18
Nach dem Mittagessen mit Aaron Klein kehrte Elliott Wallace in sein Büro zurück. Seine Gedanken kreisten um Charles MacKenzie sen. und die Freundschaft, die sie in Vietnam geschlossen hatten. Charley war am College im Reserveoffizier-Ausbildungskorps der Armee gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war er Leutnant. Elliott hatte Charley erzählt, dass er als Kind amerikanischer Eltern in England geboren wurde und den größten Teil seiner Kindheit in London verbracht habe. Mit neunzehn Jahren sei er mit seiner Mutter zurück nach New York gekommen. Später wurde er zur Armee eingezogen, wurde nach vier Jahren Offizier und hatte gemeinsam mit Charley einige der schlimmsten Kämpfe des Krieges durchgemacht.
Wir haben uns vom ersten Tag an gemocht, dachte Elliott. Charley war der Mensch mit dem größten Konkurrenzgeist, den ich je erlebt habe, und wahrscheinlich war er auch der ehrgeizigste. Er wollte sofort mit dem Jurastudium loslegen, sobald er aus der Armee entlassen würde. Er kündigte an, dass er ein erfolgreicher Anwalt und Millionär werden wolle. Er war stolz darauf, aus einer Familie zu stammen, in der das Geld immer knapp gewesen war. Er zog mich oft wegen meines völlig anderen Familienhintergrunds auf. »Und wie hieß noch mal gleich der Butler, Ell?«, fragte er dann. »War es Bertie, Chauncey oder Jeeves?«
Elliott lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und musste lächeln, als er sich daran erinnerte. Ich habe Charley geantwortet, dass der Butler William hieß und seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr bei uns war. Ich habe ihm erzählt, dass mein Vater, Gott hab ihn selig, der gebildetste Mensch und der schlechteste Geschäftsmann war, den die Welt je gesehen hat. Das war der Grund, weshalb meine Mutter schließlich das Handtuch warf und mit mir nach New York zurückging.
Charley hat mir das damals nicht abgenommen, doch ich habe ihm versichert, dass ich auf meine Art ebenso ehrgeizig sei wie er. Er wollte reich werden, weil er diese Welt nie gekannt hatte. Ich dagegen kam aus dem Wohlstand, war zu einem Habenichts geworden und wollte mir nun alles zurückholen. Während Charley sein Jurastudium absolvierte, ging ich aufs College und machte anschließend meinen Master in Betriebswirtschaft.
Wir hatten beide geschäftlichen Erfolg, doch unser beider Privatleben war vollkommen verschieden. Charley lernte Olivia kennen, und es wurde eine wunderbare Ehe. Mein Gott, wie ich mich als Außenseiter fühlte, wenn ich mitbekam, wie sie einander in die Augen sahen! Dreiundzwanzig gute Jahre waren ihnen vergönnt bis zu dem Tag, an dem Mack verschwand, und danach gab es keinen Tag mehr, an dem sie sich nicht vor Sorgen um ihn verzehrten. Und dann kam der 11. September, und Charley kam dabei um. Meine Ehe mit Norma stand von vornherein unter einem ungünstigen Vorzeichen. Wie sagte Prinzessin Diana doch gleich wieder bei einem Interview – dass es in ihrer Ehe mit dem Prinzen von Wales immer drei Menschen gegeben habe? Ja, genauso war es mit Norma und mir, nur weniger glamourös.
Elliott verzog das Gesicht bei diesem Gedanken, nahm seinen Kugelschreiber zur Hand und begann gedankenverloren auf einem Zettelblock zu kritzeln. Norma weiß natürlich nichts davon, aber die Gefühle, die ich für Olivia empfinde, standen von Anfang an zwischen uns. Und jetzt ist meine Ehe schon eine ferne Erinnerung, und nach all diesen Jahren könnten Olivia und ich vielleicht eine gemeinsame Zukunft ins Auge fassen. Sie hat begriffen, dass sie nicht mehr ihr ganzes Leben nur auf Mack ausrichten kann, und ich habe den Eindruck, dass ihre Gefühle sich mir gegenüber verändert haben. Ich bin in ihren Augen inzwischen mehr als nur Charleys bester Freund und der treue Vermögensverwalter der Familie. Das habe ich gemerkt, als ich ihr das letzte Mal einen Abschiedskuss gegeben habe. Und das habe ich auch gemerkt, als sie mir anvertraut hat, dass Carolyn frei sein müsse von den ewigen Sorgen, die sie sich um sie mache, und vor allem habe ich das daran gemerkt, dass sie nun ernsthaft die Wohnung in Sutton Place verkaufen will.
Elliott stand auf, ging zu dem Teil des Mahagonibücherschranks, der einen Kühlschrank enthielt, und öffnete die Tür. Während er eine Flasche Wasser herausnahm, dachte er darüber nach, ob es noch zu früh sei, um Olivia einen Vorschlag zu machen: ob sie sich vorstellen könne, in eine Penthousewohnung an der Fifth Avenue zu ziehen, einen Häuserblock vom Metropolitan Museum entfernt.
Meine Penthousewohnung, dachte er mit einem Lächeln. Schon als ich sie vor fünfundzwanzig Jahren nach der Scheidung gekauft habe, stellte ich mir vor, dass ich sie für Olivia kaufen würde.
Das Telefon klingelte, und gleich darauf erklang die Stimme seiner Privatsekretärin mit ihrem typisch britischen Akzent aus dem Lautsprecher. »Mrs. MacKenzie am Apparat, Sir.«
Elliott eilte zurück an seinen Schreibtisch und nahm den Hörer auf.
»Elliott, hier spricht Liv. June Crabtree sollte zum Essen kommen, doch sie hat in letzter Minute abgesagt. Ich weiß, dass Carolyn sich mit ihrer Freundin Jackie trifft. Hättest du unter Umständen Lust, mich zum Essen auszuführen?«
»Aber mit dem größten Vergnügen. Was hältst du davon, wenn wir gegen sieben zunächst ein Gläschen bei mir trinken und danach ins Le Cirque gehen?«
»Wunderbar. Dann bis später.«
Als er den Hörer auflegte, merkte Elliott, dass sich ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten. Nie habe ich mir in meinem Leben etwas stärker gewünscht, dachte er. Nichts darf mir jetzt noch dazwischenkommen, und doch habe ich so große Angst, dass das geschieht. Schließlich entspannte er sich und lachte laut auf, als er daran denken musste, wie sein Vater auf diese Art von negativem Denken reagiert hätte.
Wie schon Cousin Franklin sagte, ging ihm durch den Kopf, das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst.