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Das Sanatorium, in dem Mom untergebracht war, wirkte von außen wie von innen so luxuriös, wie ich das von einem Ort, den Elliott für sie ausgesucht hatte, nicht anders erwartete. Dicke Teppiche, sanfte Beleuchtung, gediegene Gemälde an den Wänden. Gegen halb fünf traf ich dort ein, und die Dame am Empfang war offensichtlich davon unterrichtet worden, dass ich im Anmarsch war.

»Ihre Mutter erwartet Sie«, sagte sie mit einer von diesen professionell melodischen Stimmen, die so hervorragend zu dieser Umgebung passten. »Ihre Suite befindet sich im dritten Stock, mit einem wunderschönen Blick über unsere Gärten.« Sie stand auf und geleitete mich zum Aufzug, einem kunstvoll ausgestatteten Objekt mit einem Führer und einer samtbezogenen Sitzbank.

Meine Begleitung murmelte: »Zur Suite von Mrs. Olivia, bitte, Mason.« Ich erinnerte mich gehört zu haben, dass in manchen teuren psychiatrischen Einrichtungen die Nachnamen nicht mitgeteilt wurden. Mir soll es recht sein, dachte ich. Die übrigen Gäste müssen nicht unbedingt wissen, dass Mrs. Charles MacKenzie sen. in ihrer Mitte weilt.

Im dritten Stock stiegen wir aus und gingen einen Flur hinunter. An dessen Ende klopfte meine Begleitung an eine Tür und öffnete sie. »Mrs. Olivia«, rief sie, ihre Stimme leicht erhoben, aber immer noch vornehm moduliert.

Hinter ihr betrat ich einen exquisiten Salon. Ich hatte einmal Fotos von Suiten im Plaza Athénée in Paris gesehen, und mir war, als würde ich eine von ihnen betreten. Dann erschien Mom in der Tür zum Schlafzimmer. Die Empfangsdame verschwand ohne ein weiteres Wort, und Mom und ich standen uns gegenüber.

Als ich sie anblickte, durchlebte ich noch einmal wie im Zeitraffer alle widerstreitenden Gefühle der letzten Woche, seit Mom in Elliotts Wohnung Zuflucht gesucht hatte. Schuld. Wut. Bitterkeit. Und dann war alles wie weggeblasen, und ich fühlte nur noch eines: Liebe. Ihre wunderschönen Augen betrachteten mich voll Kummer. In ihrem Blick lag Unsicherheit, als wisse sie nicht genau, was sie von mir erwarten solle.

Ich ging auf sie zu und schlang die Arme um sie. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir so furchtbar leid. Und wenn ich mir auch noch so oft sage: ›Hättest du nur nicht nach Mack gesucht‹, es nützt nichts. Ich kann dir nur versichern, dass ich alles dafür geben würde, wenn ich das ungeschehen machen könnte.«

Ihre Hände fuhren sanft durch meine Haare, genau wie damals, als ich ein kleines Kind war und wegen irgendeiner Sache Kummer hatte. Liebe und Trost ging von ihnen aus, und da wusste ich, dass sie mit dieser Situation ihren Frieden geschlossen hatte.

»Wir werden das durchstehen, Carolyn«, sagte sie. »Was auch immer dabei herauskommen mag. Wenn Mack wirklich all das getan haben soll, was man ihm vorwirft, dann ist jedenfalls eines sicher: Er muss den Verstand verloren haben.«

»Was hat man dir denn erzählt?«, fragte ich.

»Ich denke, alles. Gestern habe ich Dr. Adams, meinem Psychiater, gesagt, dass ich nicht mehr geschützt werden will. Ich kann mich jederzeit abmelden und nach Hause gehen, aber ich möchte lieber alles, was vielleicht noch kommt, erfahren, solange ich hier bin und mit ihm darüber reden kann.«

Da war sie wieder, die Mutter, die ich schon glaubte, verloren zu haben, diejenige, die Dad in jeder Hinsicht unterstützt hatte, als Mack verschwunden war, diejenige, deren erster Gedanke mir galt, als sie erfuhr, dass Dad in der Katastrophe vom 11. September umgekommen war. Ich war damals im dritten Jahr an der Columbia University, war zufällig über Nacht bei meinen Eltern geblieben und schlief noch, als das erste Flugzeug aufprallte. Mom hatte es ganz allein mit angesehen. Dads Büro befand sich im 102. Stock des Nordturms, des ersten, der getroffen wurde. Sie hatte ihn anzurufen versucht und ihn auch tatsächlich erreicht. »Liv, das Feuer ist unterhalb von uns«, hatte er gesagt. »Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, hier noch rauszukommen.«

Die Verbindung wurde unterbrochen, und Minuten später sah sie, wie der Turm einstürzte. Sie ließ mich schlafen, bis ich eine Dreiviertelstunde später von selbst aufwachte. Als ich die Augen öffnete, saß sie in meinem Zimmer, mit tränenüberströmtem Gesicht. Dann wiegte sie mich in ihren Armen, während sie mir berichtete, was geschehen war.

So war meine Mutter gewesen, bis die jährlich wiederkehrenden Anrufe an Muttertag sie nach und nach zermürbt hatten.

