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Am Sonntagmorgen benutzte ich den Dienstboteneingang, um der Medienmeute zu entgehen, und unternahm einen ausgedehnten Spaziergang den Fluss entlang. Nach Elliotts Anruf wegen Mom fühlte ich mich sehr niedergeschlagen, und außerdem verunsicherten mich meine Zweifel an Nick – ja, und zugegeben auch an Mack.
Der Tag war weiterhin so schön, wie er begonnen hatte: warm, mit einer leichten Brise. Die Strömung des East River, die für gewöhnlich so stark war, schien jetzt so mild wie der Sonnenschein. Segelboote legten sich in den Wind, nicht allzu viele, aber doch einige, und trugen zur friedlichen Stimmung bei. Ich liebe New York. Ich kann mir nicht helfen, ich liebe sogar das schreiende, aufdringliche Pepsi-Cola-Zeichen auf dem Long-Island-Ufer des Flusses.
Gegen Ende des dreistündigen Marsches war ich körperlich und geistig erschöpft. Als ich in die Wohnung in Sutton Place zurückkam, zog ich mich aus, duschte und legte mich ins Bett. Ich schlief den ganzen Nachmittag und wachte um sechs Uhr mit dem Gefühl auf, wenigstens wieder etwas klarer im Kopf und den Dingen etwas mehr gewachsen zu sein. Ich wählte legere Kleidung – ein blau-weiß fein gestreiftes Hemd und weiße Jeans. Es war mir egal, ob Nick mit Sakko und Schlips auftauchte. Es sollte auf keinen Fall so aussehen, als ob die kleine Carolyn sich für ihr Rendezvous herausgeputzt hätte.
Nick erschien pünktlich um sieben Uhr. Er trug ein Sporthemd und eine Khakihose. Eigentlich hatte ich vorgehabt, sofort mit ihm aufzubrechen, doch er empfing mich mit den Worten: »Carolyn, ich muss unbedingt mit dir reden, und es wäre vielleicht besser, wenn wir das hier tun.«
Ich folgte ihm in die Bibliothek. »Bibliothek« klingt etwas hochtrabend. In Wirklichkeit ist sie nicht so bombastisch. Es ist einfach nur ein Zimmer mit Bücherregalen und bequemen Sesseln und einer Wandtäfelung, hinter der sich eine eingebaute Bar befindet. Nick ging sofort darauf zu, schenkte sich ein Glas Scotch mit Eis ein und für mich ein Glas Weißwein, in das er ebenfalls ein paar Eiswürfel warf.
»Das hast du letzte Woche getrunken. Ich hab irgendwo gelesen, dass die Herzogin von Windsor Eiswürfel in ihren Champagner tat«, sagte er, als er mir das Glas reichte.
»Und ich hab gelesen, dass der Herzog von Windsor seinen Whisky immer pur trank«, entgegnete ich.
»Nachdem er mit ihr verheiratet war, ist das kein Wunder.« Er lächelte kurz. »Nur ein Witz, natürlich. Ich hab keine Ahnung, wie sie war.«
Ich setzte mich auf die Couch, ohne mich anzulehnen. Er wählte einen der Sessel und schwenkte ihn herum. »Ich erinnere mich, dass ich diese Sessel immer bewundert habe«, sagte er. »Ich nahm mir damals vor, später auch solche zu haben, wenn ich einmal reich werden sollte.«
»Und?«, fragte ich.
»Nie die Zeit dafür gehabt. Als ich Geld zu verdienen begann und mir eine Wohnung kaufte, habe ich eine Innenarchitektin beauftragt. Sie hatte eine Schwäche für Westernstil. Als alles fertig war und ich das Ergebnis sah, fühlte ich mich wie Roy Rogers.«
Ich hatte ihn gemustert und bemerkt, dass er stärker um die Schläfen ergraut war, als ich in Erinnerung hatte. Unter seinen Augen traten die Tränensäcke deutlicher hervor, und die bekümmerte Miene, die mir letzte Woche aufgefallen war, war einem Ausdruck tiefer Sorge gewichen. Er war gestern nach Florida geflogen, weil sein Vater einen Herzanfall hatte. Ich fragte Nick, wie es ihm ging.
