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Es ist Punkt Mitternacht, und das bedeutet, dass Muttertag soeben begonnen hat. Ich übernachte heute in der Wohnung meiner Mutter in Sutton Place, wo ich aufgewachsen bin. Meine Mutter liegt in ihrem Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. Beide halten wir Wache am Telefon und warten, so wie jedes Jahr, seit mein Bruder Charles MacKenzie jr., genannt »Mack«, vor zehn Jahren aus der Wohnung verschwand, die er mit zwei anderen Studenten der Columbia University teilte. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Doch jedes Jahr an Muttertag ruft er irgendwann an, um Mom zu versichern, dass es ihm gut geht. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sagt er zu ihr. »Eines Tages werde ich den Schlüssel ins Schloss stecken und wieder da sein.« Danach legt er auf.
Wir wissen nicht, wann Mack in diesen vierundzwanzig Stunden anrufen wird. Letztes Jahr rief er ein paar Minuten nach Mitternacht an, und das Warten fand bereits ein Ende, bevor es richtig begonnen hatte. Vor zwei Jahren kam sein Anruf buchstäblich in letzter Sekunde, und Mom war schon in größter Verzweiflung, dass die einzig verbliebene Verbindung endgültig unterbrochen sein könnte.
Mack muss davon erfahren haben, dass mein Vater beim Anschlag auf die Twin Towers ums Leben kam. Eigentlich war ich mir sicher: Was auch immer mit ihm los war, dieser schreckliche Tag würde ihn dazu bewegen, nach Hause zu kommen. Doch dem war nicht so. Und als er am darauffolgenden Muttertag wieder anrief, stammelte er mit tränenerstickter Stimme: »Es tut mir leid wegen Dad. Es tut mir wirklich leid«, dann unterbrach er die Verbindung.
Mein Name ist Carolyn. Ich war sechzehn, als Mack aus unserem Leben verschwand. In seine Fußstapfen tretend, schrieb ich mich an der Columbia University ein. Nach dem Collegeabschluss habe ich dann gewechselt und bin zum Jurastudium an die Duke University gegangen. Mack war gerade erst dort aufgenommen worden, als er verschwand. Im letzten Jahr habe ich mein Studium abgeschlossen, und danach habe ich als Assistentin für einen Richter am Zivilgericht in der Centre Street im unteren Manhattan gearbeitet. Richter Paul Huot ist gerade in Pension gegangen, daher bin ich im Augenblick arbeitslos. Ich habe vor, mich um eine Stelle als Assistentin bei der Bezirksstaatsanwaltschaft in Manhattan zu bewerben, aber damit lasse ich mir noch etwas Zeit.
Zunächst muss ich einen Weg finden, meinen Bruder aufzuspüren. Was ist mit ihm passiert? Warum ist er verschwunden? Es gab keine Anzeichen für ein Verbrechen. Macks Kreditkarten wurden nicht benutzt. Sein Wagen stand in der Garage in der Nähe seiner Wohnung. Niemand, auf den seine Beschreibung passte, landete im Leichenschauhaus, obwohl meine Eltern in der ersten Zeit hin und wieder aufgefordert wurden, sich den Leichnam irgendeines nicht identifizierten jungen Mannes anzuschauen, der aus dem Fluss gefischt worden oder bei einem Unfall ums Leben gekommen war.
In meiner Kindheit war Mack mein bester Freund, mein Vertrauter, mein Kumpel. Die Hälfte meiner Freundinnen verliebte sich in ihn. Er war der perfekte Sohn, der perfekte Bruder, gut aussehend, freundlich, witzig, ein hervorragender Student. Was ich heute für ihn empfinde? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, wie sehr ich ihn geliebt habe, doch diese Liebe hat sich fast vollständig in Zorn und Groll verwandelt. Am liebsten würde ich glauben, er sei nicht mehr am Leben und jemand erlaube sich einen grausamen Scherz, aber es besteht kein Zweifel, dass er noch lebt. Vor Jahren haben wir einen seiner Anrufe aufgenommen und die Merkmale seiner Stimme mit Stimmproben aus alten Familienvideos abgleichen lassen. Sie waren identisch.
Das alles bedeutet, dass Mom und ich in einem Zustand ständiger Unsicherheit über sein Schicksal ausharren, und bevor Dad im brennenden Inferno des 11. September umkam, galt dasselbe auch für ihn. In all diesen Jahren konnte ich nie in ein Restaurant oder in ein Theater gehen, ohne dass ich mit dem Blick alles absuchte in der Hoffnung, durch einen Zufall auf ihn zu stoßen. Sobald jemand ein ähnliches Profil und rötlich braune Haare hat, schaue ich genauer hin, und manchmal muss ich den Betreffenden dann aus der Nähe betrachten. Ich erinnere mich, dass ich mehr als einmal beinahe Leute umgestoßen habe, um in die Nähe eines Mannes zu gelangen, der sich dann als völlig Unbekannter entpuppte.