»Mom, wenn du dich hier wohlfühlst, dann solltest du noch etwas länger bleiben«, sagte ich. »So wie es jetzt in Sutton Place aussieht, würdest du dort nicht sein wollen, und wenn die Medien erfahren, dass du wieder in Elliotts Wohnung bist, würden sie dir dort auch auflauern.«

»Ja, das ist mir klar, aber Carolyn, was ist mit dir? Gibt es nicht irgendeinen Ort, an dem du vor ihnen sicher sein kannst?«

Du kannst weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken, dachte ich. »Mom, ich glaube, ich werde in der Wohnung bleiben und mich auch weiterhin in der Öffentlichkeit zeigen«, antwortete ich. »Denn solange wir keinen Beweis für das Gegenteil haben, werde ich an Macks Unschuld glauben, und das werde ich auch überall öffentlich verkünden.«

»Das hätte dein Vater auch getan.« Mom lächelte, ein aufrichtiges Lächeln. »Komm, setzen wir uns. Ich wünschte, wir könnten jetzt zusammen einen Cocktail trinken, aber das wird sich hier wohl nicht machen lassen.« Sie sah mich mit leichter Besorgnis an. »Weißt du, dass Elliott kommt?«

»Ja. Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.«

»Er war wirklich eine riesige Stütze für mich.«

Ich gebe zu, dass ich einen Stich von Eifersucht verspürte, dessen ich mich sofort schämte. Elliott kümmerte sich tatsächlich rührend um sie. Doch vor zwei Wochen hatte sie noch zu mir gesagt, ich sei ihr eine große Stütze. Und mir kam auch mein Verdacht in den Sinn, Elliott könnte sich vielleicht von unseren Problemen distanzieren wollen. Ich erinnerte mich an das, was Jackie gesagt hatte. Der äußere Schein bedeutet Leuten wie Elliott unendlich viel.

Doch bei seinem Eintreffen stellte sich heraus, dass alle meine Befürchtungen vollkommen unbegründet waren. In Wirklichkeit wollte er in seiner liebenswürdigen, förmlichen Art um meinen Segen zu einer Heirat mit Mom bitten. Er setzte sich neben sie auf die Couch und richtete mit ernster Miene das Wort an mich.

»Carolyn, ich glaube, du weißt, dass ich deine Mutter immer geliebt habe«, sagte er. »Ich habe immer gedacht, sie sei ein strahlender Stern, unerreichbar für mich. Doch jetzt weiß ich, dass ich ihr in dieser schweren Zeit ein liebender und beschützender Ehemann sein kann.«

Ich fühlte mich genötigt, ihn zu warnen. »Elliott, du musst bedenken, dass es schlimme Auswirkungen auf deinen Ruf geben könnte, falls Mack als Serienmörder vor Gericht gestellt wird. Die Kunden von dem Kaliber, wie du sie betreust, werden alles andere als erbaut sein, wenn ihr Finanzberater ständig in den Schlagzeilen auftaucht.«

Elliott blickte zu meiner Mutter und dann wieder zu mir. Mit einem unmerklichen Augenzwinkern sagte er: »Also, Carolyn, Wort für Wort dasselbe hat deine Mutter auch zu mir gesagt. Eins kann ich dir versprechen: Eher würde ich meinen vornehmen Kunden sagen, sie sollten bleiben, wo der Pfeffer wächst, als dass ich auf einen einzigen Tag an der Seite deiner Mutter verzichte.«

Wir aßen in einem der privaten Speisezimmer zu Abend. Es wurde eine zurückhaltende Feier. Ich stimmte ihrem Vorhaben zu, so bald wie möglich und in aller Stille zu heiraten. Als ich später nach Hause fuhr, war ich sehr optimistisch gestimmt, aber irgendwie ließ mich auch das merkwürdige Gefühl nicht los, dass Mack mich zu erreichen versuchte. Ich spürte fast so etwas wie seine Präsenz im Auto. Wie kam das?

Wieder war in Sutton Place von Presse und Medien nichts zu sehen. Ich ging zu Bett und sah mir von dort die Elfuhrnachrichten an. In der Meldung wurde ein Teil meiner Erklärung vor den Kameras gezeigt, und ich fand, dass ich kämpferisch und entschlossen wirkte. Inzwischen war durchgesickert, oder man hatte durchsickern lassen, dass Leesey in ihrer Nachricht Mack als ihren Entführer genannt hatte.

Ich schaltete den Fernseher ab. Liebe oder Geld, dachte ich, als ich die Augen schloss. Laut Lucas Reeves waren das die Motive für die meisten Verbrechen. Liebe oder Geld. Oder fehlende Liebe, in Macks Fall.

Um drei Uhr in der Früh hörte ich das Summen der Sprechanlage an der Wohnungstür. Ich sprang aus dem Bett, eilte die Treppe hinunter und nahm den Hörer auf. Es war der Hausmeister. »Tut mir furchtbar leid, Ms. MacKenzie«, sagte er. »Aber jemand hat gerade dem Portier eine Nachricht für Sie in die Hand gedrückt und gesagt, Sie müssten sie sofort erhalten, es ginge um Leben und Tod.«

Er zögerte und fuhr dann fort: »Mit diesem ganzen Medienrummel könnte es natürlich sein, dass sich nur jemand einen üblen Scherz erlaubt, aber …«

»Bringen Sie sie rauf«, unterbrach ich ihn.

Ich stand an der Tür und wartete, bis Manuel den Flur hinunterkam und mir einen unbeschriebenen weißen Umschlag überreichte. Darin befand sich ein Blatt Briefpapier mit einer handgeschriebenen Notiz.

Ich las: »Carolyn, ich schicke diese Nachricht durch einen Boten, weil dein Telefon vermutlich abgehört wird. Mack hat mich gerade angerufen. Er möchte uns beide sehen. Er wartet an der Ecke 104th Street und Riverside Drive. Wir treffen uns dort. Elliott.«

Warte, bis du schlaefst
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