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Am Montag gegen Mittag erhielt Detective Bob Gaylor einen Anruf von der jungen Küchenhilfe, die er in dem Obdachlosenheim in der Mott Street kennengelernt hatte. »Hi, hier spricht Joan Coleman«, sagte sie. Sie klang aufgeregt. »Wie versprochen habe ich etwas über Zach rauszufinden versucht.«
Es war ziemlich viel los im Dezernatsbüro, doch Gaylor blendete sämtliche Geräusche bis auf Joan Colemans Stimme aus. »Schön«, sagte er. »Was können Sie mir erzählen?«
»Er ist jetzt endgültig auf der Straße. Geht nicht mehr in die Unterkunft, jetzt, wo es warm ist. Gestern Abend ist er mit seinem ganzen Kram in der Nähe der Brooklyn Bridge aufgetaucht, völlig besoffen. Er hat seinen Freunden erzählt, dass er vielleicht eine Belohnung wegen des Leesey-Andrews-Falls bekommt.«
»Das hat er versucht, ja. Ich glaube nicht, dass es klappen wird.«
»Mein Informant, Pete, ist ein junger Typ, der es vielleicht schaffen wird. Er hängt an der Nadel, aber er versucht alles, um loszukommen. Im Augenblick ist er ziemlich clean, deshalb glaube ich ihm.« Sie senkte die Stimme. »Seiner Aussage nach behauptet Winters, er hätte irgendeinen Beweis, könne ihn aber nicht vorlegen, weil sie sonst ihm die ganze Schuld zuschieben würden.«
»Schön. Winters war also gestern Nacht in der Nähe der Brooklyn Bridge?«
»Ja, in der Nähe von irgendeiner Baustelle, und wahrscheinlich ist er immer noch dort. Nach allem, was Pete mir gesagt hat, muss er einen ziemlichen Rausch ausschlafen.«
»Joan, falls Sie jemals einen Job in unserer Abteilung haben wollen«, sagte Gaylor geradezu begeistert, »dann werde ich Ihnen den beschaffen!«
»Nein danke. Ich bin schon genügend ausgelastet mit dem, was ich für diese armen Leute hier tue.«
»Nochmals vielen Dank, Joan.«
Gaylor stand auf, ging in Larry Ahearns Zimmer und teilte ihm die neuesten Informationen mit.
Ahearn hörte ruhig zu. »Du hast ja vermutet, dass Winters uns irgendwas verschweigt«, sagte er. »Sieht so aus, als ob du recht hattest. Finde ihn und schüttle es aus ihm raus. Vielleicht ist er noch so besoffen, dass er ein bisschen gesprächiger ist.«
»Hast du noch irgendwas von Leeseys Familie gehört?«
Ahearn lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. »Ich habe heute Morgen mit Gregg telefoniert. Er hat seinem Vater ordentlich Beruhigungsmittel gegeben. Er wird jetzt bei ihm bleiben, bis die Sache auf die eine oder die andere Art gelöst ist.« Er zuckte die Achseln. »Tja, auf der anderen Seite wissen wir, du und ich, dass wir möglicherweise nie rausfinden werden, was mit Leesey passiert ist oder was in diesem Augenblick mit ihr geschieht.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Gaylor. »Du hattest recht gestern mit deiner Aussage, dass dieser Typ es auf die öffentliche Aufmerksamkeit abgesehen hat.«
»Langsam glaube ich auch, dass er geschnappt werden möchte, aber dann auf irgendeine spektakuläre Art, mit einem riesigen Knalleffekt.« Ahearn ballte die Fäuste. »Gregg sagte mir am Telefon, er fühle sich so verdammt hilflos. Ich kann nur sagen, mir geht es auch nicht anders.«
Als sich Gaylor anschickte, das Büro zu verlassen, klingelte das Telefon. Ahearn nahm den Hörer ab, hörte einen Moment zu und sagte: »Stellen Sie ihn durch.« Er winkte Gaylor zurück. »Es ist Gregg Andrews.«
Gaylor hörte, wie Larry Ahearn sagte: »Natürlich. Wenn dein Vater möchte, dass ein Aufruf in den Medien erscheint, werden wir das weitergeben.« Er setzte sich und nahm einen Stift. »Aus der Bibel. Gut.« Er schrieb mit, während er den Hörer ans Ohr hielt, unterbrach Gregg Andrews nur einmal, um etwas zu wiederholen, und sagte dann: »Gut, ich hab das. Ich kümmer mich drum.«
Mit einem tiefen Seufzer legte er den Hörer auf. »Dr. Andrews möchte, dass dies hier im Fernsehen verlesen und in den Zeitungen gedruckt wird, damit Leeseys Entführer begreift, wie verzweifelt er sich wünscht, dass sie wohlbehalten wieder zu ihm zurückkehrt. Es ist dem Buch des Propheten Hosea entlehnt:
›Als du jung warst, gewann ich dich lieb …
Ich lehrte dich laufen, ich nahm dich auf meine Arme …
Ich war wie ein Elternpaar, das sich den Säugling an die Wange hebt.
