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Selbst die hartgesottensten unter den Kriminalbeamten hatte tiefes Grauen gepackt, als sie die Aufnahme von Leeseys Abschiedsgruß an ihren Vater angehört hatten. Für alle gab es daher nur noch ein einziges Ziel: Den Serienmörder zu schnappen, bevor er erneut zuschlagen konnte. Immer wieder kämmte das gesamte Dezernat sämtliche Fakten durch, die bislang im Zuge der Ermittlungen bekannt geworden waren.
Am Mittwochmorgen stand wieder die vollzählige Mannschaft dicht gedrängt in Ahearns Büro.
Gaylor erstattete Bericht über seine Erkenntnisse. Die Geschichte, die Benny Seppini ihnen aufgetischt hatte, konnte nicht widerlegt werden. Er hatte eine Beziehung mit Anna Ryan, der getrennt lebenden Ehefrau von Walter Ryan, einem Polizeibeamten, dem massiver Alkoholkonsum gepaart mit unkontrollierten Wutausbrüchen nachgesagt wurden. Anna Ryan hatte bestätigt, dass sie am Montagabend vor zwei Wochen mit Benny gesprochen und ihm über ihre Angst vor ihrem Ehemann berichtet habe. Als man sie mit Bennys Aussage konfrontiert hatte, wonach er in der Nacht in seinem Wagen vor ihrem Wohngebäude Wache gehalten habe, hatte sie gelächelt und gesagt: »So etwas sieht Benny wirklich ähnlich.«
»Das bedeutet nicht, dass Benny nicht trotzdem einen Anruf von DeMarco mit der Bitte um Hilfe erhalten haben könnte«, bemerkte Ahearn dazu. »Aber das werden wir nie beweisen können.«
Anschließend beugte sich Ahearn über seine Notizen und gab einen zusammenfassenden Bericht ab. In den vergangenen Tagen, seit er von Beamten in Zivil beschattet wurde, hatte Nick DeMarco nichts Ungewöhnliches getan. Seine mitgeschnittenen Telefongespräche drehten sich hauptsächlich um geschäftliche Dinge. Mehrere Anrufe eines Maklers bestätigten seine Angabe, wonach seine Wohnung in der Park Avenue zum Verkauf anstehe. Es war auch bereits ein Angebot gemacht worden, das er nach eigener Aussage in Betracht ziehen wollte. Er hatte ein halbes Dutzend Mal versucht, Carolyn MacKenzie zu erreichen, doch sie hatte offenbar ihr Handy abgeschaltet. »Wir wissen, dass sie auf dem Weg nach Martha’s Vineyard war«, sagte Ahearn. »DeMarco wusste das nicht und hat sich anscheinend Sorgen um sie gemacht.«
Ahearn blickte auf, um sich zu vergewissern, dass alle ihm zuhörten. »Carolyn ist auf die Insel gefahren und hat Dr. Barbara Hanover Galbraith, die Exfreundin ihres Bruders, aufgesucht, doch sie ist nicht lange dort geblieben. Der Ehemann war nicht da. Als die Familie später in dem Hotel auftauchte, in dem Carolyn sich einquartiert hatte, hat sie es fluchtartig verlassen und ist wieder nach Hause gefahren. Im Hotel hat Carolyn keine Anrufe erhalten. Und seit dem Augenblick, an dem sie die Stadt verlassen hat – nach ihrem Besuch bei den Kramers –, bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sie auch ihr Handy nicht benutzt.«
»Sie war in Tränen aufgelöst, als sie am Montagmorgen von den Kramers kam«, fuhr Ahearn fort. »Wir haben ein Bild von ihr, als sie gerade das Haus verlässt. Danach ist ihr ein Mann bis zu ihrem Wagen gefolgt. Dies ist eine Aufnahme von ihm, zusammen mit ihr.« Ahearn legte seine Notizen aus der Hand und reichte Barrott ein paar Fotos. »Wir haben ihn überprüft. Sein Name ist Howard Altman. Er arbeitet für Derek Olsen, dem Besitzer einiger kleinerer Wohngebäude, darunter auch das Haus, in dem Mack gewohnt hat. Altman hat seinen Job bei Olsen ein paar Monate nach Macks Verschwinden angetreten.«
Die Bilder wurden durchgereicht und landeten schließlich wieder auf Ahearns Schreibtisch. »Unsere Leute waren am Montagnachmittag noch mal bei den Kramers.« Ahearns Stimme klang zunehmend müde. In seinem Kopf gellte immer wieder Leeseys Schrei: »Nein, bitte nicht …« Er räusperte sich. »Laut eigener Aussage hat Gus Kramer Carolyn MacKenzie erzählt, dass seine Frau an jenem Tag, an dem Mack diesen Zettel in die Kollekte schmuggelte, in der Kirche gewesen sei und ihn gesehen habe. Er sei ein Mörder, und Carolyn solle sie endlich in Ruhe lassen. Carolyn sei daraufhin in Tränen ausgebrochen und hinausgerannt.«
