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Ich verbrachte den Samstagvormittag in Macks Zimmer in der Wohnung in Sutton Place. Ich kann nicht behaupten, mich dort pudelwohl gefühlt zu haben, aber es war doch so, dass von Macks Präsenz für mich dort nichts mehr spürbar war. In den ersten Tagen nach Macks Verschwinden durchwühlte Dad seinen Schreibtisch in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wohin er gegangen sein könnte, doch alles, was er fand, waren die üblichen Hinterlassenschaften eines Collegestudenten – Prüfungsnotizen, Postkarten, Briefpapier, Schreibutensilien. Ein Ordner enthielt eine Kopie von Macks Bewerbung für die Duke Law School und deren Antwortschreiben, in dem die Zulassung mitgeteilt wurde. Er hatte ein riesiges »JA!« darauf gekritzelt.
Doch Dad fand nicht, wonach er gesucht hatte: Macks Terminkalender, der vielleicht Aufschluss darüber hätte geben können, mit wem er sich vor seinem Verschwinden zuletzt verabredet hatte. Vor Jahren schon hatte Mom unsere Haushälterin angewiesen, die Wimpel herunterzuholen, die Mack an der Wand aufgehängt hatte, sowie das Korkbrett, das mit Gruppenfotos von ihm und seinen Freunden vollgepinnt war. Sämtliche Leute, die auf diesen Bildern zu sehen waren, wurden von der Polizei und später auch von dem Privatdetektiv befragt.
Die braun-beige Tagesdecke, die dazu passenden Kissen und die kontrastierenden Vorhänge waren immer noch dieselben, genauso wie der kakaobraune Teppichboden.
Auf der Kommode stand immer noch ein Foto von uns vieren. Ich blickte lange darauf und fragte mich, ob sich mittlerweile bei Mack vielleicht schon ein paar graue Strähnen an den Schläfen zeigten. Es war schwer, sich das vorzustellen. Vor zehn Jahren hatte er noch so ein jungenhaftes Aussehen besessen. Und jetzt – nicht nur, dass er längst kein Collegestudent mehr war, vermutlich war er gar zu einem Verdächtigen in mehr als einem Fall von Entführung und/oder Mord geworden.
Es gab zwei Schränke in dem Zimmer. Als ich alle Türen öffnete, schlug mir der schwache muffige Geruch entgegen, der immer in selten belüfteten engen Räumen entsteht.
Ich nahm einen Stapel von Jacketts und Hosen aus dem ersten Schrank und legte sie auf das Bett. Alle waren mit Plastikhüllen von der Reinigung bedeckt, und ich erinnerte mich, dass Mom, als Mack ungefähr ein Jahr verschwunden war, seine sämtlichen Sachen in die Reinigung gebracht und wieder zurück in den Schrank gehängt hatte. Ich erinnerte mich, dass Dad damals gesagt hatte: »Livvy, lass uns die ganzen Sachen weggeben. Wenn Mack zurückkommt, werde ich mit ihm neue kaufen. Soll doch ein anderer noch etwas von dem ganzen Zeug haben.«
Sie hatte seinen Vorschlag abgelehnt.
In diesen sterilen Kleidungsstücken war nichts zu erwarten. Doch ich scheute davor zurück, alles einfach in große Müllsäcke zu stopfen. Es wäre zwar bequemer gewesen, sie so zur Spendensammelstelle zu bringen, aber es wäre schade gewesen, wenn alles zerknittert worden wäre. Da fiel mir ein, dass noch zwei große Koffer von Mack, die er auf unserer letzten Familienreise benutzt hatte, in der Abstellkammer hinter der Küche stehen mussten.
Ich holte sie und legte sie ebenfalls auf das Bett. Ich öffnete den ersten und fuhr aus alter Gewohnheit mit den Fingern durch die Seitentaschen, um zu prüfen, ob etwas darin war. Nichts. Ich legte die sauber gefalteten Anzüge, Jacketts und Hosen in den Koffer, verharrte dabei eine Weile bei dem Smoking, den Mack bei unserem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest getragen hatte.
Der zweite Koffer war etwas kleiner. Wieder fuhr ich mit den Händen durch die Seitentaschen. Diesmal spürte ich etwas, was ich zunächst für eine Fotokamera hielt. Doch als ich es hervorholte, stellte es sich zu meiner Überraschung als Kassettenrekorder heraus. Ich hatte Mack nie mit einem solchen Gerät in der Hand gesehen. Es steckte noch eine Kassette drin, und ich drückte die Wiedergabetaste.
