60
Martha’s Vineyard liegt über dreihundert Meilen nordwestlich von Manhattan, und entsprechend setzt der Frühling dort später ein. Als ich am Dienstagmorgen aufwachte, blickte ich aus dem Fenster auf einen klaren, kalten Tag. Ich fühlte mich körperlich und geistig gestärkt, schlüpfte aus dem Bett und überlegte, was ich anziehen sollte, um Barbara Hanover Galbraith gegenüberzutreten. Das Wetter war kühl genug für den Jogginganzug, den ich am Vortag noch in meine Reisetasche gestopft hatte, doch das schien mir nicht unbedingt das Richtige zu sein für unsere Begegnung.
Ich wollte weder zu formell noch zu leger gekleidet bei ihr erscheinen. Ich wollte auch nicht wie Macks kleine Schwester wirken. Sie war Kinderchirurgin. Ich war promovierte Juristin, Rechtsanwältin, und hatte gerade meine Assistenzzeit bei einem Zivilrichter hinter mir. Meine Alternative war eine dunkelgrüne Kaschmirjacke, darunter ein weißes Oberteil und dazu weiße Jeans, die ich in letzter Minute eingepackt hatte. Jetzt war ich froh darüber.
Obwohl es schon fast auf Mittag zuging, bestellte ich beim Zimmerservice ein Frühstück. Während ich mich anzog, trank ich schwarzen Kaffee und knabberte an einem Zimtwecken. Ich war so nervös, dass meine Finger mir nicht mehr richtig gehorchen wollten und ich Mühe hatte, die Reinigungsetiketten von den Kleidern loszubekommen.
Ich war mir auch durchaus bewusst, dass die ganze Reise vergeblich sein könnte. Vielleicht war Barbara mit ihren Kindern mittlerweile wieder nach New York zurückgeflogen. Doch das glaubte ich nicht. Vermutlich hatte sie sich hierher geflüchtet, um einer Befragung wegen Mack zu entgehen, und in diesem Fall würde sie sicherlich vorerst hierbleiben.
Ich war mir sicher, dass sie mich abwimmeln würde, wenn ich vorher anriefe. Doch wenn ich einfach bei ihr auftauchte, konnte sie mir aus Gründen der Höflichkeit wohl kaum die Tür vor der Nase zuschlagen, nachdem sie schon einmal bei uns in Sutton Place zum Abendessen zu Gast gewesen war.
Das hoffte ich wenigstens.
Ich sah auf die Uhr und merkte, dass ich mich beeilen musste, wenn ich Barbara noch zu Hause antreffen wollte. Im Wagen stellte ich das Navigationssystem ein. Die Straße, in der Richard Hanover wohnte, war ungefähr sechs Meilen entfernt. Ich wollte direkt zum Haus fahren und klingeln. Falls niemand zu Hause sein sollte, wollte ich ins Stadtzentrum und eine Weile herumlaufen und dann von dort regelmäßig zurück zum Haus fahren, bis ich sie antreffen würde.
Es schien ein vernünftiger Plan zu sein, doch wie immer verlief alles ein bisschen anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Gegen halb eins erreichte ich das Haus. Es war niemand da. Ich fuhr jede Stunde wieder hin, bis es halb sechs war. Mittlerweile war ich überzeugt, dass die Reise völlig umsonst gewesen war, und ich fühlte mich so entmutigt, wie ein Mensch sich nur fühlen kann. Doch dann, gerade als ich den Wagen wendete, fuhr ein Jeep mit New Yorker Nummernschild an mir vorbei und bog in die Auffahrt ein. Gerade noch konnte ich erkennen, dass eine Frau am Steuer saß, neben ihr ein Mann und Kinder auf dem Rücksitz.
Ich fuhr ungefähr zehn Minuten ziellos durch die Straßen und dann zum Haus zurück. Ich klingelte. Ein älterer Mann öffnete die Tür. Er hatte natürlich keine Ahnung, wer ich war, lächelte aber dennoch freundlich. Ich stellte mich vor und sagte, Bruce hätte mir erzählt, dass seine Frau und die Kinder bei ihm zu Besuch seien. »Kommen Sie doch herein«, sagte er. »Sie müssen eine Freundin von Barbara sein.«
»Mr. Hanover«, sagte ich und betrat das Haus, »ich bin die Schwester von Mack MacKenzie. Ich muss mit ihr über Mack sprechen.«
Seine Miene veränderte sich. »Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist«, sagte er.
