Gides Früchte der Erde
Onkel Acault ist ein lesender Fleischermeister, ein Genussmensch und ein Libertin, der seine Freizeit mit Victor Hugo, Anatole France und Honoré de Balzac verbringt. Er drückt dem kranken Neffen fürs Erste die Bücher von André Gide in die Hand. Gides algerischer Hymnus Früchte der Erde erschien 1897, nach langen Reisen durch Tunesien und Algerien, die er mit dem Maler-Freund Paul Albert Laurens unternahm. Camus findet hier seine Welt wieder. Gide erkrankte in Algerien ebenfalls an Tuberkulose, und auch für ihn war die Krankheit nur ein Grund mehr, die Schönheiten dieses Landes zu besingen, den heißen Sand, die nackten Körper, die «wunderbare Strahlkraft jedes Augenblicks vor dem tiefdunklen Hintergrund des Todes»[27].
Wenn sich Camus später von Gide distanziert, soll man sich nicht täuschen lassen: Die Früchte der Erde haben einen großen Eindruck auf den schwer erkrankten Gymnasiasten gemacht. Gide ist Camus’ Erweckungserlebnis. Nachdem er dessen trunkene und ekstatische Essays gelesen hat, fasst er den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Seine frühen algerischen Texte sind unmittelbar von Gides Früchte der Erde inspiriert. Legt man die Essays beider Autoren nebeneinander, fallen die Ähnlichkeiten beinahe auf jeder Seite ins Auge. Lesen wir bei Gide: «Mach keinen Unterschied zwischen Gott und deinem Glück und lege all dein Glück in den Augenblick»[28]; so schreibt Camus: «Ich lerne, dass es kein übermenschliches Glück gibt und keine Ewigkeit außer dem Hinfließen der Tage».[29]
In seinem Nachruf auf Gide wird Camus trotzdem darauf beharren, dass die Früchte der Erde – von denen er immerhin einräumt, sie seien damals das «Evangelium der Armut» gewesen, dessen er bedurfte – kein Vorbild für ihn waren. Er habe das Buch dem Onkel enttäuscht zurückgegeben. In den Kriegsjahren habe er mit Gide in einer Wohnung in der Rue Vaneau gewohnt, das sei aber alles, was sie jemals geteilt hätten.[30]
Der Grund für diese merkwürdige Abkehr von Gide war der stärkere Eindruck, den der wahre Meister und Lehrer seiner Jugendjahre, Jean Grenier, auf Camus machte. Noch im Vorwort zu dessen Jugendwerk Die Inseln, das Camus wenige Monate vor seinem Tod verfasste, spielt er die beiden Ziehväter Gide und Grenier gegeneinander aus:
«Die ‹Früchte der Erde› waren ein Schock für meine ganze Generation. Aber was die ‹Inseln› uns an Neuem eröffneten, war ganz anderer Art. Sie kamen uns entgegen; der Gidesche Überschwang rief bei uns Bewunderung und Ratlosigkeit zugleich hervor. Wir mussten nicht erst von den Fesseln der Moral befreit werden, noch mussten wir in die Hymnen auf die Naturfrüchte einstimmen. Die Gideschen Früchte hingen greifbar vor unseren Augen, wir brauchten nur hineinzubeißen. Einige von uns mussten mit dem Elend und dem Leiden leben. Doch wir lehnten uns mit der ganzen jugendlichen Kraft dagegen auf. Die Wahrheit der Welt lag für uns in ihrer Schönheit, in den Freuden, die sie uns bot. Wir lebten also mit dieser Empfindung an der Oberfläche der Welt, zwischen Farben und Wellen und dem starken Duft der Erde. Aus diesem Grund kamen die Gideschen ‹Früchte› mit ihrer Einladung zum Glück viel zu spät. […] Wir brauchten feinsinnigere Lehrer, einen Mann etwa, der von anderen Ufern kam, der auch das Licht und die Herrlichkeit des Körpers liebte und der uns in einer unnachahmlichen Sprache sagte, dass die Erscheinungen der Natur schön, aber auch vergänglich seien, und dass man sie also ohne Hoffnung lieben müsse».[31]
Diese Zurückweisung eines weltberühmten Buches zugunsten der heute zu Recht in Vergessenheit geratenen essayistischen Prosa seines Lehrers verrät viel über das Loyalitätssystem, dem Camus folgte. Wieder sind es die Treue und die Hingabe zu den «Seinen», die ihn veranlassen, seine Geschichte umzuschreiben. Jean Grenier, Camus’ Förderer, Ratgeber, Lektor und Lehrer, gehört zu ihnen, André Gide, der großbürgerliche Weltenbummler, der nicht arbeiten musste, nie arm war und in Begleitung junger Männer exotische Länder wie Algerien bereiste, eben nicht. Man sucht sich seine Freunde selber aus.