht sich am Strand außerhalb der Stadt. Meursault und seine Freunde geraten in eine Schlägerei mit zwei Arabern, ein Araber hat ein Messer, die Männer ziehen sich zurück. Meursault kehrt später allein an den Strand zurück. Die Sonne blendet ihn, deshalb macht er eine heftige Bewegung, und der Araber zieht noch einmal sein Messer, das in der Sonne funkelt. Meursault wollte nicht schießen, doch «der Abzug hat nachgegeben». Insgesamt hat er dann fünf Mal geschossen, jeder Schuss ein Schlag, mit dem er – wie Meursault dann doch überraschend poetisch formuliert – «an das Tor des Unglücks hämmerte». Schuld daran war, wie er behauptet, die Sonne. In den entscheidenden Augenblicken seines Werks stößt man bei Camus auf den von der hohen Mittagssonne beschienenen Fatalismus seiner Kindheit im algerischen Armenviertel.
Im zweiten Teil des Romans sitzt Meursault im Gefängnis. Er wird verhört, und man macht ihm den Prozess. Der Angeklagte verteidigt sich nicht. Im Sommer 1939 hatte es tatsächlich drei Mordprozesse in Algier gegeben, bei denen die Sonne und der Alkohol eine Rolle spielten, als der eine zu schnell in seine Tasche griff und der andere sofort schoss. Der Alger républicain hatte darüber berichtet.
Meursaults Untersuchungsrichter ist jedoch mit einer fatalistischen Erklärung der Tat, wie der Beschuldigte sie bietet, nicht zufrieden. Er erfindet eine modernere, psychologische Erzählung, die zu diesen fünf Schüssen hinführen soll. Zum wichtigen Baustein dieser Geschichte wird das kühle Verhalten des Angeklagten bei der Beerdigung seiner Mutter und dass er obendrein schon am nächsten Tag schwimmen gegangen ist und eine Frau kennengelernt hat. Das Gericht hält jemanden, der keine Gefühle beim Tod der Mutter zeigt, für verdächtig. Da der Angeklagte auch in den Vernehmungen keine Reue zeigt und nicht bereit ist, um Vergebung für seine Sünden zu bitten, ist der Staatsanwalt von seiner Schuld überzeugt.
Am Ende steht das Todesurteil. Und es sieht so aus, als werde Meursault eher für seine Fühllosigkeit als für den Mord an jenem gesichts- und namenlos bleibenden Araber verurteilt. Nicht die Tat macht ihn schuldig – ein französischer Kolonist ist im kolonialen Frankreich für einen Mord an einem Araber kaum mit dem Tode bestraft worden –, sondern sein Widerstand gegen die geltenden Gefühlskonventionen der westlichen Moderne. Mit orientalischem Gleichmut bricht er alles, was ihm widerfährt, auf eine einzige Formel herunter: «Das hat keine Bedeutung.»
Das größte Wunder des Buches bleibt die Kühnheit seiner Erzählperspektive. Was hat diesen unscheinbaren Büroangestellten zu einem Buddhisten des Herzens werden lassen, der sich der Gefühls- und Verhaltenskultur, in der er lebt, verweigert und innerlich zu allem und jedem nur wie Herman Melvilles Schreiberling Bartleby sagt: «I would prefer not to»?
Der Roman ist ein Schlüsselwerk der europäischen Literatur, er ist vor allem aber auch ein Schlüssel zum Leben seines Verfassers. Getrennt in zwei beinahe unverbundene Teile, in deren Mitte sich ein Schuss löst und ein Mensch stirbt, zwei Teile wie die beiden unverbundenen Leben Camus’. Der erste Teil enthält die bekannten Lebensmotive des jungen Angehörigen des algerischen Proletariats: die Einfachheit, die Mittagssonne, das Glück am Strand. Es ist jener Ausschnitt seines Lebens, in dem Camus sich im Rückblick als Teil einer stummen elementaren Welt sehen möchte, die sich ein tiefes, wortloses Wissen bewahrt hat. Das ist oft missverstanden worden: Die Gleichgültigkeit und Fremdheit des Fremden ist für Camus kein Mangel, sondern ein Reichtum. Sie öffnet sich in die Stille, Weite und Mehrdeutigkeit der Welt und des Inneren.
