Lokalreporter
Pascal Pia ist fünfunddreißig Jahre alt und ein erfolgreicher Pariser Journalist, als ihn ein Telegramm aus Algier erreicht: «Die Sache ist abgemacht. Stelle Sie 1. September ein. Herzlich Faure».
Der Absender ist der Agraringenieur Jean-Pierre Faure, der in Algier eine linke, undogmatische Tageszeitung herauszugeben plant, den Alger républicain. Pascal Pia soll der Chefredakteur werden. Pia zögert. Er ist Nachrichtenchef der kommunistischen Pariser Tageszeitung Ce Soir, ein guter Freund von André Malraux. Von Algerien hat er nicht die geringste Ahnung, und er liebt Paris. Doch eine Edition frivoler erotischer Texte des 18. Jahrhunderts hat ihm dort Ärger eingebracht. Er sucht Abstand von den Literatenzirkeln im Quartier Latin. So trifft er im Sommer 1938 mit Frau, Kind und sehr vielen Büchern in Algier ein. Sein Auftrag: die Gründung einer Tageszeitung im Geist der Volksfront.
Pia sucht junge Mitarbeiter. Seine finanziellen Mittel reichen nicht aus, professionelle Journalisten zu engagieren, und Faure empfiehlt einen gewissen Albert Camus. Der schreibe, mache Theater und arbeite gegenwärtig im meteorologischen Institut, wo er Luftdruckdiagramme redigiere. Er habe einige Artikel im Alger-Étudiant, der hiesigen Studentenzeitschrift, veröffentlicht, außerdem einige Essays in winzigen Auflagen bei der Verlagsbuchhandlung «Aux vraies richesses» von Edmond Charlot publiziert und plane, bei der neugegründeten Literaturzeitung Rivages mitzuarbeiten.
Pia stellt Camus sofort ein. Nach dem ersten Treffen mit dem in Scheidung von seiner drogensüchtigen Ehefrau Simone lebenden jungen Mann lobt er dessen gute Allgemeinbildung und die «für sein Alter erstaunliche Lebenserfahrung». Er bietet Camus 2000 Franc im Monat. Sein Berichtsgebiet: Lokales und Literatur. Dienstzeiten täglich von 17 Uhr bis 1 Uhr nachts. Die erste Ausgabe erscheint am 6. Oktober 1938, hat acht Seiten und kostet 40 Centimes.
Camus, der keine journalistische Erfahrung mitbringt, beginnt sofort, Gerichtsreportagen und Literaturrezensionen zu schreiben. In den 387 Ausgaben des Alger républicain wird er mehr als 150 Artikel veröffentlichen, über Lokales, Budgetfragen, Senatswahlen, Lebenshaltungskosten, die Arbeit der Landwirtschaftskammer oder die Lokalpolitik des nationalkonservativen Bürgermeisters Augustin Rozis. In seiner Literaturkolumne rezensiert er Jean-Paul Sartres Debüt Der Ekel und die neuen Romane von Aldous Huxley, Erich Maria Remarque, Paul Nizan, Jean Giono, Ignazio Silone. Sein Ton ist spielerisch, offensiv, selbstbewusst. So gut wie jetzt wird er als Pariser Journalist beim Combat nie wieder schreiben.
Der Alger républicain pflegt unter Pascal Pia einen kommentierenden, häufig beißend ironischen Journalismus. Camus experimentiert mit unkonventionellen Formaten wie einem «Offenen Brief an den Generalgouverneur» oder einem erdachten Gespräch zwischen einem «Arbeiter mit 1200 Franc im Monat» und dem Senatspräsidenten. Als Gerichtsreporter nimmt er Einfluss auf spektakuläre Prozesse wie den gegen Michel Hodent, den Angestellten eines dem staatlichen Getreideamt unterstellten Betriebes, der zu Unrecht wegen Unterschlagung angeklagt ist und seinen Freispruch nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz dieses engagierten Gerichtsreporters vom Alger républicain verdankt. Ebenso rückhaltlos unterstützt Camus Scheich El Okbi, der beschuldigt wird, den Mord am Großmufti von Algier befohlen zu haben. Der Scheich wird freigesprochen, ob zu Recht oder zu Unrecht ist bis heute nicht entschieden; wegen der liberalen Haltung des Angeklagten und der Regierungstreue des Opfers hat sich Camus vielleicht allzu schnell auf eine Seite geschlagen.