»Es geht nicht darum, ob es eine gute Idee ist oder nicht«, entgegnete ich. »Ich fürchte, es muss einfach sein.« Ich gab ihm keine Gelegenheit zu antworten und ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer.
Das Haus war eines dieser typischen Holzhäuser im Cape-Cod-Stil, die im Laufe der Jahre ausgebaut worden waren. Das Wohnzimmer war nicht eben groß, aber bezaubernd eingerichtet, mit antiken amerikanischen Möbeln und einem handgeknüpften Teppich. Vom oberen Stockwerk drang das Geräusch von rennenden Schritten und lachendes Kreischen nach unten. Die Kinder schienen noch jung zu sein. Ich meinte, mich zu erinnern, dass Barbara und Bruce Galbraith einen Jungen und Zwillingstöchter hatten.
Richard Hanover war verschwunden, vermutlich um seiner Tochter Bescheid zu geben. Während ich wartete, kamen drei kleine Mädchen die Treppe heruntergepoltert, gefolgt von einem etwa elfjährigen Mädchen. Die drei Kleinen rannten auf mich zu. Zwei von ihnen waren offensichtlich Zwillinge. Die Mädchen bauten sich vor mir auf, erfreut, einen Gast begrüßen zu dürfen.
»Wie heißt du?« Ich deutete auf einen der Zwillinge.
»Samantha Jean Galbraith«, sagte sie stolz. »Alle nennen mich Sammy, und wir sind heute mit der Fähre nach Cape Cod gefahren.«
Sie haben einen Tagesausflug gemacht, dachte ich. Ich zeigte auf den anderen Zwilling. »Und wie heißt du?«
»Margaret Hanover Galbraith. Ich bin nach meiner Großmutter benannt, die im Himmel ist, und alle nennen mich Maggie.« Beide Mädchen haben die blonden Haare ihrer Mutter, dachte ich.
»Und ist das eure Kusine oder eure Freundin?«, fragte ich und zeigte auf das dritte kleine Mädchen.
»Das ist Ava Grace Gregory, unsere beste Freundin«, erklärte Samantha. Ava Grace machte einen Schritt auf mich zu und strahlte. Samantha drehte sich um und zog an der Hand des älteren Mädchens. »Und das ist Victoria Somers. Sie besucht uns immer hier, und manchmal besuchen wir sie auf ihrer Ranch in Colorado.«
»Manchmal fahre ich mit ihnen mit«, erklärte mir Ava Grace mit ernstem Gesicht. »Und mein Daddy ist mit uns allen nach Washington gefahren, um das Weiße Haus zu besuchen.«
»Ich bin noch nie dort gewesen«, sagte ich. »Das ist ja wirklich toll.« Ich liebe Kinder, dachte ich. Eines Tages werde ich hoffentlich selbst welche haben, mindestens vier.
»So, ihr Lieben. Jetzt geht wieder nach oben und macht euch rechtzeitig fertig, bevor es Zeit wird, zum Abendessen auszugehen.« Der Ton war unbeschwert, und die Kinder hatten ihre Gesichter mir zugewandt, sodass sie die Miene von Barbara Hanover Galbraith nicht sehen konnten. Sie blickte mich mit einem Ausdruck von so heftiger Abneigung an, dass ich zunächst nichts weiter als Überraschung verspürte.
Ich hatte sie nur einmal zuvor gesehen, beim Abendessen, als ich sechzehn Jahre alt war. Ich war am Boden zerstört gewesen, weil es so ausgesehen hatte, als sei Nick in sie verliebt gewesen, doch nun hatte er behauptet, dass sie in Mack verliebt gewesen sei. Mit einem Mal fragte ich mich, ob ich ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. War das wirklich Verachtung, die ich in ihren Augen und in ihrer angespannten Körpersprache las, oder war es etwas anderes?