»Ganz gut. Es war wirklich nur ein leichter Anfall. Sie werden ihn in ein paar Tagen aus der Klinik entlassen.«
Dann sah mir Nick unverwandt in die Augen. »Carolyn, glaubst du, dass Mack noch lebt? Und wenn ja, glaubst du, dass er zu solchen Taten fähig ist, wie die Polizei mutmaßt?«
Ich war kurz davor, aufrichtig zu antworten und zu sagen, dass ich mir im Augenblick einfach nicht mehr sicher sei, doch hielt ich meine Zunge noch rechtzeitig im Zaum. »Wie kommst du dazu, so etwas zu fragen? Natürlich nicht.« Ich hoffte, dass ich so entrüstet klang, wie ich klingen wollte.
»Carolyn, bitte schau mich nicht so an. Kannst du nicht verstehen, dass Mack mein bester Freund war? Ich habe nie begreifen können, warum er einfach so von der Bildfläche verschwunden ist. Und ich frage mich jetzt, ob vielleicht etwas mit seinem Verstand passiert ist, was damals niemand bemerkt hat.«
»Machst du dir um Mack Sorgen oder um dich selbst, Nick?«, fragte ich.
»Die Frage ist absurd. Carolyn, hör mir zu, ich möchte dich nur um eins bitten. Wenn er mit dir in Kontakt steht oder wenn er dich anrufen sollte, dann glaub nicht, du würdest ihm helfen, indem du ihn schützt. Hast du von der Nachricht gehört, die Leesey Andrews heute Morgen ihrem Vater hat zukommen lassen?« Er sah mich erwartungsvoll an.
Für einen Moment war ich sprachlos, dann brachte ich heraus, dass ich den ganzen Tag kein Radio oder Fernsehen eingeschaltet hatte. Doch als mir Nick die Neuigkeit mitteilte, musste ich die ganze Zeit an Barrotts Vermutung denken, dass Mack seinen eigenen Wagen gestohlen hatte. Es klingt verrückt, aber es erinnerte mich an jenen Tag, als ich fünf oder sechs Jahre alt war und Mack plötzlich schlimmes Nasenbluten bekam. Daddy war zu Hause und nahm kurzerhand eines der mit Monogramm versehenen Handtücher aus dem Badezimmer, um die Blutung zu stillen. Wir hatten damals eine ältere Haushälterin, die in Mack vernarrt war. Sie war so aufgeregt, dass sie versuchte, meinem Vater das Handtuch aus der Hand zu reißen. »Nicht doch«, rief sie, »das ist das beste Handtuch!«
Daddy hat diese Anekdote immer sehr gern zum Besten gegeben, doch er fügte auch immer hinzu: »Die arme Mrs. Anderson, sie hat sich solche Sorgen um Mack gemacht, aber dennoch waren die guten Handtücher für sie heilig. Ich habe ihr geantwortet: Da unser Name darauf steht, darf sie Mack auch ruinieren, wenn ihm danach ist!«
Ich konnte mir vorstellen, dass Mack seinen eigenen Wagen stahl, aber nicht, dass er Leesey als Geisel gefangen hielt und ihren Vater Folterqualen erdulden ließ. Ich sah Nick an. »Ich weiß nicht mehr, was ich über Mack denken soll«, sagte ich. »Aber ich schwöre dir und jedem, der es hören will, dass ich seit zehn Jahren, bis auf die Anrufe an Muttertag, nichts von Mack gehört oder ihn gar gesehen habe.«
Nick sah mich an und nickte, und ich denke, dass er mir glaubte. Dann fragte er: »Glaubst du, dass ich hinter der Entführung von Leesey stecke? Dass ich sie irgendwo gefangen halte?«
Ich prüfte meine Gedanken und Gefühle, bevor ich antwortete. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ihr seid beide da hineingezogen worden. Mack, weil ich zur Polizei gegangen bin, du, weil sie zuletzt in deinem Club gesehen wurde. Doch wenn es keiner von euch beiden ist, wer steckt dann dahinter?«
»Carolyn, ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Wir redeten mehr als eine Stunde miteinander. Ich sagte ihm, dass ich mit Lil Kramer allein sprechen wollte, weil sie in Gegenwart ihres Mannes Angst habe, etwas zu sagen. Wir drehten und wendeten die Tatsache, dass sich Mack kurz vor seinem Verschwinden über Mrs. Kramer aufgeregt hatte, Nick aber den Grund dafür nicht genannt hatte. Ich erzählte Nick, wie feindselig sich Bruce Galbraith in Bezug auf Mack verhalten habe und dass ich glaubte, Barbara sei nur deshalb zu ihrem Vater nach Martha’s Vineyard geflogen, um irgendwelchen unangenehmen Fragen zu entgehen.
