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Am Montagmorgen machte ich mich mit dem Zettel, den Mack in das Kollektekörbchen geschmuggelt hatte, auf den Weg zum Büro des Bezirksstaatsanwalts im unteren Manhattan. Draußen war es schön, sonnig und warm, mit einer sanften Brise, die Art von Wetter, die man sich eigentlich für Muttertag gewünscht hätte anstelle des kalten, nassen Tages, der jede Hoffnung auf gesellige Aktivitäten unter freiem Himmel zunichte gemacht hatte.
Mom, Onkel Dev und ich waren am Sonntagabend zusammen essen gegangen. Natürlich hatte uns Macks Nachricht, die Onkel Dev uns überreichte, in ungeheure Aufregung versetzt. Mom konnte sich zunächst gar nicht darüber beruhigen, dass Mack sich anscheinend so nahe bei uns befunden hatte. Sie war immer davon überzeugt gewesen, dass er weit weg sein müsse, in Colorado oder in Kalifornien. Dann hatte sich aber die Angst bei ihr eingeschlichen, er könnte durch meine Ankündigung, ihn aufspüren zu wollen, in eine bedrohliche Lage geraten sein.
Ich selbst wusste zunächst nicht, was ich darüber denken sollte, doch mittlerweile hegte ich immer stärker die Vermutung, Mack müsse bis zum Hals in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken und bemühe sich, uns davon fernzuhalten.
Die Eingangshalle in dem Gebäude am Hogan Place 1 war voller Menschen, und die Sicherheitsvorkehrungen waren äußerst strikt. Obwohl ich mich angemessen ausweisen konnte, war es nicht möglich, ohne einen vereinbarten Termin an dem Wachbeamten vorbeizukommen. Während die Leute hinter mir in der Schlange allmählich unruhig wurden, versuchte ich ihm zu erklären, dass mein Bruder als verschwunden gemeldet sei und dass wir jetzt vielleicht einen Hinweis darauf bekommen hätten, wo wir mit der Suche nach ihm beginnen könnten.
»Ma’am, da müssen Sie zunächst die Vermisstenstelle anrufen und sich einen Termin geben lassen«, beharrte der Beamte. »Und jetzt bitte ich Sie – es gibt hier Leute, die nach oben wollen, um sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben.«
Frustriert verließ ich das Gebäude und holte mein Handy hervor. Huot war Richter am Zivilgericht gewesen, und ich hatte nie besonders viel mit den Assistenten der Bezirksstaatsanwaltschaft zu tun gehabt, doch einen von ihnen kannte ich, Matt Wilson. Ich rief das Büro der Staatsanwaltschaft an und wurde zu seinem Apparat durchgestellt. Matt befand sich nicht an seinem Schreibtisch, und es ertönte die übliche Ansage vom Anrufbeantworter. »Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und eine kurze Nachricht. Ich rufe Sie zurück.«
»Hier spricht Carolyn MacKenzie«, sagte ich. »Wir haben ein paarmal miteinander gesprochen. Ich war Assistentin von Richter Huot. Mein Bruder ist seit zehn Jahren verschwunden. Er hat gestern einen Zettel mit einer Nachricht für mich in einer Kirche an der Amsterdam Avenue hinterlassen. Ich will versuchen, ihn ausfindig zu machen, bevor er wieder ganz verschwindet, und brauche dazu Ihre Hilfe.« Danach hinterließ ich noch meine Handynummer.
Ich stand auf den Eingangsstufen. Ein Mann kam von hinten an mir vorbei, breitschultrig, Mitte fünfzig, mit kurz geschnittenen grauen Haaren und energisch ausschreitendem Gang. Er musste meine Nachricht mitbekommen haben, denn zu meiner Verwunderung blieb er stehen und drehte sich um. Wir musterten uns einen Augenblick gegenseitig, dann sagte er abrupt: »Ich bin Detective Barrott. Kommen Sie mit mir nach oben.«
Fünf Minuten später saß ich in einem schäbigen kleinen Büro, das einen Schreibtisch, einige Stühle und zahlreiche Aktenstapel enthielt. »Hier können wir uns ungestört unterhalten«, sagte er. »Im großen Raum ist es zu laut.«
Er sah mich die ganze Zeit unverwandt an, während ich ihm über Mack berichtete, unterbrach mich nur, um mir ein paar Fragen zu stellen. »Er ruft immer nur an Muttertag an?«
»Ja, das ist richtig.«
»Hat er nie um Geld gebeten?«
»Nein, nie.« Ich hatte den Zettel in eine Plastiktüte gelegt. »Ich weiß nicht, vielleicht sind Fingerabdrücke von ihm darauf«, erklärte ich. »Es sei denn, er hat jemand anderen beauftragt, den Zettel in das Körbchen zu legen. Dass er das Risiko eingegangen wäre, Onkel Dev könnte ihn vom Altar aus erkennen, erscheint einem doch ziemlich unwahrscheinlich.«
»Kommt drauf an. Vielleicht hat er sich die Haare gefärbt, vielleicht wiegt er zehn Kilo mehr, oder er trägt eine Sonnenbrille. Es ist nicht so schwierig, sich in einer Menschenmenge zu verstecken, besonders wenn die Leute Regenkleidung tragen.«
Er musterte den Zettel. Die Schrift war deutlich durch die Plastikfolie zu sehen. »Haben wir Fingerabdrücke Ihres Bruders in unseren Akten?«
