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Detective Roy Barrotts Schicht endete an diesem Montagnachmittag um vier Uhr. Der Arbeitstag war relativ zäh verlaufen, und um drei Uhr stellte er fest, dass es nichts mehr gab, was er noch unbedingt hätte erledigen müssen. Doch eine unbestimmte Unzufriedenheit ließ ihm keine Ruhe. Als würde er mit der Zunge nach einer wunden Stelle in seinem Mund forschen, ging er in Gedanken immer wieder den Tag durch und suchte nach der Quelle für sein Unbehagen.
Als er sich an das Gespräch mit Carolyn MacKenzie erinnerte, wusste er, dass er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Der Ausdruck von Bestürzung und Unmut auf ihrem Gesicht, als sie ihn verließ, bereitete ihm im Nachhinein ein schlechtes Gewissen. Sie machte sich verzweifelte Sorgen um ihren Bruder und hatte gehofft, dass jener Zettel, der bei der Kollekte gefunden worden war, sie bei ihrer Suche nach ihm einen Schritt weiterbringen könnte. Obwohl sie das nicht ausdrücklich gesagt hatte, schien sie doch deutlich davon überzeugt zu sein, dass er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte.
Ich habe sie abgewimmelt, dachte Barrott. Als sie gegangen ist, hat sie gesagt, sie werde mich nicht weiter belästigen. Das war das Wort, das sie benutzt hat: belästigen.
Während er sich nun in seinem Stuhl inmitten des voll besetzten Dezernatbüros zurücklehnte, versuchte Barrott, die Geräusche der ständig klingelnden Telefone auszublenden. Dann zuckte er die Achseln. Was soll’s, vielleicht sollte ich einfach mal einen Blick in die Akte werfen, dachte er. Und sei es auch nur, um mich zu überzeugen, dass es sich um nichts anderes handelt als um einen Typen, der eine Zeit lang abtauchen will, ein Typ, der eines schönen Tages vielleicht als frischgebackener Dr. phil. wieder auftauchen wird, und bei der feierlichen Familienzusammenführung vergießen dann Mutter und Tochter das ein oder andere Tränchen.
Mit einem leisen Stöhnen wegen einer beginnenden Arthritis im Knie erhob er sich, begab sich ins Archiv, ließ sich die Akte MacKenzie aushändigen, kehrte damit zurück an seinen Schreibtisch und schlug sie auf. Neben dem Stapel von offiziellen Berichten und den Aussagen der Familie und der Freunde von Charles MacKenzie jr. fand sich darin ein großer Umschlag mit Fotos. Barrott zog sie hervor und breitete sie vor sich auf der Tischplatte aus.
Eine der Aufnahmen fiel ihm sofort ins Auge. Es war eine Weihnachtskarte, die die Familie MacKenzie zeigte, aufgereiht vor ihrem Weihnachtsbaum. Sie erinnerte Barrott an die Weihnachtskarte, die er selbst im Dezember verschickt hatte und auf der er ebenfalls mit seiner Frau Beth und den Kindern Melissa und Rick vor ihrem Christbaum abgebildet war. Ein Exemplar dieser Grußkarte musste immer noch irgendwo in seinem Schreibtisch liegen.
Die MacKenzies haben sich viel mehr herausgeputzt für ihr Foto als wir, dachte Barrott. Vater und Sohn trugen Smoking, Mutter und Tochter Abendkleider. Doch die allgemeine Ausstrahlung war die gleiche. Eine lächelnde, glückliche Familie, die ihren Freunden ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünschte. Es musste die letzte Karte gewesen sein, die sie vor dem Verschwinden ihres Sohnes verschickt hatten.
Mittlerweile war Charles MacKenzie jr. seit zehn Jahren verschwunden, und Charles MacKenzie sen. war seit dem 11. September tot.
Barrott kramte eine Weile zwischen den persönlichen Papieren in seinem Schreibtisch herum und zog schließlich die Grußkarte seiner Familie hervor. Er stützte beide Ellbogen auf dem Tisch auf und hielt die beiden Karten nebeneinander, um sie zu vergleichen. Ich habe wirklich Glück, dachte er. Rick hat gerade sein erstes Jahr in Fordham mit Auszeichnung hinter sich gebracht, und Melissa, ebenfalls eine Einserschülerin, beendet gerade das vorletzte Jahr an der Cathedral Highschool und geht heute Abend auf einen Schülerball. Beth und ich sind geradezu mit Glück gesegnet.
Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf. Was wäre, wenn mir bei der Arbeit etwas zustieße, und Rick würde eines Tages spurlos aus seinem Wohnheim verschwinden? Wenn ich nicht mehr da wäre, um ihn aufzuspüren?
Rick würde das seiner Mutter und Schwester niemals antun, dachte er, das war einfach unvorstellbar.
Doch genau das war es, was mir Carolyn MacKenzie in Bezug auf ihren Bruder zu verstehen geben wollte.
Langsam klappte Barrott die Akte Charles MacKenzie jr. zu und ließ sie in die oberste Schublade seines Schreibtischs gleiten. Ich werde sie mir morgen durchsehen, beschloss er, und vielleicht werde ich ein paar von den Leuten aufsuchen, die damals ausgesagt haben. Es kann nicht schaden, ihnen ein paar Fragen zu stellen und zu überprüfen, ob sich ihr Erinnerungsvermögen in der Zwischenzeit vielleicht verbessert hat.
Es war jetzt vier Uhr. Zeit abzuhauen. Er wollte rechtzeitig zu Hause sein, um ein paar Fotos von Melissa in ihrem Ballkleid zu machen, zusammen mit ihrem Freund Jason Kelly. Ein ziemlich netter Bursche, dachte Barrott, aber so dünn, dass man Angst bekommt, er könnte beim geringsten Windstoß fortgeweht werden. Ich würde auch gern noch ein Wörtchen mit dem Taxifahrer reden, der die Kinder hinfahren wird. Einen Blick auf seine Lizenz werfen und ihm einschärfen, dass er unter keinen Umständen die Geschwindigkeitsbeschränkungen überschreitet. Er erhob sich und zog sein Sakko an.
Man kann noch so viele Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um seine Kinder zu schützen, dachte Barrott, während er den Kollegen einen Abschiedsgruß zurief und das Dezernatsbüro verließ, aber manchmal, egal, was man alles bedacht hat, geht eben doch etwas schief, und ein Kind wird in einen Unfall verwickelt oder Opfer eines Verbrechens.
Bitte, lieber Gott, betete er und drückte den Knopf für den Aufzug, lass nicht zu, dass uns so etwas zustößt.