»Was meinen Sie, Mrs. Klein? Klingt das nicht wie Laurence Olivier oder Tom Hanks? Passen Sie auf, was Sie sagen, es wird alles auf Band aufgenommen.«
Ich hörte eine Frau lachen. »Weder noch, Mack, aber Ihre Stimme klingt gut.«
Ich war so geschockt, dass ich schnell die Stopptaste drückte. Tränen stiegen mir in die Augen. Mack. Es war, als ob er im Zimmer wäre und mit mir scherzte. Seine Stimme klang lebhaft und ausgelassen.
Diese jährlichen Anrufe an Muttertag und, als Reaktion darauf, mein ständig wachsender Groll hatten mich ganz vergessen lassen, wie Mack früher geklungen hatte, immer witzig und voller Übermut.
Ich drückte erneut auf die Wiedergabetaste.
»Gut, dann werde ich jetzt loslegen, Mrs. Klein«, sagte Mack. »Sie meinten, ich soll eine Passage von Shakespeare nehmen? Wie wäre es hiermit?« Er räusperte sich und hob dann nach einer kurzen Pause an: »Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt …«
Der Ton seiner Stimme hatte sich drastisch verändert, war plötzlich zerrissen und düster geworden.
»… Als Ausgestoßner weinend mich beklage, umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt …«
Mehr war nicht auf dem Band. Ich spulte zurück und spielte es noch einmal ab. Was bedeutete das? War das eine zufällige Auswahl, oder war es bewusst ausgewählt worden, weil es zu Macks Seelenzustand passte? Wann war das aufgenommen worden? Wie lange vor seinem Verschwinden war es aufgenommen worden?
Esther Kleins Name stand in den Akten auf der Liste derjenigen, mit denen die Polizei gesprochen hatte, aber anscheinend hatte sie keinerlei weiterführende Hinweise geben können. Ich erinnerte mich vage an Dads und Moms Überraschung darüber, dass Mack nebenbei privaten Schauspielunterricht genommen hatte. Ich verstehe, warum ihnen Mack nichts davon erzählt hatte. Dad hat immer befürchtet, Mack könnte zu viel Interesse an seinen Theateraktivitäten entwickeln.
Und dann war Esther Klein nahe ihrer Wohnung an der Amsterdam Avenue einem Raubmord zum Opfer gefallen, fast ein Jahr, nachdem Mack verschwunden war. Mir kam der Gedanke, dass es vielleicht noch mehr Bänder geben könnte aus der Zeit von Esther Kleins Unterricht. Wenn dem so war, was war dann mit ihnen nach ihrem Tod geschehen?
Ich stand in Macks Zimmer, den Kassettenrekorder in der Hand, und überlegte, dass es nicht schwer sein dürfte, das herauszufinden.
Esther Kleins Sohn Aaron war ein enger Mitarbeiter von Onkel Elliott. Ich würde ihn anrufen.
Ich stopfte den Rekorder in meine Umhängetasche und packte weiter Macks Kleidung zusammen. Als ich damit fertig war, waren die Schubladen der Kommode leer, ebenso die Schränke. Mom hatte Dad in einem besonders kalten Winter erlaubt, Macks schwere Mäntel wegzugeben, als ein entsprechender Aufruf von den Wohlfahrtsorganisationen ergangen war.
Als ich gerade den zweiten Koffer schließen wollte, zögerte ich, und nahm dann die schwarze Fliege wieder heraus, die ich damals Mack umgebunden hatte, kurz bevor wir uns für das Weihnachtsfoto in diesem letzten Jahr aufgestellt hatten. Ich hielt sie in Händen und musste daran denken, wie ich ihn aufgefordert hatte, sich zu bücken, weil ich nicht hoch genug reichen konnte, um sie ihm umzubinden.
Als ich sie in Papier einwickelte und in meine Umhängetasche steckte, um sie in die Thompson Street mitzunehmen, erinnerte ich mich, was mir Mack lachend geantwortet hatte: »›Gesegnet sei das Band, dass uns im Herrn vereint.‹ Aber pass bitte auf, dass sie nicht schief sitzt, Carolyn.«