1925–1961
»Vofluicht no amol!«, machte sich Hermann mit lauter Stimme Luft. »Vofluichtes Scheisszoig!«
Ihm war der Korb umgefallen, den er für einen Bauern zum Markt transportieren sollte, und Graukäse-Laibe in den verschiedensten Formen waren über den Boden gerollt.
Weder ›Maledizione!‹ noch ›Caspita!‹ hatte er geflucht, wie es die nun geltenden faschistischen Gesetze, nach denen in der Öffentlichkeit nur noch die italienische Sprache verwendet werden sollte, eigentlich vorschrieben. Und erst recht nicht ›Ostia!‹ (Hostie), was zwar nicht illegal, weil italischer Herkunft, aber Gotteslästerung gewesen wäre. Nein, auf Deutsch hatte er geflucht. Oder genauer, im Dialekt. Nun kam aber gerade ein Beamter des Katasteramtes vorüber, hörte Hermann und fühlte sich aufgefordert, die römische Kultur Südtirols oder besser des Alto Adige zu verteidigen, schlug ihm mit der tintenbefleckten flachen Hand mitten ins Gesicht und riss ihm die blaue Arbeitsschürze, den Tiroler Bauernschurz, vom Leib.
Kein Deutsch in der Öffentlichkeit, keine Tiroler Trachten, keine Dirndl oder Lederhosen: Alles, was daran hätte zweifeln lassen können, dass der heilige italische Boden bis zum Brenner, der neuen Staatsgrenze, reichte, musste verschwinden. So bestimmten es die Gesetze des faschistischen Italien. Und keiner der Bauern und Knechte auf dem Markt hob den Blick oder sprang Hermann gar bei.
Doch trotz der Ohrfeige und der Demütigung, oder vielleicht auch gerade deswegen, sah man nicht lange darauf an Hermanns Hemdkragen das cimice, Wanze, genannte faschistische Parteiabzeichen mit dem Rutenbündel blitzen, was man im örtlichen Parteibüro mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Er bekam eine Arbeit, lernte Lastwagenfahren und war nun für den Holztransport zwischen den Tälern zuständig. Und dabei drückte man auch ein Auge zu, wenn er sich mit den Waldarbeitern auf Deutsch unterhielt. Denn so weit oben, zwischen den gottverlassenen Felswänden und Steilhängen, würde sie noch nicht einmal der Duce hören können.
Einige Jahre waren vergangen, als Hermann eines Tages auf der Hauptstraße der Provinzstadt eine Schar Goldfasane erblickte: So nannte man die von der SA. Ihre Blicke waren scharf wie Klingen, darauf ausgerichtet, alles, was ihnen beim Aufbau des glorreichen Tausendjährigen Reiches im Weg war, niederzustrecken. Wie sie da entlangmarschierten in ihren tadellosen Uniformen, aufrecht, arisch, grenzenlos deutsch, fand Hermann sie so schön wie Halbgötter.
Und er beschloss, einer von ihnen zu werden.
Vielleicht verlor Hermann den Rest von Liebe eben in dem Moment, da er sich vormachte, sie gefunden zu haben, genauer, als er Johanna sah, ein achtzehnjähriges Mädchen mit schwarzen Haaren, blass und dünn, das nie den Mund aufmachte und mit gesenkten Kopf herumlief, so als wünsche sie nur, dass die Welt keine Notiz von ihr nahm. Mit einer Frau zu leben, die sich mit jeder Geste für ihr bloßes Dasein zu entschuldigen schien, würde ihn vielleicht die Scham und Ohnmacht seiner Jugend, seine Wut und Einsamkeit vergessen lassen: Das spürte Hermann, auch wenn er es natürlich so nicht hätte sagen können. Obwohl er dieses Mädchen nicht liebte, hielt er um ihre Hand an. Johanna ihrerseits erkannte sogleich die Kälte in seinen hellen Augen. Allerdings glaubte sie auch, dort die Spuren einer verschütteten Zärtlichkeit zu entdecken, und machte sich vor, dass in diesem groß gewachsenen Mann mit dem hölzernen Gang eine nur ihr zugedachte tiefere Leidenschaft steckte. Das stimmte jedoch nicht, vielleicht hätte es so sein können, aber so war es nicht. Jedenfalls heiratete sie ihn.