»Ich werde morgen oder am Dienstag hinfahren«, sagte ich. »Meine Mutter möchte mich nicht sehen, und Elliott wird sich um sie kümmern.«
Nick fragte mich, ob ich glaube, dass Mom Elliott heiraten werde.
»Ich denke schon«, antwortete ich. »Ehrlich gesagt, hoffe ich das. Sie passen gut zusammen. Mom hat Dad zweifellos geliebt, aber es hat ihm immer gefallen, sich ein bisschen rebellisch zu gebärden. Mit Elliott besteht sicher eine stärkere Seelenverwandtschaft, was natürlich für mich nicht so leicht zu verdauen ist. Sie sind beide Perfektionisten, und ich glaube, dass sie zusammen sehr glücklich sein würden.« Dann sagte ich noch etwas, was ich ursprünglich gar nicht beabsichtigt hatte. »Deshalb war auch Mack immer ihr Liebling. Er machte immer alles richtig. Ich bin zu impulsiv für Moms Geschmack. Der beste Beweis ist, dass ich zur Polizei gegangen bin und diese ganze Misere ausgelöst habe.«
Ich war entsetzt, dass ich das vor Nick offenbart hatte. Ich glaube, er war kurz davor, sich zu mir zu setzen und mich vielleicht zu umarmen, doch er musste gewusst haben, dass ich das in diesem Moment nicht wollte. Stattdessen sagte er in leichtem Ton. »Mal sehen, ob du dieses Rätsel lösen kannst: Sie breitete die Flügel aus und sprang von der Augenbraue ihres Vaters.«
»Die Göttin Minerva«, sagte ich. »Schwester Catherine, sechste Klasse. Oh Mann, wie sie uns mit dieser Mythologie getriezt hat.« Ich stand auf. »Darf ich dich daran erinnern, dass du mich zum Essen ausführen wolltest? Wie wär’s mit Neary’s? Ich hab Lust auf ein Sandwich mit aufgeschnittenem Steak und Pommes frites.«
Nick zögerte. »Carolyn, ich muss dich warnen. Es sind einige Kameras draußen. Mein Auto steht in der Nähe des Hauseingangs. Wir könnten hinrennen. Ich glaube nicht, dass sie uns verfolgen werden.«
Genauso kam es. Sobald wir das Gebäude verließen, zuckten die Blitzlichter der Fotografen auf. Jemand hielt mir ein Mikrofon unter die Nase. »Ms. MacKenzie, glauben Sie, dass Ihr Bruder …« Nick nahm mich an der Hand, und wir rannten zu seinem Wagen. Er fuhr die York Avenue bis zur Seventy-second Street hinauf, dann wendete er und fuhr wieder zurück. »Ich glaube, jetzt sind wir vor ihnen sicher«, sagte er.
Mir hatte es erst mal die Sprache verschlagen. Ich dachte, wenigstens ist Mom an einem sicheren Ort, wo die Medien nicht an sie herankommen.
Neary’s ist ein irischer Pub in der Fifty-seventh Street, einen Häuserblock von Sutton Place entfernt. Für viele Leute in unserem Viertel ist er wie ein zweites Zuhause. Die Atmosphäre ist herzlich, das Essen ist gut, und an jedem beliebigen Abend bestehen gute Chancen, dass man die Hälfte der Gäste kennt.