Mit einem fröhlichen Chor von Abschiedsgrüßen verschwanden die Mädchen wieder nach oben. Barbara sagte: »Lassen Sie uns lieber im Arbeitszimmer reden.«
Ich folgte ihr einen schmalen Flur hinunter. An dessen Ende sah man eine große Küche, die in einen Aufenthaltsraum überging. Das Arbeitszimmer befand sich vor der Küche auf der linken Seite. Es war nicht schwer zu erraten, dass Richard Hanover hier seine Abende zu verbringen pflegte, wenn er allein war. An den Wänden eine fröhliche Tapete, auf dem Boden ein gemusterter Teppich, dazu ein mittelgroßer Schreibtisch mit Stuhl und ein Ruhesessel, der auf einen an der Wand befestigten Fernseher ausgerichtet war. Links hinter dem Ruhesessel stand eine Leselampe, ein Korb mit Büchern und Zeitschriften befand sich in Reichweite. Ich konnte mir sofort meinen Vater in diesem Zimmer vorstellen.
Barbara schloss die Tür und setzte sich an den Schreibtisch, sodass mir nur der Ruhesessel blieb, der mir zu breit und zu tief vorkam. Ich wusste, dass sie so alt wie Mack war, einunddreißig, doch sie war eine von diesen Frauen, deren frühe Schönheit nicht erhalten bleibt. Ihr Gesicht, das ich als makellos in Erinnerung hatte, wirkte jetzt fast hager, ihre Lippen schmal. Die üppig fallende blonde Haarpracht, die ich einst bewundert und um die ich sie beneidet hatte, war straff zu einem Knoten gebunden. Doch sie hatte immer noch eine bezwingende Ausstrahlung, ein schlanker, etwas strenger Typ. Ich konnte mir vorstellen, dass die Aura von selbstgewisser Autorität, die von ihr ausging, beruhigend auf die Eltern ihrer kleinen Patienten wirkte.
»Warum sind Sie hergekommen, Carolyn?«, fragte sie in scharfem Ton.
Ich blickte sie an und versuchte, der Feindseligkeit, die von ihr ausging, etwas entgegenzusetzen. »Barbara«, sagte ich, »nach allem, was ich gehört habe, hatten Sie und Mack vor zehn Jahren eine Beziehung, bevor er verschwunden ist. Mir wurde auch gesagt, dass er damals Ihre große Liebe gewesen sei. Nun glaubt die Polizei, wie Sie sicherlich in den Zeitungen gelesen haben, dass Mack hinter diesen Verbrechen stehen könnte. Wenn das wahr sein sollte, dann kann es dafür nur eine Ursache geben, nämlich dass er einen schweren geistigen Zusammenbruch erlitten haben muss. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie damals irgendwelche Anzeichen für so etwas bemerkt haben.«
Sie schwieg.
Mein Blick ruhte unverwandt auf ihr. »Ihr Mann hat bei unserem Treffen in seinem Büro eine solche Verachtung für Mack zum Ausdruck gebracht, dass es mir fast die Sprache verschlagen hat. Was hat Mack denn Bruce angetan? Hat das irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun? Und warum sind Sie Hals über Kopf hierher geflohen, um sich einer unangenehmen Befragung zu entziehen? Wenn Sie glauben, dass Sie sich hier verstecken können, dann irren Sie sich. Die Presse belagert unsere Wohnung in Sutton Place. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse oder betrete, hält mir jemand ein Mikrofon unter die Nase. Und wenn ich von Ihnen keine ehrliche Antwort bekomme und ich weiterhin nicht überzeugt bin, dass Sie nichts über die Gründe für Macks Verschwinden wissen, dann werde ich beim nächsten Mal der Presse erzählen, dass Sie und Ihr Mann Informationen zurückhalten, die bei der Suche nach Leesey Andrews hilfreich sein könnten.«
Ich sah, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. »Das werden Sie nicht tun!«
»Oh doch, das werde ich«, versicherte ich ihr. »Ich würde alles tun, um Mack zu finden und ihn aufzuhalten, falls er wirklich diese Verbrechen begangen hat, oder um seine Unschuld zu beweisen, falls er nichts damit zu tun hat. Was mich betrifft, könnte er genauso gut einen Gedächtnisverlust erlitten haben und sich dreitausend Meilen von hier entfernt aufhalten.«
»Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, aber ich weiß, warum er damals verschwunden ist.« Barbara Galbraiths Kinn begann zu beben. »Wenn ich es Ihnen sage, werden Sie uns dann in Ruhe lassen? Bruce hat nichts mit seinem Verschwinden zu tun. Bruce hat mich geliebt und mir das Leben gerettet. Er hasst Mack wegen der Dinge, die er mir angetan hat.«
»Was hat er Ihnen denn angetan?« Die Worte kamen mir kaum über die Lippen. Ich hatte mich geirrt. Es war nicht nur Hass, den ich in Dr. Barbara Hanover Galbraiths Gesicht gelesen hatte. Es waren auch Schmerz und Kummer darunter, die sie versuchte zurückzudrängen.