Zu großer Form lief er schließlich in einem besonders grausamen Fall kolonialistischer Unrechtsgerichtsbarkeit auf. In dem Prozess wurden arme arabische Landarbeiter, die angeblich während eines Streiks Gebäude in Brand gesetzt hatten, zu mehreren Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Camus beschrieb, welchen Foltermethoden der kolonialen Ordnungsmacht sich die Geständnisse der Landarbeiter verdankten: Auspeitschung am ganzen Körper, Untertauchen des Kopfes fast bis zum Ersticken in einem Wasserbecken, elektrische Stromschläge auf die nackten Fußsohlen. Anschließend habe man die Daumen dieser Analphabeten mit Gewalt auf ein Stempelkissen und zum Zeichen ihres Einverständnisses auf die Prozessunterlagen gedrückt. «Diese abscheulichen Methoden, die einem jeden von uns wie ein persönlich erlittenes Unrecht unerträglich sind, bringen die Unglücklichen ins Zuchthaus, deren Leben ohnehin nur eine Folge von Elend war.»[93]
Doch damit nicht genug, in einer mehrteiligen Serie schilderte Camus im Detail, was die Verurteilung der Landarbeiter für ihre Angehörigen bedeutete. Eine Familie sei nun darauf angewiesen, vom Tagelohn des zehnjährigen Sohnes zu leben. Die Frau eines anderen Verurteilten müsse für ihre fünf Kinder betteln gehen. Mutter und Bruder eines Dritten könnten die vier Kinder und die Ehefrau nur dadurch durchbringen, dass sie Holz und Kräuter sammelten. Camus nennt den Lohn der Kinder und der Frauen: 3 Franc, 6 Franc, 8 Franc am Tag.
Am meisten erstaunt, wie mühelos der Anfänger sofort die verschiedensten journalistischen Rollen beherrscht – den jungen Engagierten, den gravitätischen Besserwisser, den bissigen Beobachter, den sensiblen Reporter, den naiven Mann von der Straße. Er lässt auch den moralischen Belcanto hören, der ihn später in Paris kennzeichnen wird, und gelegentlich erlaubt er sich eine zeitungsferne Empfindsamkeit.
«Wir wissen, dass zuweilen der Mensch hinter den Mächtigen dieser Welt zum Vorschein kommt. Es gibt auch für den Mächtigen Augenblicke, zwischen zwei Empfängen und drei Verlautbarungen, in denen er ein Stückchen Himmel betrachtet, das über den allzu gestutzten Bäumen in einem allzu herausgeputzten Park aufscheint. Und dann wünscht auch er sich, dass der hasserfüllte Lärm sich lege und alles die innere Stille wiederfinde, die er in sich aufsteigen fühlt.»[94]
Pascal Pia ist nicht nur älter und erfahrener, sondern auch desillusionierter und zynischer als sein begabter Mitarbeiter. Er ist der Erste, der am Mittag in der Redaktion erscheint, und der Letzte, der sie in den frühen Morgenstunden verlässt. Für Camus ist die Zeitung ein Beruf, keine Berufung. An Grenier schreibt er von oben herab, er treibe jetzt Journalismus, «überfahrene Hunde», Literaturkritiken, Reportagen und solche Sachen:
«Sie wissen mehr als ich, wie enttäuschend dieses Métier ist. Aber ich finde darin immerhin einen Anschein von Freiheit – ich werde zu nichts gezwungen, und alles, was ich tue, erscheint mir lebendig. Man trifft hier zwar auch Befriedigungen von eher minderer Qualität: was soll’s. Man hat mir nun endgültig das medizinische Gutachten für das Lehrerexamen verweigert. Eine Regierungskommission hat lange über meinen Fall verhandelt. Das Ergebnis war negativ. Deswegen habe ich die Stelle beim ‹Alger républicain› angenommen. Ich weiß nicht, wie wir beide wieder zusammenkommen können. Je älter ich werde (das ist so eine Redensart), umso einsamer fühle ich mich.»[95]
Camus nutzt den späten Vormittag, um an seinen beiden Romanen über die Herren Mersault und Meursault, an dem Essay über das Absurde und am Theaterstück Caligula zu arbeiten. Er macht Pläne für das Théâtre de l’Équipe, wo er den Caligula aufführen und selbst die Hauptrolle spielen möchte, und gründet mit seinem Freund de Fréminville den Verlag «Cafre» (Ca für Camus und -fre für Fréminville). Nach wenigen Monaten geben sie ihn wieder auf. Der Journalismus, über den er sich so abfällig äußert, beeinflusst ihn stärker, als er zugibt.