All das ging mir durch den Kopf, als ich die Lautstärke des Telefons auf die höchste Stufe stellte, mich ins Bett legte und versuchte, ein bisschen zu schlafen. Ich vermute, dass ich tatsächlich in einen unruhigen Schlummer gesunken war, denn beim dröhnenden Aufjaulen des Telefons fuhr ich hoch und saß kerzengerade im Bett. Auf dem beleuchteten Zifferblatt sah ich, dass es fünf vor drei war. Mit einer Hand knipste ich die Nachttischlampe an, mit der anderen griff ich nach dem Hörer. Mom hatte bereits abgehoben, und ich vernahm ihre Stimme, atemlos und angespannt: »Hallo, Mack.«
»Hallo, Mom. Alles Gute zum Muttertag. Ich hab dich lieb.«
Seine Stimme klang kraftvoll und zuversichtlich. Es hört sich so an, als ob er nicht die geringsten Sorgen hätte, dachte ich bitter.
Wie immer, wenn sie seine Stimme vernahm, brach Mom in Tränen aus. »Mack, du fehlst mir so. Ich muss dich sehen«, flehte sie. »Es ist mir egal, in was für Schwierigkeiten du steckst, welche Probleme du hast, ich werde dir helfen, da rauszukommen. Mack, um Gottes willen, es sind jetzt zehn Jahre vergangen. Bitte tu mir das nicht noch länger an. Bitte … bitte …«
Sein Anruf dauerte nie viel länger als eine Minute. Sicherlich war er sich bewusst, dass wir versuchen würden, den Ort, von dem er anrief, herauszufinden. Doch seitdem es diese Handys mit Prepaid-Karte gibt, benutzt er immer ein solches Gerät für seine Anrufe.
Ich hatte mir im Voraus überlegt, was ich ihm sagen wollte, und schaltete mich jetzt hastig ein, bevor er auflegte. »Mack, ich werde dich finden«, sagte ich. »Die Polizei hat das nicht geschafft, und der Privatdetektiv auch nicht. Aber ich werde es schaffen, das schwöre ich dir.« Ich hatte das in ruhigem und bestimmtem Ton gesagt, doch das Schluchzen meiner Mutter brachte mich aus der Fassung. »Ich werde dich finden, du mieser Kerl«, platzte ich heraus, »und ich kann nur für dich hoffen, dass du einen guten Grund hast, uns so hundsgemein zu quälen.«
Ich hörte ein Knacken und wusste, dass er die Leitung unterbrochen hatte. Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen, um meine harschen Worte zurückzunehmen, doch natürlich war es dafür zu spät.
Ich wusste, dass Mom wütend auf mich sein würde, weil ich Mack angeschrien hatte, dennoch streifte ich einen Morgenmantel über und ging den Flur hinunter zu der Zimmerflucht, die sie früher mit Dad geteilt hatte.
Sutton Place ist eine gehobene Wohngegend in Manhattan, bestehend aus Stadthäusern und Wohngebäuden, die auf den East River hinausgehen. Mein Vater hat diese Wohnung gekauft, nachdem er in den Abendstunden ein Jurastudium an der Fordham Law School absolviert und sich anschließend bis zum Teilhaber einer Anwaltssozietät hochgearbeitet hatte. Unsere wohlbehütete Kindheit war das Ergebnis seines klugen Verstands und der strengen Arbeitsmoral, die ihm von seiner schottisch-irischen Mutter eingeimpft worden war. Niemals ließ er zu, dass auch nur ein Groschen des Geldes, das meine Mutter geerbt hatte, in unserem Leben eine Rolle spielte.
Ich klopfte an die Tür und öffnete sie. Sie stand am Panoramafenster, von dem der Blick über den East River ging. Sie drehte sich nicht um, obwohl sie wusste, dass ich in der Tür stand. Es war eine klare Nacht, und auf der linken Seite sah ich die Lichter der Queensboro Bridge. Selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit floss ein ununterbrochener Verkehrsstrom in beiden Richtungen über die Brücke. Kurz ging mir der merkwürdige Gedanke durch den Kopf, dass Mack in einem dieser Autos sitzen könnte und jetzt, nachdem er seinen jährlichen Anruf hinter sich gebracht hatte, zu irgendeinem entfernten Ziel unterwegs war.
Mack hat schon immer gerne Reisen unternommen; es lag ihm im Blut. Der Vater meiner Mutter, Liam O’Connell, wurde in Dublin geboren, studierte am Trinity College und wanderte in die Vereinigten Staaten aus, klug, gebildet, doch mittellos. Nach weniger als fünf Jahren war er so weit, dass er Kartoffeläcker auf Long Island kaufte, in dem Gebiet, das später zu den Hamptons wurde, dazu Grundstücke in Palm Beach County und an der Third Avenue, als diese noch eine schmutzige, dunkle Straße war, die im Schatten der darüber verlaufenden Hochbahntrasse lag. Damals warb er erfolgreich um meine Großmutter und heiratete sie, jenes englische Mädchen, das er am Trinity College kennengelernt hatte.