»Ich war damals schrecklich verliebt in Mack. Wir gingen zusammen aus. Für ihn war die Sache nichts Ernstes, das weiß ich. Aber dann wurde ich schwanger. Ich war verzweifelt. Meine Mutter war todkrank. Die Krankenversicherung reichte nicht aus, und das gesparte Geld für mein Medizinstudium war mittlerweile aufgebraucht. Ich hatte die Zulassung für die Columbia Presbyterian Medical School in der Tasche und wusste, dass ich nicht hingehen konnte. Ich habe es Mack erzählt.«
Sie schluckte, um ein aufkommendes Schluchzen zu unterdrücken. »Er sagte, er würde sich um mich kümmern. Er sagte, wir würden heiraten und ich könnte das Studium um ein Jahr hinausschieben und später damit anfangen.«
Das klingt ganz nach Mack, dachte ich.
»Ich glaubte ihm. Ich wusste, dass er mich nicht liebte, doch ich war sicher, dass ich ihn mit der Zeit dazu bringen würde, mich zu lieben. Dann ist er verschwunden. Einfach so. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
»Warum sind Sie nicht zu meinen Eltern gegangen?«, fragte ich. »Sie hätten sich um Sie gekümmert.«
»Damit sie mir vielleicht Geld gegeben hätten, um das Kind ihres Sohnes aufzuziehen? Nein, danke.« Barbara biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin Kinderchirurgin. Für mich ist es das Höchste, ein kleines Baby zu berühren und sein Leben zu retten. Ich habe schon Babys gerettet, die so klein waren, dass sie in einer Hand von mir Platz fanden. Ich habe die Gabe zu heilen. Doch es gibt ein Baby, das ich nicht gerettet habe. Mein eigenes. Ich habe es abtreiben lassen, weil ich so verzweifelt war.« Sie wandte den Blick von mir ab, und fuhr fort: »Wissen Sie was, Carolyn? Wenn in der Klinik im Säuglingssaal eines von den Kleinen schreit, dann kommt es manchmal vor, dass ich hingehe und es in die Arme nehme und tröste. Und ich denke jedes Mal an das Baby, das mir aus der Gebärmutter geschabt wurde.«
Sie erhob sich. »Ihr Bruder war sich nicht so sicher, dass er Rechtsanwalt werden wollte. Er hat mir gesagt, dass er das Studium abschließen werde, um seinem Vater einen Gefallen zu tun, doch dass er eigentlich am liebsten Schauspieler geworden wäre. Ich glaube nicht, dass er verrückt ist – ich glaube, dass er irgendwo da draußen in der Weltgeschichte herumspukt. Vielleicht schämt er sich mittlerweile sogar ein bisschen wegen seines Verhaltens. Ob ich glaube, dass er zum Verbrecher geworden ist? Überhaupt nicht. Ich hasse ihn für das, was er mir angetan hat, aber er ist kein Serienmörder. Es wundert mich, dass Sie diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehen.«
»Ich werde jetzt gehen, und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihren Namen niemandem gegenüber erwähnen und Sie auch nicht mehr belästigen werde«, sagte ich und erhob mich ebenfalls. »Doch etwas möchte ich Sie noch fragen: Warum hasst Bruce Mack so sehr?«
»Die Antwort ist einfach. Bruce liebt mich. Während des ganzen Studiums, vom ersten Jahr an, wusste ich das. Als ich die Abtreibung hinter mir hatte, bin ich in ein Hotelzimmer gegangen und habe Schlaftabletten geschluckt. Doch dann entschied ich, dass ich weiterleben wollte. Ich rief Bruce an. Er war sofort da. Er hat mir das Leben gerettet. Er wird immer für mich da sein, und dafür liebe ich ihn, und mit der Zeit habe ich auch gelernt, ihn um seiner selbst willen zu lieben. Und jetzt tun Sie mir bitte den Gefallen und verlassen dieses Haus.«
Im Erdgeschoss war es still, als ich durch den Flur zur Haustür ging. Von oben drangen die Stimmen der Kinder an mein Ohr. Richard Hanover hatte sie offensichtlich dort gehütet, damit sie nichts von unserer Unterhaltung mitbekamen.