Ich neigte mich dir zu und gab dir zu essen …
Wie könnte ich dich preisgeben?‹«
Beide Männer hatten Tränen in den Augen, als Detective Bob Gaylor sich auf den Weg machte, um Zach Winters zu suchen.
Visionen von Dollarnoten, stapelweise Dollarnoten, tanzten durch Zach Winters’ Hirn, als er die Augen öffnete und irgend so einen Typen erblickte, der auf ihn herabschaute. Er hatte sich an einem seiner Lieblingsplätze zum Schlafen eingerollt, ein Baugrundstück in der Nähe der Brooklyn Bridge, auf dem ein Parkhaus abgerissen worden war und man noch nicht mit dem Neubau begonnen hatte. Jemand hatte ein Loch in den Baustellenzaun gerissen, und jetzt, wo es warm war, benutzten er und viele seiner Freunde das Grundstück als zeitweilige Bleibe. Alle eineinhalb bis zwei Wochen wurden sie von den Bullen vertrieben, doch nach ein oder zwei Tagen kamen sie alle wieder mit ihren paar Habseligkeiten zurück. Sie wussten alle, genau wie Zach, dass sie, wenn mit den Bauarbeiten begonnen würde, endgültig weiterziehen müssten, doch bis dahin war es ein großartiger Platz, um sein Lager aufzuschlagen.
Zach hatte geträumt, wie er die Belohnung von fünfzigtausend Dollar einkassieren würde, sobald ihm etwas einfiel, wie er sie bekommen könnte, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen, und war aufgewacht, als ihn jemand an der Schulter rüttelte.
»Kommen Sie schon, Zach, wachen Sie auf!«, befahl eine Männerstimme.
Zach öffnete langsam die Augen. Die Erkenntnis, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben, drang allmählich in sein Bewusstsein. Ich kenn den. Der ist von der Polizei. Er war im Zimmer, als der Bruder mich mitgenommen hat, um ihnen zu erzählen, wie ich Leesey gesehen habe. Immer schön aufpassen, Zach, sagte er sich. Das ist derjenige, der an diesem Tag so fies zu dir war.
Zach rollte sich auf den Rücken und stützte sich langsam auf die Ellbogen. Er hatte sich mit seiner Winterjacke zugedeckt, die er jetzt beiseiteschob. Er blinzelte in die grelle Nachmittagssonne, dann blickte er sich rasch um und sah nach, ob sein Einkaufswagen noch da war. Zum Schlafen hatte er ihn auf die Seite gekippt und neben sich gelegt, sodass die Griffstange auf seinen Beinen lag und niemand an den Inhalt gelangen konnte, ohne ihn vorher wegzuschieben. Es war einigermaßen sicher, obwohl einige der Zeitungen, die er obenauf gestopft hatte, herausgerutscht waren.
Er blinzelte Gaylor an. »Was wollen Sie?«, fragte er.
»Ich will mit Ihnen reden. Stehen Sie auf.«
»Schon gut. Schon gut. Immer mit der Ruhe.« Zach tastete nach der Weinflasche, die neben ihm gestanden hatte, als er eingeschlafen war.
