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Gerade als ich die Wohnung in Sutton Place verlassen wollte, klingelte mein Handy. Der Anrufer war Detective Barrott, und obwohl mein Puls schlagartig schneller ging, antwortete ich betont kühl. Am Montag hatte er mich ziemlich kurz abgefertigt, was sollte er also für einen Grund haben, mich anzurufen?
»Ms. MacKenzie, Ihnen dürfte vielleicht bekannt sein, dass eine junge Frau, Leesey Andrews, die seit gestern Nacht vermisst wird, in Ihrem Nachbarhaus in der Thompson Street wohnt. Ich bin jetzt gerade dort und befrage die Nachbarn. Ich habe Ihren Namen unter den Namensschildern in Ihrem Haus gesehen. Ich würde sehr gerne noch einmal mit Ihnen sprechen. Wäre es möglich, dass wir uns in nächster Zeit treffen?«
Während ich das Handy ans Ohr hielt, gab ich dem Portier ein Zeichen, ein Taxi für mich zu rufen. Zufällig hielt gerade eines in der Nähe, um seinen Fahrgast zu entlassen. Während ich abwartete, bis eine ältere Dame ausgestiegen war, gab ich Barrott Bescheid, dass ich gerade auf dem Weg zu meiner Wohnung sei und dort in etwa zwanzig Minuten, je nach Verkehr, sein würde.
»Dann werde ich auf Sie warten«, sagte er gelassen und gab mir keine Gelegenheit, ihm mitzuteilen, ob mir das passte oder nicht.
An manchen Tagen dauert eine Taxifahrt zwischen Sutton Place und Thompson Street eine Viertelstunde. An anderen Tagen kommt der Verkehr einfach nur kriechend voran. Dies war einer dieser kriechenden Tage. Nicht dass ich es besonders eilig gehabt hätte, Detective Barrott wiederzusehen – es ist nur so, dass ich es nie erwarten kann anzukommen, wenn ich einmal irgendwohin unterwegs bin, eine weitere Eigenschaft, die ich von meinem Vater geerbt habe.
Und das ließ mich an die Angst meines Vaters denken, als Mack spurlos verschwunden war, und an die Angst, die Leesey Andrews’ Vater jetzt durchleben musste. Gestern Abend hatte Dr. Andrews in den Elfuhrnachrichten ein Foto seiner Tochter in die Kamera gehalten und um Hilfe bei der Suche nach ihr gebeten. Ich glaubte mir vorstellen zu können, wie es jetzt in ihm aussah, doch dann fragte ich mich, ob dem auch wirklich so war. So schlimm es für uns gewesen war, aber Mack war allem Anschein nach freiwillig an einem Nachmittag aus seinem bisherigen Leben geflohen. Leesey Andrews schien demgegenüber viel gefährdeter zu sein, mitten in der Nacht allein unterwegs, und sicherlich einem entschlossenen Triebtäter nicht gewachsen.
All das ging mir durch den Kopf, während das Taxi sich mühsam bis zur Thompson Street durch den Verkehr quälte.
Barrott saß auf den Stufen des Backsteinbaus, ein ungewöhnlicher Anblick, dachte ich, als ich den Fahrer bezahlte. Der Nachmittag war wieder wärmer geworden, und er hatte sein Jackett geöffnet und seinen Schlipsknoten gelockert. Als er mich sah, stand er in einer fließenden Bewegung auf, rückte den Knoten zurecht und knöpfte sein Jackett wieder zu.
Wir begrüßten uns mit reservierter Höflichkeit, und ich forderte ihn auf einzutreten. Als ich die Haustür aufsperrte, bemerkte ich ein paar Fahrzeuge von Fernsehgesellschaften, die vor dem Nachbarhaus geparkt standen, dem Haus, in dem Leesey Andrews wohnte – oder gewohnt hatte.
Meine Einzimmerwohnung befand sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes und war die einzige Wohnung im Erdgeschoss. In den vergangenen acht Monaten, die ich mittlerweile hier wohnte, war sie für mich so etwas wie ein Zufluchtsort gegenüber der Wohnung in Sutton Place geworden, wo ich Gedanken über den schmerzlichen Verlust meines Vaters und die Sorge um Macks ungewisses Schicksal nie ganz abschütteln konnte.