»Ich bin mir nicht sicher. Als wir ihn damals als vermisst gemeldet haben, hatte unsere Haushälterin sein Zimmer zu Hause abgestaubt und gestaubsaugt. Er hat mit zwei Freunden in einer Studentenwohnung gewohnt, und wie bei solchen Verhältnissen üblich, gingen täglich mindestens ein Dutzend andere Leute in der Wohnung ein und aus. Sein Auto wurde gewaschen und gereinigt, nachdem er es zuletzt benutzt hat.«
Barrott gab mir den Zettel zurück. »Wir könnten diesen Zettel auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, aber ich kann Ihnen gleich sagen, dass nichts dabei herauskommen wird. Sie und Ihre Mutter haben ihn in der Hand gehabt. Außerdem Ihr Onkel, der Pfarrer. Dann noch der Gottesdiensthelfer, der ihn zu Ihrem Onkel gebracht hat. Und ich vermute, dass mindestens noch ein weiterer Gottesdiensthelfer beim Zählen der Kollekte geholfen hat.«
Weil ich das Gefühl hatte, ihm noch mehr bieten zu müssen, sagte ich: »Ich bin Macks einzige Schwester. Meine Eltern und ich haben uns bei einem Labor für DNS-Verwandtschaftstests registrieren lassen. Doch da wir bis jetzt nichts von ihnen gehört haben, nehme ich an, dass sie niemanden gefunden haben, bei dem wenigstens eine teilweise Übereinstimmung bestand.«
»Ms. MacKenzie, so, wie Sie mir das geschildert haben, hatte Ihr Bruder nicht den geringsten Grund, aus eigenem Entschluss und freiwillig zu verschwinden. Wenn es aber doch so gewesen ist, muss es einen Grund gegeben haben, muss es ihn immer noch geben. Vielleicht haben Sie schon mal einige dieser Sendungen über Verbrechen im Fernsehen gesehen, daher haben Sie vielleicht gehört, dass der Grund, weshalb Leute einfach verschwinden, in den allermeisten Fällen eine Anhäufung von Problemen ist, die mit Liebe oder Geld zusammenhängen. Der verratene Liebhaber, der eifersüchtige Ehemann, die lästig gewordene Ehefrau, der Drogenabhängige, der sich seinen Stoff besorgen muss. Sie müssen Ihre gesamten bisherigen Kenntnisse und Ansichten über Ihren Bruder noch einmal überprüfen. Er war einundzwanzig Jahre alt. Sie sagen, er sei bei den Mädchen beliebt gewesen. Gab es eine spezielle Freundin?«
»Keine, von denen uns seine Freunde erzählt hätten. Jedenfalls hat sich nie jemand bei uns gemeldet.«
»In diesem Alter versuchen viele junge Männer, mit Glücksspiel zu Geld zu kommen. Noch mehr experimentieren mit Drogen herum und werden abhängig. Nehmen wir mal an, er hatte Schulden. Wie hätten Ihre Eltern darauf reagiert?«
Ich merkte, dass ich nur ungern auf diese Frage antwortete. Doch dann sagte ich mir, dass ohne Zweifel solche Fragen schon vor zehn Jahren meinen Eltern gestellt worden waren. Ich überlegte, ob sie wohl ausweichend geantwortet hatten. »Mein Vater wäre wütend darüber gewesen«, gab ich zu. »Für Leute, die ihr Geld verschleudern, hatte er nur Verachtung übrig. Meine Mutter verfügt über ein eigenes Einkommen aus einer Erbschaft. Wäre Mack in Geldnot gewesen, hätte er es von ihr kriegen können, und sie hätte meinem Vater nichts davon erzählt.«
»Na schön. Ms. MacKenzie, ich werde jetzt vollkommen aufrichtig zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, daher können wir auch nicht das Verschwinden Ihres Bruders als Verbrechen behandeln. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Menschen Tag für Tag aus ihrem Leben aussteigen. Sie stehen unter Stress. Sie werden mit ihren Problemen nicht mehr fertig, oder noch schlimmer, sie versuchen gar nicht mehr, damit fertig zu werden. Ihr Bruder ruft regelmäßig an …«
»Ein Mal im Jahr«, unterbrach ich.
»Auch das ist regelmäßig. Sie teilen ihm mit, dass Sie ihn aufspüren wollen, und er reagiert sofort darauf. ›Lass mich in Ruhe‹ ist seine Botschaft. Ich weiß, es klingt ein bisschen hart, aber Sie sollten einfach einsehen, dass Mack offenbar dort ist, wo er sein will, und dass die einzige Verbindung, die er mit Ihnen und Ihrer Mutter aufrechterhalten will, dieser Anruf an Muttertag ist. Tun Sie sich allen dreien einen Gefallen: Respektieren Sie seinen Wunsch.«
Er stand auf. Offensichtlich war das Gespräch beendet. Offensichtlich sollte ich die wertvolle Zeit der Polizei nicht noch länger in Anspruch nehmen. Ich nahm den Zettel wieder an mich, und dabei fiel mir die Botschaft von neuem ins Auge: »ONKEL DEVON, SAG CAROLYN, SIE SOLL NICHT NACH MIR SUCHEN.«
»Ich danke Ihnen für Ihre … Aufrichtigkeit, Detective Barrott«, sagte ich, im letzten Moment das Wort »Hilfe« unterdrückend. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir in irgendeiner Weise weitergeholfen hatte. »Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht weiter belästigen werde.«