Der zweite Teil bildet die Erfahrungsräume des Bildungsaufsteigers ab: die Öffentlichkeit, die Kultur, die Justiz, die christliche Moral, den Journalismus, die Politik, die Religion. Es ist die Welt, in der er im Jahr 1940 lebt, schreibt und politisch handelt. In einem jungen Journalisten, einem Gerichtsreporter, hat Camus sich selbst porträtiert:
«Die Journalisten […] machten alle dasselbe gleichgültige und ein wenig spöttische Gesicht. Einer von ihnen allerdings, sehr viel jünger, in grauem Flanell mit blauem Schlips, hatte seinen Stift vor sich liegen lassen und sah mich an. In seinem etwas unregelmäßigen Gesicht sah ich nur seine sehr hellen Augen, die mich aufmerksam musterten, ohne etwas Bestimmbares auszudrücken. Und ich hatte das sonderbare Gefühl, von mir selbst angesehen zu werden.»[124]
Es sind die beiden Pole seines Lebens, die Camus in seinem ersten Roman wie zwei Züge mit hoher Geschwindigkeit aufeinanderzurasen lässt. Zwei Menschen sterben bei diesem Zusammenstoß: der arabische Ureinwohner und der französische Kolonist – und mit beiden der Traum, dass es eine Versöhnung zwischen Traditionalismus und Moderne, Orient und Okzident, zwischen Frankreich und dem Maghreb und auch zwischen den zwei Leben des Schriftstellers Albert Camus geben könnte.
Das unmittelbare Ergebnis dieses Zusammenstoßes zweier historisch und geographisch weit auseinander liegender Lebensgefühle ist das Absurde. Meursault glaubt in einer Komödie zu leben, die die Gesellschaft um ihn herum aufführt. Aus Gründen, die im Roman im Dunkeln bleiben, ist er mit den Ansprüchen, die eine moderne westliche Gesellschaft an das Innenleben und das Sozialverhalten ihrer Mitglieder stellt, nicht vertraut. Diese Unvertrautheit wirkt so grundsätzlich, dass sie metaphysische Züge trägt.
In den Jahrzehnten nach dem Erscheinen des Romans wird das Entfremdungsgefühl Meursaults zur Kollektiverfahrung mehrerer Generationen von amerikanischen und europäischen Intellektuellen, die sich in der westlichen Mainstreamkultur oder im totalitären System ihrer Heimatländer unbehaust fühlen und ihre Gegenwart absurd nennen werden. Der Fremde wird für diese Generationen zum Kultbuch und zu einem weltweit millionenfach verkauften Erfolg. Inzwischen – nachdem die Mainstreamkultur überall auf der Welt das Absurde in die Arme geschlossen und in ihre Kunst- und Satirekanäle eingespeist hat – ist dem Wort «absurd» die ursprüngliche Schärfe Camus’ abhandengekommen.
Im Roman selbst taucht das Wort «absurd» nur an einer einzigen Stelle auf. Ganz am Schluss – ein Priester besucht den Todeskandidaten zum letzten Mal – hält Meursault eine kurze, merkwürdig bühnenreife Rede. Der Pater, sagt er, lebe wie ein Toter. Er hingegen sei sich seines Lebens und seines Todes sicher. Aus der «Tiefe» seiner Zukunft, so behauptet er, sei während dieses ganzen «absurden Lebens», das er geführt habe, ein «dunkler Atem» zu ihm aufgestiegen, und dieser Atem mache auf seinem Weg alles «gleich», was man ihm in den «unwirklichen Jahren» geboten habe. Zum ersten Mal erklärt sich der Fremde – mit großsprecherischem Pathos. An solchen Stellen meint man zu verstehen, warum Camus eine Angriffsfläche bietet für Kritiker, die ihn, wie Jean-Jacques Brochiers in den siebziger Jahren, einen «Philosophen für die sekundäre Oberstufe» nennen.[125]
Doch die Erklärungsrhetorik einer solchen Passage kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Absurde bei Camus ein unauflösbares Paradox bleibt, eine Wunde, die sich nie schließen wird, mit der gelebt werden muss, zu rätselhaft, um zum Schulstoff zu taugen. Die beste und dunkelste Erklärung des Absurden stammt von seinem Freund Maurice Blanchot. Der schreibt in einem kurz nach Camus’ Tod veröffentlichten Text mit dem Titel «Der Umweg zur Einfachheit», das Absurde «steht in unserer Sprache da wie etwas Nacktes, das seine Gründe nicht nennt, ein Grenzzeichen, das sich weigert, zu dem von ihm Begrenzten zu gehören: ein unnachgiebiges Wort, das Abschied nimmt und gibt.»[126]
Wenn Meursault sein Leben absurd nennt, meint er das so, wie Maurice Blanchot es verstanden hat. Sein Leben ist nackt, und es gibt keine Gründe dafür. Einsamer als ihn kann man sich einen Menschen kaum vorstellen. Erst auf den allerletzten Metern, beinahe schon auf dem Weg zum Schafott, mildert Camus das Schneidende und Unnachgiebige dieser absurden Engführung. Ein letztes Mal lässt er seinen Helden einen Blick in den Himmel werfen, der plötzlich wie zur Christnacht «voller Zeichen und Sterne ist». Und als sei das Absurde ein Gott, der sich von Zeit zu Zeit in seiner erhabenen Sinnlosigkeit offenbart, öffnet der Todeskandidat sich «zum ersten Mal» – so die legendäre Formulierung – «der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt».