»Die ist leer«, schnauzte Gaylor. Er packte Zach am Arm und zog ihn unsanft hoch. »Sie haben Ihren Freunden erzählt, Sie wüssten etwas über Leeseys Entführung, etwas, was Sie uns neulich nicht erzählt haben. Also, was wissen Sie?«
»Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Oh doch, das haben Sie.« Gaylor bückte sich, packte die Griffstange des Einkaufswagens und stellte ihn auf. »Sie haben Ihren Freunden erzählt, Sie hätten etwas, womit Sie sich die ausgesetzte Belohnung verschaffen könnten. Was ist das? Raus mit der Sprache!«
Zach machte eine Geste, als ob er sich Staub von der Jacke fegen würde. »Ich kenne meine Rechte. Lassen Sie mich in Ruhe.« Er streckte seine Hand nach der Griffstange seines Wagens aus. Doch Gaylor ließ sie nicht los und versperrte ihm den Weg.
Sein Ton war gereizt. »Zach, warum kommen Sie mir nicht entgegen? Seien Sie doch vernünftig. Ich möchte, dass Sie diesen Wagen ausräumen und mir den gesamten Inhalt zeigen. Wir wissen, dass Sie nichts mit der Entführung von Leesey Andrews zu tun haben. Sie saufen zu viel und hätten das gar nicht schaffen können. Wenn Sie etwas unter Ihren Sachen haben, was uns dabei hilft, sie zu finden, dann kriegen Sie Ihre Belohnung, das verspreche ich Ihnen.«
»Ja, ja, die Tour kenn ich schon.« Zach streckte noch einmal den Arm aus und versuchte, Gaylor die Griffstange aus der Hand zu reißen. Der Wagen kippte zur Seite, und einige der Zeitungen fielen heraus. Darunter tauchte ein Gegenstand auf, teilweise in ein schmutziges Hemd gewickelt, den Gaylor sofort als ein teures Kosmetiketui erkannte.
»Wo haben Sie das her?«, fuhr er Zach an.
»Geht Sie nichts an.« Zach richtete den Wagen rasch wieder auf und schob die Zeitungen über den Inhalt. »Ich geh jetzt.« Er machte Anstalten, den Einkaufswagen hastig in Richtung Bürgersteig zu schieben.
Gaylor lief neben ihm her, holte sein Handy aus der Tasche und wählte Ahearn an. »Ich brauche einen Durchsuchungsbefehl, um den Inhalt von Zach Winters’ Einkaufswagen zu beschlagnahmen«, sagte er. »Er hat so ein teures silber-schwarzes Kosmetiketui da drin. Ich möchte wetten, das gehört Leesey Andrews. Ich werde bei ihm bleiben, bis ihr mir den Durchsuchungsbefehl bringt. Und fragt bei Leeseys Wohnungsgenossin nach, ob sie etwas über ein Kosmetiketui weiß, das Leesey in der fraglichen Nacht bei sich hatte.«
Vierzig Minuten später hatten sich zwei Streifenwagen am Straßenrand aufgestellt, und Gaylor, den Durchsuchungsbefehl in der Tasche, öffnete Leesey Andrews’ Kosmetiketui.
»Ich hatte Angst, dass Sie glauben, ich hätte es gestohlen«, jammerte Zach Winters. »Als sie in den Wagen eingestiegen ist, hat sie ihre Handtasche verloren. Dabei sind einige Sachen rausgefallen. Sie hat das meiste eingesammelt, aber als sie weggefahren sind, bin ich rübergegangen, um nachzusehen, ob vielleicht ein paar Dollar aus ihrer Tasche gefallen sind. Sie wissen schon, was ich meine. Und dann hab ich das hier gefunden und mitgenommen, und ich will ganz ehrlich sein, es war ein Fünfzigdollarschein drin, und da hab ich mir vielleicht einen kleinen Finderlohn gegönnt und …«
»Ach, hören Sie doch auf, Winters!«, unterbrach ihn Bob Gaylor. »Wenn Sie uns das sofort übergeben hätten oder selbst noch am Samstag, hätte das vielleicht entscheidend sein können.«
Außer den üblichen Kosmetikartikeln, die eine junge Frau in ihrer Handtasche dabei hat, enthielt das Etui eine Visitenkarte. Sie trug den Namen Nick DeMarcos und vermeldete Adresse und Telefonnummer seiner Loft-Wohnung. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: »Leesey, ich verfüge über einige Kontakte im Showgeschäft, und es wäre mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein. Rufen Sie mich an, Nick.«