Wenn ich meine Gefühle beschreiben müsste, würde ich sagen, ich fühlte mich, als sei ich inmitten eines Wirbelsturms und würde von einer Seite auf die andere geworfen. Wenigstens hatte ich jetzt die Antwort auf die Frage, weshalb mein Bruder verschwunden war. Mack hatte sich unglaublich egoistisch verhalten, aber er wollte nicht Jura studieren und er liebte Barbara nicht, und als sie dann auch noch schwanger wurde, war ihm das alles über den Kopf gewachsen, und er hatte sich davongemacht. Auch die Passage auf dem Tonband passte dazu. »Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt, … als Ausgestoßner weinend mich beklage, umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt.«
Zu seiner Verteidigung sagte ich mir, er müsse damit gerechnet haben, dass Barbara sich an meine Eltern wenden würde, um finanzielle Unterstützung für das Kind zu erhalten.
Dass Barbara nicht den geringsten Zweifel an Macks Unschuld hegte und sich schockiert zeigte, dass ich diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog, bedeutete für mich zugleich Vorwurf und Erleichterung. In Gedanken hatte ich schon angefangen, an einer Verteidigung zu basteln, die auf seiner Unzurechnungsfähigkeit fußte. Nun aber war die schleichende Angst, er könne tatsächlich die Frauen entführt und ermordet haben, restlos verflogen. Jetzt war ich wieder absolut von seiner Unschuld überzeugt.
Doch wer steckte dann dahinter? Wer? Grübelnd stieg ich in mein Auto. Natürlich wusste ich keine Antwort.
Ich fuhr zurück zum Hotel und betete im Stillen, dass ich mein Zimmer noch länger würde behalten können. Es war mehr ein Gasthof als ein Hotel und verfügte nur über acht oder zehn Gästezimmer. Ich wollte ursprünglich um sechs Uhr abends zurückfahren und hatte mich entsprechend angemeldet.
Zum Glück war mein Zimmer noch frei. In meinem gegenwärtigen Gemütszustand wäre es mir schier unerträglich gewesen, auf die Fähre zu warten und dann die lange Strecke bis nach Hause zu fahren. Nach Hause fahren, wofür? Das Einzige, was mich dort sehnsüchtig erwartete, waren die Medien, dachte ich mit einem Anflug von Bitterkeit. Dazu Barrotts Anrufe mit seinen Unterstellungen. Eine abwesende Mutter, die mich nicht sehen wollte. Ein »Freund«, Nick, der mich wahrscheinlich nur benutzte, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen.
Ich ging nach oben. Im Zimmer war es kalt. Ich hatte ein Fenster offen gelassen, und der Zimmerservice hatte es nicht wieder geschlossen. Ich schloss es jetzt und drehte den Thermostat auf, dann schaute ich in den Spiegel. Ich sah bleich und erschöpft aus. Meine Haare, die ich offen gelassen hatte, hingen mir schlaff auf die Schultern.