Jean Grenier ist aus Camus’ Leben verschwunden. Seinen Platz hat Pascal Pia eingenommen. Dessen abgeklärter, nüchterner Schreibstil ist die Lehre, durch die er nun geht. Nie wird man ganz ermessen können, ob (wie allgemein behauptet) der unrasierte Realismus der modernen American Novel Camus zu jenem neuen, illusionslosen Stil verhalf, mit dem er im Fremden bald überraschen wird, oder nicht doch, was viel wahrscheinlicher ist, Pascal Pia und dessen lakonischem Journalismus die Ehre dieser stilistischen Vaterschaft gebührt. Pia ist derjenige, der Camus mit dem Pariser Zeitgeist vertraut macht, der ihm die «Lyrismen à la André Gide» und das lyrische Geplauder à la Grenier abgewöhnt. Durch Pias Einfluss wird Camus zu jenem später von Roland Barthes gefeierten Helden des Schreibens «am Nullpunkt der Literatur».
Pia macht den mediterranen Provinzler mit der Gegenwart und einem schnellen urbanen Schreib- und Lebensstil bekannt, von ihm lernt er den harten, ironischen Hauptstadtton. Wenn Camus schreibt, er wisse nicht, wie er mit Grenier wieder zusammenkommen könne, ist dies keine Höflichkeits-, sondern eine Abschiedsformel. Die Welt der literarisierenden Lehrstuhlinhaber ist ihm fremder geworden denn je – an der Seite von Pascal Pia kommt Camus in der Moderne an.
Als im Mai 1939 seine lyrische Essaysammlung Noces (Hochzeit des Lichts) bei Charlot erscheint – eine Hymne an die Sonne und das harte Licht der Mittelmeerküste –, meldet Camus an Grenier, dies sei nun das Letzte von ihm «in diesem Genre» (was nicht stimmt, eine Fortsetzung der lyrischen Essays über Algerien wird 1956 erscheinen). Sein Essay über das Absurde werde ein sehr persönliches Buch. Nichts Akademisches. Keine Belehrungen. Und er plane, nach Griechenland zu reisen, man müsse sich beeilen, gewisse Dinge noch zu sehen, bevor die Kanonen alles ausgelöscht haben würden.
Camus weiß, dass es Krieg geben wird. Gemeinsam mit Pia, der wie Camus seinen Vater im Ersten Weltkrieg verloren hat, spricht er sich bis zuletzt im Alger républicain gegen einen Kriegseintritt Frankreichs aus.
Es ist ein Leben auf dem Pulverfass. Jeden Augenblick kann einem die vertraute Welt um die Ohren fliegen. Die beiden Männer, die in den Redaktionsräumen des Alger républicain bis spät in der Nacht ihre Artikel in die Schreibmaschine hacken, fühlen sich einsam und umzingelt von Feinden. Das Wort, das Camus in diesen Wochen mit Abstand am häufigsten in die Tasten drückt, ist «misère» – Elend.