Ich konnte weiß Gott ein bisschen moralische Unterstützung gebrauchen, und von Jimmy Neary bekam ich sie. Als er meiner ansichtig wurde, durchquerte er sofort den Raum. »Carolyn, es ist wirklich abscheulich, was sie Mack da alles unterstellen«, sagte er und legte mir tröstend die Hand auf die Schulter. »Der Junge war doch ein wahrer Heiliger. Aber warten Sie nur ab, am Ende wird die Wahrheit schon rauskommen.«
Er wandte den Blick und erkannte Nick. »Hallo, Junge. Erinnern Sie sich noch, als Sie mit Mack hier waren und mit mir wetten wollten, dass die Nudeln Ihres Vaters genauso gut seien wie mein Corned Beef?«
»Wir haben nie die Probe aufs Exempel gemacht«, entgegnete Nick. »Und jetzt ist mein Dad in Florida, in Rente.«
»In Rente? Und wie gefällt ihm das?«, fragte Jimmy.
»Er hasst es.«
»Mir würde es genauso gehen. Sagen Sie ihm, er soll zurückkommen, dann können wir auch endlich über die Wette entscheiden.«
Jimmy führte uns zu einem Ecktisch im hinteren Teil. Und als wir uns dort niedergelassen hatten, erzählte mir Nick mehr über seinen Besuch in Florida. »Ich habe meine Mutter dringend gebeten aufzupassen, dass mein Papa keine der New Yorker Zeitungen zu Gesicht bekommt«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie er das verkraften wird, wenn er herausfindet, dass ich offiziell zum Verdächtigen im Fall Leesey Andrews erklärt worden bin.«
Als die Steak-Sandwichs kamen, lenkten wir das Gespräch in stillschweigender Übereinkunft auf neutrales Terrain. Nick sprach darüber, wie er sein erstes Restaurant eröffnete, und wie gut es lief. Er deutete an, dass in den letzten fünf Jahren alles zu schnell gegangen sei. »Ich glaube, ich habe die Erfolgsstory von Donald Trump einmal zu oft gelesen«, gab er zu. »Ich hatte die Vorstellung, dass es Spaß machen müsse, auf dünnem Eis Schlittschuh zu laufen. Ich habe eine schreckliche Menge Geld in das Woodshed gesteckt. Eigentlich ist es das richtige Lokal zum richtigen Zeitpunkt. Aber sollte die New Yorker Alkoholbehörde darauf abzielen, den Laden dichtzumachen, dann werden sie einen Weg finden. Und wenn das geschieht, dann sitze ich wirklich in der Tinte.«
Wir sprachen vorsichtig über Barbara Hanover. »Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, wie schön sie ist«, sagte ich.
»Das war und ist sie immer noch, aber Carolyn, bei Barbara spielte immer auch noch etwas anderes mit, so eine Art berechnendes Was-ist – das-Beste-für-mich-Programm. Es ist schwer zu erklären. Aber nachdem wir alle unseren Collegeabschluss gemacht hatten und ich wegging, um BWL zu studieren, war Mack verschwunden, und was Bruce betraf, war es mir egal, ob ich ihn je wiedersehen würde oder nicht.«
Wir tranken noch beide einen Cappuccino, dann fuhr mich Nick zurück nach Sutton Place. Es stand nur noch ein Fahrzeug vom Fernsehen in der Straße. Er brachte mich eilig in das Gebäude und zum Aufzug. Als mir der Liftführer die Tür aufhielt, sagte Nick: »Carolyn, ich war es nicht, und Mack war es ebenso wenig. Daran musst du dich festhalten.«
Er ließ den Anstandskuss aus und war verschwunden. Ich fuhr nach oben. Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Die Nachricht stammte von Detective Barrott. »Ms. MacKenzie, heute Abend um acht Uhr vierzig haben Sie einen weiteren Anruf von Leesey Andrews’ Handy erhalten. Ihr Bruder hat keine Nachricht hinterlassen.«