Mom war entsetzt über die Größe der Wohnung. »Carolyn, achtzig Quadratmeter, da wirst du dich ja kaum drin umdrehen können«, hatte sie geklagt. Doch ich hatte mich sofort darin wohlgefühlt. Sie war für mich wie ein behaglicher Kokon, und ich glaube, sie hatte einen großen Anteil daran, dass ich mich aus meinem chronischen Zustand der Trauer und Sorge befreien konnte und immer stärker den Wunsch, ja das dringende Bedürfnis spürte, die Dinge hinter mir zu lassen und mein Leben weiterzuleben. Dank Moms gutem Geschmack hatte ich das Glück, in einer wunderschön ausgestatteten Wohnung aufzuwachsen, doch ich hatte inzwischen auch eine gewisse Freude daran gefunden, bei den Sonderangeboten der Möbelhäuser Sachen für meine Einzimmerwohnung zu kaufen.
Mein großzügig bemessenes Schlafzimmer in Sutton Place besitzt eine eigene Sitzecke. In der Thompson Street dagegen hatte ich ein Ausziehsofa, das allerdings über eine bemerkenswert bequeme Matratze verfügte. Als Detective Barrott mir in die Wohnung folgte, bemerkte ich, wie er das Zimmer inspizierte, mit seinen schwarzen Lackbeistelltischchen und den grellroten modernen Lampen, dem kleinen schwarzen Lackcouchtisch und den beiden Sesseln ohne Armlehne, die mit demselben einfachen weißen Stoff bezogen waren wie das Sofa. Er ließ seinen Blick über die weiß getünchten Wände und den Teppich mit seinem schwarz, weiß und rot karierten Muster wandern.
An das Wohnzimmer grenzte eine kleine Einbauküche an. Ein Kaffeehaustischchen und zwei gepolsterte Hocker aus Schmiedeeisen am Fenster boten die einzige Gelegenheit, sich zum Essen niederzulassen. Doch das Fenster war groß und ließ viel Licht ein, und Zimmerpflanzen und Geranien auf dem Fensterbrett brachten etwas Natur in die Wohnung.
Barrott nahm alles in Augenschein, lehnte dann höflich ab, als ich ihm Wasser oder Kaffee anbot, und setzte sich mir gegenüber auf einen der Sessel. Er erstaunte mich zunächst mit einer Entschuldigung. »Ms. MacKenzie«, sagte er, »sicherlich hatten Sie das Gefühl, ich würde Ihre Sorgen um Ihren Bruder nicht wirklich ernst nehmen, als Sie am Montag zu mir kamen.«
Ich ließ mein Schweigen wie eine Bestätigung wirken.
»Ich habe mir gestern die Akte Ihres Bruders angesehen. Na gut, zugegebenermaßen bin ich nicht besonders weit gekommen. Dann hat uns die Nachricht von Leesey Andrews erreicht, und das hatte natürlich Vorrang, aber dann hab ich mir doch gedacht, dass ich auf diese Weise noch einmal Gelegenheit haben würde, mit Ihnen zu sprechen. Wie ich Ihnen schon sagte, befragen wir im Moment die gesamte Nachbarschaft. Kennen Sie Leesey Andrews?«
Die Frage überraschte mich. Hätte ich sie gekannt, hätte ich das doch sicher sofort erwähnt, als er anrief und um ein Gespräch bat. »Nein, ich kenne sie nicht«, antwortete ich.
»Haben Sie ihr Bild im Fernsehen gesehen?«
»Ja, gestern Abend.«
»Und Sie hatten nicht das Gefühl, sie schon einmal irgendwo hier in der Gegend gesehen zu haben?«, hakte er nach, als ob er sich nicht sicher sei, ob ich ausweichen wollte.
»Nein, aber da sie gleich nebenan wohnt, könnte ich ihr sicherlich auf der Straße begegnet sein. Es gibt eine ganze Reihe von jungen Studentinnen in diesem Haus.« Mir war klar, dass ich etwas irritiert klang, aber das war ich schließlich auch. Wollte Barrott etwa darauf hinaus, dass ich etwas mit dem Verschwinden dieser jungen Frau zu tun haben könnte, weil ich selbst einen Bruder hatte, der verschwunden war?