Meursault nennt sich in diesem Augenblick einen glücklichen Menschen und denkt an seine Mutter. Er behauptet, er sei mit ihr in Wahrheit die ganze Zeit über in derselben «zärtlichen Gleichgültigkeit» verbunden gewesen, die auch den Himmel und alles Lebendige erfülle. Nicht aus Fühllosigkeit, sondern einzig wegen dieser Überwältigung durch das Unaussprechliche sei er so stumm und kalt gewesen. Nicht die Leere, sondern die Überfülle des Empfindens habe ihn daran gehindert, die zivilisatorischen Standards des Lebens zu beachten. Es ist ein großes Finale. Und ein kleiner Trost, der plötzlich durch das Wörtchen «zärtlich» aus dem kalten Kosmos herabschwebt wie eine Schneeflocke.
Beinahe unbemerkt bahnt Camus am Romanende einen semantischen Pilgerweg zum letzten Satz des sterbenden Christus, als er den Fremden sagen lässt, er wünsche sich viele Zuschauer bei seiner Hinrichtung, die ihn mit Schreien des Hasses empfangen mögen, damit «alles vollbracht» sei («pour que tout soit consommé»). In einem späteren Vorwort zu einer amerikanischen Universitätsausgabe des Romans wird Camus sogar so weit gehen, zu behaupten: «Ich habe versucht, in meiner Figur den einzigen Christus darzustellen, den wir verdienen».[127]
Dennoch ist Camus kein Christ und Meursault kein Erlöser vom Absurden. Im Gespräch mit dem Weggefährten Jean-Claude Brisville wird Camus im Jahr 1959 sagen, er habe einen «Sinn für das Heilige», aber er glaube nicht «an das ewige Leben».[128] Die Versöhnlichkeit am Ende des Fremden verdankt sich zum einen dem Muttermythos seines Verfassers: Der Muttersohn Camus teilt mit dem Muttersohn Meursault die stumme Verehrung der Mutter, an die nichts Weltliches heranreicht. Zum anderen zeugt sie vom religiösen Atheismus Camus’, dessen Kirche die Literatur und dessen Liturgie das Paradox ist – von der größten Hoffnungslosigkeit soll man nicht erlöst werden, denn sie selbst ist die Hoffnung. Am Horizont des Romans ist eine negative Theologie wirksam, in der Leere und Gleichgültigkeit dem Göttlichen den Platz freihalten, den es nicht einnimmt. Samuel Beckett wird die atheistische Transzendenzerwartung des Fremden wenige Jahre später in seinem Stück Warten auf Godot in die philosophische Groteske fortschreiben.
Für Camus ist Der Fremde ein Meilenstein und eine Wegscheide. Es ist der erste Roman eines in Paris angekommenen algerischen Vorstadtautors, der versuchen muss, mit der unüberbrückbaren Zerrissenheit seiner Biographie zu leben. Im Fremden hat er zu den zwei, drei Urmotiven seines Lebens zurückgefunden, auf die es ihm ankommt – das Schweigen einer Mutter, die Verlorenheit eines Sohnes, die Gleichgültigkeit, die zu einer Heimat werden kann. Das Buch spricht nicht nur von Verlorenheit und Zerrissenheit, es ist selbst Zeugnis eines heimatlosen Lebens zwischen zwei Weltepochen. Begonnen in der Vorzivilisation der mütterlichen Wohnung in der Rue de Lyon von Algier, abgeschlossen in einem Pariser Hotelzimmer am 1. Mai 1940, zehn Tage vor Beginn der Frankreichoffensive der Deutschen. Der Kommentar im Tagebuch lautet lapidar: «L’Étranger ist beendet».