Ich holte den Hotelbademantel aus dem Schrank, ging ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Ein paar Minuten später spürte ich, wie das warme Badewasser allmählich die Kälte aus meinem Körper vertrieb. Danach schlüpfte ich in meinen Jogginganzug. Es war ein gutes Gefühl, ihn zu tragen, den Reißverschluss bis zum Hals hochgezogen. Ich kämmte mir die Haare zurück und steckte sie fest, dann trug ich etwas Make-up auf, um den Stress zu verdecken, den man mir an den Augen und am Gesicht ansah.
Ich hatte immer über Prominente gelächelt, die abends mit dunkler Sonnenbrille herumliefen. Ich fragte mich oft, wie es ihnen gelang, im Restaurant die Speisekarte zu lesen. Doch an diesem Abend setzte auch ich eine Sonnenbrille auf, jene, die ich gestern bei der Fahrt getragen hatte. Sie verdeckte fast die Hälfte meines Gesichts. Dahinter fühlte ich mich geschützt.
Ich nahm meine Schultertasche und ging hinunter ins Restaurant. Zu meiner Bestürzung schien nichts mehr frei zu sein, abgesehen von einem großen Tisch in der Mitte, auf dem ein Reservierungsschild stand. Doch der Oberkellner hatte Mitleid mit mir. »Wir haben noch einen kleinen Tisch in der Ecke, gleich neben der Küchentür«, sagte er. »Ich vergebe den nicht so gern, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht …«
»Nein, nein, alles bestens«, sagte ich.
Ich hatte mich gerade dort niedergelassen, ein Glas Wein bestellt und einen Blick in die Speisekarte geworfen, als sie den Raum betraten. Dr. Barbara Hanover Galbraith, ihr Vater, die vier Mädchen. Und noch eine Person. Ein neun oder zehn Jahre alter Junge mit rotblonden Haaren, dessen Gesicht ich genau so deutlich erkannte, wie ich mein eigenes erkenne, wenn ich in den Spiegel schaue.
Ich starrte ihn an. Die weit auseinanderliegenden Augen, die hohe Stirn, das abstehende Büschel Haare am Haarwirbel, die gerade Nase. Er lächelte. Macks Lächeln. Ich blickte in Macks Gesicht. Mein Gott, ich blickte auf Macks Sohn!
Ich fühlte mich auf einen Schlag wie befreit, als ich begriff. Barbara hatte gelogen. Sie hatte gar nicht abtreiben lassen. Sie hatte nie einen Säuglingssaal betreten und an das Kind denken müssen, das sie getötet hatte. Sie hatte das Kind geboren, und jetzt zog sie den Jungen als Bruce Galbraiths Sohn auf.
Wie viel mochte wohl am Rest der Geschichte, die sie mir erzählt hatte, wahr sein?
Ich konnte keinen Augenblick länger bleiben. Ich stand auf und verließ den Raum durch die Küche, ignorierte die fragenden Blicke des Personals. Ich gelangte in den Empfangsraum, stolperte die Treppe hinauf, packte meine Sachen zusammen, beglich die Rechnung und erwischte die letzte Fähre zum Festland. Um zwei Uhr in der Früh war ich in Sutton Place.
Diesmal stand kein Medienfahrzeug vor dem Haus.
Doch dafür stand Detective Barrott in der Garage. Offensichtlich musste er gewusst haben, dass ich mich auf dem Rückweg befand, und mir ging auf, dass ich die ganze Zeit beschattet worden war. Mir war leicht schwummerig vor Erschöpfung. »Was wollen Sie?«, rief ich aufgebracht.
»Carolyn, Dr. Andrews hat vor einer Stunde eine weitere Nachricht von Leesey erhalten. Wortwörtlich hat sie gesagt: ›Daddy, Mack hat gesagt, dass er mich jetzt töten wird. Er will mich loswerden. Leb wohl, Daddy. Ich hab dich lieb, Daddy.‹«
Barrotts Stimme hallte durch die Garage, als er mit lauter Stimme fortfuhr: »Und dann hat sie geschrien: ›Nein, bitte nicht …‹ Er hat sie gewürgt. Er hat sie gewürgt, Carolyn. Wir konnten sie nicht retten. Wo ist Ihr Bruder, Carolyn? Ich weiß, dass Sie es wissen. Wo ist dieser verdammte Mörder? Sagen Sie es mir endlich. Wo ist er?«