»Als wir Mrs. Kramer das erste Mal befragt haben«, sagte Gaylor, »hat sie uns nicht gesagt, dass sie Mack an jenem Tag in der Kirche gesehen hat, weil sie ihre Fernsichtbrille damals nicht dabeihatte und sich nicht sicher war, ob er es tatsächlich gewesen ist. Am Montagnachmittag hat sie dann gesagt, sie sei jetzt überzeugt davon, dass es wirklich Mack war. Die Frage ist nur, ob wir ihr das glauben sollen.«
»Ich glaube gar nichts, was die Kramers uns erzählen«, sagte Ahearn, »aber ich glaube nicht, dass Gus Kramer ein Serienmörder ist.« Er blickte zu Barrott. »Berichte mal, was Carolyn MacKenzie zu dir gesagt hat, als du sie heute am frühen Morgen in der Garage abgepasst hast.«
Die dunklen Schatten unter Roy Barrotts Augen waren mittlerweile zu Tränensäcken angeschwollen. »Wir hatten eine kleine Aussprache in der Garage. Sie hat vehement beteuert, dass ihr Bruder unschuldig sei, dass Leesey dazu gezwungen worden sein müsse, seinen Namen zu nennen. Außerdem hat sie angekündigt, dass sie sämtliche Erklärungen, die wir abgegeben haben oder abgeben werden, genauestens prüfen werde und dass sie auch die Medien genau im Auge behalten werde, und wenn irgendjemand behaupte, ihr Bruder sei ein Mörder, werde sie auf der Stelle klagen und mit allen juristischen Mitteln dagegen vorgehen.«
Er hielt inne und kratzte sich an der Stirn. »Sie hat mir gesagt, sie sei Anwältin, und eine verdammt gute dazu, und wenn wir es darauf anlegten, würde sie uns das schon noch beweisen. Dann hat sie noch gesagt, wenn ihr Bruder schuldig wäre, würde sie keine Sekunde zögern, ihn der Polizei auszuliefern, allein schon um ihn vor einem schlimmen Ende in einer Schießerei zu bewahren, und danach würde sie mit allen Kräften an einer Verteidigung arbeiten, die auf seiner Unzurechnungsfähigkeit gründet.«
»Glaubst du ihr?«, fragte Chip Dailey, einer der Jüngsten im Team.
Barrott zuckte die Achseln. »Ich glaube, dass sie glaubt, dass ihr Bruder unschuldig ist, das schon. Ich gehe mittlerweile auch davon aus, dass sie nicht mit ihrem Bruder in Kontakt steht. Wenn er derjenige war, der mit Leeseys Handy in der Wohnung ihrer Mutter angerufen hat, dann hat er nur ein weiteres Mal sein Spielchen mit uns getrieben.«
Ahearns Telefon klingelte. Er nahm den Hörer auf, hörte kurz zu. Sein Mienenspiel verriet Erstaunen. »Ist jeder Irrtum ausgeschlossen?«, fragte er.
Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: »Lil Kramer hat zwei Jahre im Gefängnis gesessen, als sie vierundzwanzig war. Sie hat damals für eine ältere Frau gearbeitet. Als die Frau starb, fehlte plötzlich ein großer Teil ihres Schmucks. Lil wurde beschuldigt und wegen Diebstahls verurteilt.«
»Hat sie es zugegeben?«, fragte Barrott.
»Nein, nie. Ändert aber nichts an der Tatsache. Sie wurde trotzdem verurteilt. Ich möchte, dass sie und ihr Mann sofort hierher geschafft werden.« Er ließ den Blick über die Anwesenden streifen. »Gut. Ich denke, alle wissen jetzt, was sie zu tun haben.« Sein Blick fiel auf Barrott, der fast im Stehen einschlief. »Roy, du gehst jetzt nach Hause und legst dich schlafen. Bist du wirklich überzeugt, dass Carolyn nicht in Kontakt zu ihrem Bruder steht?«
»Ja.«
»Dann brauchen wir sie auch nicht weiter zu beschatten. Wir wissen, dass wir nicht genug in der Hand haben, um die Kramers hierzubehalten, aber dafür möchte ich, dass sie beide beschattet werden, sobald wir sie wieder gehen lassen.«
Als sich die versammelte Mannschaft anschickte, den Raum zu verlassen, sagte Ahearn noch etwas, von dem er sich vorher nicht sicher gewesen war, ob er es den anderen anvertrauen sollte: »Ich habe mir diese Aufnahme mindestens hundertmal angehört. Es klingt vielleicht verrückt, aber schließlich haben wir es hier mit einem Geisteskranken zu tun. Man hört Leesey schreien und dann Geräusche, als wenn sie gewürgt wird und verzweifelt nach Luft schnappt. Doch dann wird die Verbindung plötzlich unterbrochen. Es ist nicht zu hören, dass der Täter tatsächlich bis zum Äußersten gegangen ist.«
»Du glaubst wirklich, dass sie noch am Leben ist?«, fragte Gaylor ungläubig.
»Ich glaube, der Kerl, mit dem wir es hier zu tun haben, schreckt selbst vor dieser Art von Spielchen nicht zurück.«