Meine Mutter Olivia ist eine echte englische Schönheit, groß gewachsen, mit zweiundsechzig immer noch rank und schlank, mit silbergrauen Haaren, blaugrauen Augen und ebenmäßigen Gesichtszügen. Mack war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ich habe die rotbraunen Haare, die braunen Augen und das kräftige Kinn meines Vaters geerbt. Wenn meine Mutter Absätze trug, war sie sogar eine Spur größer als mein Vater, und genau wie er bin ich nur von durchschnittlichem Wuchs. Eine plötzliche Sehnsucht nach ihm überfiel mich, als ich jetzt auf meine Mutter zuging und ihr einen Arm um die Schultern legte.
Sie wirbelte herum, und ich spürte geradezu körperlich den Zorn, der von ihr ausging. »Carolyn, wie konntest du nur so mit Mack reden?«, fuhr sie mich an, die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Begreifst du denn nicht, dass es irgendein schreckliches Problem geben muss, das ihn davon abhält, zurückzukommen? Begreifst du nicht, dass er in irgendeiner hilflosen Lage sein muss und dass dieser Anruf eine einzige Bitte um Verständnis ist?«
Als mein Vater noch lebte, hatte es oft ähnlich aufgewühlte Gespräche zwischen ihnen gegeben. Mom, die Mack stets in Schutz nahm, mein Vater, der irgendwann so weit war, dass er die ganze Sache abhaken und aufhören wollte, sich Sorgen zu machen. »Herrgott noch mal, Liv«, konnte er sich dann ereifern, »schließlich klingt es ganz so, als ob es ihm gut geht. Vielleicht hat er sich mit irgendeiner Frau eingelassen, von der wir nichts wissen sollen. Vielleicht versucht er, Schauspieler zu werden. Das wollte er doch immer, als er noch ein Kind war. Womöglich war ich auch zu hart zu ihm, weil er immer diese Sommerjobs machen musste. Wer weiß das schon?«
Es endete immer damit, dass sie einander um Verzeihung baten, Mom in Tränen aufgelöst, Dad zerknirscht und wütend auf sich, weil er sie in einen solchen Zustand versetzt hatte.
Ich wollte nicht noch den zusätzlichen Fehler begehen und versuchen, mich zu rechtfertigen. Stattdessen sagte ich: »Hör zu, Mom. Da wir Mack bis heute nicht gefunden haben, wird ihn meine Drohung auch nicht besonders kümmern. Sieh es einmal so. Er hat sich bei dir gemeldet. Du weißt, dass er am Leben ist. Er klingt geradezu munter. Ich weiß, dass du Schlaftabletten hasst, aber ich weiß auch, dass dir dein Arzt welche verschrieben hat. Am besten nimmst du jetzt eine davon und versuchst, ein bisschen zu schlafen.«
Ich wartete nicht auf eine Antwort. Es war besser, wenn ich nicht noch länger bei ihr blieb, denn auch ich spürte eine gehörige Portion Wut in mir. Wut auf sie, weil sie mich so beschimpft hatte, Wut auf Mack, Wut darüber, dass diese zweistöckige Zehnzimmerwohnung zu groß für Mom allein war, außerdem zu sehr angefüllt mit Erinnerungen. Sie will sie nicht verkaufen, weil sie sich nicht darauf verlassen will, dass Macks jährlicher Anruf an eine neue Adresse weitergeleitet wird, und natürlich erinnert sie mich jedes Mal daran, dass er versprochen hatte, eines Tages würde er den Schlüssel ins Schloss stecken und wieder zu Hause sein … Zu Hause. Hier.
Ich schlüpfte wieder in mein Bett, doch an Schlaf war zunächst nicht zu denken. Ich überlegte, wie ich die Suche nach Mack angehen sollte. Ich fasste den Gedanken ins Auge, Lucas Reeves aufzusuchen, den Privatdetektiv, den Dad engagiert hatte, verwarf ihn jedoch bald wieder. Ich wollte Macks Verschwinden so handhaben, als ob es erst gestern passiert sei. Als sich Dad damals ernsthafte Sorgen um Mack zu machen begann, hatte er als Erstes die Polizei angerufen und seinen Sohn als vermisst gemeldet. Ich nahm mir vor, ganz von vorn anzufangen.
Ich kannte Leute, die in dem Gerichtsgebäude arbeiteten, in dem auch das Büro des Bezirksstaatsanwalts untergebracht war. Ich beschloss, meine Suche dort zu beginnen.
Schließlich fand ich doch noch in den Schlaf und träumte, dass ich eine schattenhafte Gestalt verfolgte, die über eine Brücke lief. Obwohl ich mich bemühte, sie nicht außer Sichtweite geraten zu lassen, war sie zu schnell für mich, und als ich die andere Seite erreichte, wusste ich nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Doch dann hörte ich ihn rufen, seine Stimme klang bekümmert, fast klagend. Du sollst mich nicht verfolgen, Carolyn, bleib da, bleib da.
»Ich kann nicht, Mack«, sagte ich laut und wachte auf. »Ich kann nicht.«