Barrott machte ein ernstes Gesicht. »Ms. MacKenzie, Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich Ihnen dieselben Fragen stelle, die ich und die anderen Kollegen allen Leuten hier in der unmittelbaren Nachbarschaft stellen. Weil wir uns schon kannten und weil Sie wohl am ehesten nachvollziehen können, was ihr Vater und ihr Bruder im Augenblick durchmachen, habe ich gehofft, dass Sie uns vielleicht weiterhelfen können. Sie sind eine äußerst attraktive junge Frau, und als angehende Anwältin haben Sie gelernt, Leute genau zu beobachten und einzuschätzen.« Er beugte sich etwas vor, die Hände gefaltet. »Laufen Sie manchmal nachts allein in dieser Gegend herum, sagen wir, nachdem Sie zum Essen ausgegangen sind oder im Kino waren, oder sind Sie manchmal schon sehr früh unterwegs?«
»Ja, das kommt vor.« Meine Stimme klang jetzt nicht mehr so schroff. »Morgens gehe ich regelmäßig gegen sechs Uhr eine Runde joggen, und wenn ich mich abends mit Freunden hier in der Gegend treffe, gehe ich meistens zu Fuß nach Hause.«
»Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden oder dass Ihnen jemand folgt?«
»Nein. Andererseits muss ich sagen, dass ich selten nach Mitternacht unterwegs bin, und um diese Zeit ist im Village immer noch ziemlich viel auf den Straßen los.«
»Ich verstehe. Dennoch wäre es gut, wenn Sie die Augen für uns offen halten. Diese Art von Tätern findet, ähnlich wie Brandstifter, manchmal Vergnügen daran, die Aufregung zu beobachten, die sie erzeugt haben. Und es gibt noch etwas, womit Sie uns vielleicht helfen könnten. Ihre Nachbarin vom ersten Stock, Mrs. Carter, hält große Stücke auf Sie, nicht wahr?«
»Ich mag sie auch sehr. Sie hat schlimme Arthritis, und bei schlechtem Wetter fürchtet sie sich hinauszugehen«, erklärte ich. »Sie ist schon ein paarmal schlimm gestürzt. Ich schaue regelmäßig nach ihr und kaufe das eine oder andere für sie mit ein, wenn sie etwas braucht.« Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und fragte mich, worauf er mit seiner Bemerkung hinauswollte.
Barrott nickte. »Das hat sie mir erzählt. Eigentlich hat sie die ganze Zeit in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt. Aber Sie wissen ja, wie das mit manchen alten Menschen ist. Sie haben Angst davor, selbst Ärger zu bekommen, wenn sie mit der Polizei sprechen. Meine Tante war auch so. Selbst wenn sie mit eigenen Augen gesehen hätte, dass ein Nachbar das Auto eines anderen Nachbarn angefahren hat, so hätte sie das niemals gemeldet. ›Das geht mich nichts an‹, das war ihr ständiger Spruch.« Er blickte nachdenklich auf den Fußboden. »Mir ist aufgefallen, dass Mrs. Carter sehr nervös war, als sie mit mir gesprochen hat«, fuhr er fort. »Doch sie hat mir auch erzählt, dass sie sehr gerne am Fenster sitzt. Sie hat behauptet, sie würde Leesey auf dem Foto nicht erkennen, doch ich hatte das Gefühl, dass sie sie sehr wohl erkannt hat. Es könnte sein, dass sie Leesey nur auf der Straße hat vorbeilaufen sehen und nicht in die Ermittlungen verwickelt werden möchte, doch wenn Sie eine Tasse Tee mit ihr trinken, wird sie Ihnen gegenüber möglicherweise etwas gesprächiger sein.«
»Gut, das werde ich tun«, sagte ich bereitwillig. Mrs. Carter mag zwar alt sein, aber ihr entgeht normalerweise nichts, und sie sitzt fast den ganzen Tag am Fenster, dachte ich. Auf jeden Fall weiß sie bestens über alles Bescheid, was sich zwischen den Nachbarn in den drei Stockwerken über ihr abspielt. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ich jetzt Ermittlungen für Barrott führen sollte, wenn doch meine ursprüngliche Absicht gewesen war, dass er für mich ermitteln sollte.
Barrott erhob sich. »Danke, dass Sie mich empfangen haben, Ms. MacKenzie. Sie werden verstehen, dass wir rund um die Uhr an diesem Fall arbeiten, doch sobald das erledigt sein wird, werde ich mich noch einmal gründlich mit der Akte Ihres Bruders befassen und prüfen, ob es nicht ein paar neue Ansatzpunkte gibt, denen wir nachgehen könnten.«
Er hatte mir am Montag seine Visitenkarte überreicht, doch vermutlich dachte er, ich hätte sie weggeworfen, was auch zutraf. Nun überreichte er mir eine neue und versicherte mir, dass er sich wieder melden werde. Ich brachte ihn an die Tür, sperrte hinter ihm ab und merkte plötzlich, dass ich weiche Knie hatte.
Irgendetwas an seiner Art sagte mir, dass Detective Roy Barrott nicht aufrichtig gewesen war. Für ihn war ich nicht nur jemand, der zufällig im Nachbarhaus einer verschwundenen jungen Frau wohnte. Er suchte nach Gründen, um mit mir in Kontakt zu bleiben.
Aber warum?
Ich wusste es einfach nicht.