Ihr erstes Kind, Peter, kam mit dem verschlossenen Charakter seines Vaters und den dunklen Augen seiner Mutter zur Welt. Er war drei Jahre alt, als Hermann ihn sich auf die knöchernen Schultern setzte und sich mit ihm unter die Menschenmenge mischte, die sich an einer Kreuzung der Staatsstraße zusammendrängte. Dort oben kam sich der Junge groß und bedeutend vor, fast so wichtig wie der Kronprinz Umberto, der als Ehrengast zur Denkmaleinweihung gekommen war. Dieses Monument zu Ehren der italienischen Gebirgsjäger, der Alpini, war vom Bürgermeister vehement gefordert worden. Noch war die Statue mit einem weißen Tuch umhüllt, das der Sommerwind wie mit gewaltigen Atemzügen hob und senkte: Peter kam sie wie ein riesengroßes Gespenst vor, nicht menschlich, aber doch lebendig, pulsierend. Nach den offiziellen Ansprachen und musikalischen Darbietungen der Kapelle glitt das Tuch mit einem lauten Rascheln wie von einem Tier in ektoplasmatischen Schlängelbewegungen an der Figur hinab zu Boden. Und was nun zum Vorschein kam, hatte gar nichts Verschwommenes mehr, war härtestes, fast dumpf wirkendes Material.
Ein Granit-Alpino mit gedrungenem Hals und italisch stämmigen Beinen blickte trotzig gen Norden, auf die vergletscherten Berge, wo seit nun schon zwanzig Jahren die neue Grenze verlief. Sein nicht eben feinsinnig wirkender Gesichtsausdruck symbolisierte die blinde, unerbittliche Gewalt, die das faschistische Italien gegen jeden entfesseln würde, der immer noch glaubte, dass Alto Adige nicht zu Rom gehöre. Diese Klarstellung war durchaus nicht überflüssig. Und das nicht nur, weil viele, gar zu viele Südtiroler immer noch nicht bereit waren, ihre römische Abstammung anzuerkennen. Nein, es gab auch noch einen aktuelleren Grund: Nur drei Monate zuvor war Hitler in Wien eingezogen und hatte den Anschluss Österreichs an sein Drittes Reich proklamiert. Und Österreich, das verlorene Mutterland, lag ja gleich dort drüben, jenseits der Gletscher.
Doch hier, so tat es dieser steinerne Alpino auf seinem Sockel kund, und so verkündeten es auch alle hohen Herren, die sich zu dem Anlass eingefunden hatten, hier war man in Italien.
Mussolini hatte eine feinmaschige Italianisierung Südtirols begonnen, wobei ihm aber bald schon klar geworden war, dass es, um diese Gegend »urrömisch, südländisch, imperial« werden zu lassen, nicht ausreichte, den Bauern zu verbieten, Deutsch zu sprechen oder ihre landestypischen Trachten zu tragen. Und es reichte auch nicht aus, die Schüler in der Schule statt ihrer Muttersprache das Gedicht vom Pio bove, dem ›frommen Ochsen‹, lernen zu lassen. Die armen jungen Lehrerinnen aus Caserta, Agrigento oder Rovigo, die man in den hohen Norden geschickt hatte, verzweifelten immer wieder an ihrer undankbaren Aufgabe, diese jungen Bauerntölpel die musikalischen Klänge der italienischen Sprache hervorbringen zu lassen. Außerdem gab es in ganz Südtirol mutige Lehrkräfte, die in den sogenannten »Katakombenschulen« trotz Verbot heimlich weiter Deutsch unterrichteten. Es hatte auch nicht viel genutzt, alle Ortsnamen zu italianisieren. Jetzt schauten die Menschen eben auf die Kirchtürme und sahen so, wo sie waren: War es ein Zwiebelturm, wussten sie, dass Völs vor ihnen lag, war der Turm spitz, befanden sie sich in Blumau. Und Fiè, Prato Isarco und all die anderen Namen, die sich Ettore Tolomei in Mussolinis Auftrag hatte einfallen lassen, wurden außer von den Ämtern von niemandem verwendet.
Nein, wollte man dieses wunderschöne Land mit den hohen Bergen tatsächlich romanisieren, gab es nur eine Lösung: Allein Italiener durften dort noch leben. Und dazu reichte es nicht aus, wie bisher den Zustrom von Einwanderern aus anderen italienischen Regionen anzukurbeln und zu fördern, in der Hoffnung, dass die deutschsprachigen Südtiroler auf diese Weise mit der Zeit immer mehr zur Minderheit in ihrem eigenen Land würden. Nein, sie mussten wirklich fortziehen.
Hitler griff die Idee begeistert auf. Schließlich zählte es zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, Völker zu »säubern«, indem er große Menschenmengen auf der Landkarte hin und her schob (oder vernichten ließ). Und so versprach er Mussolini, alle Südtiroler, die weiterhin deutsch bleiben wollten, würden in Großdeutschland als Brüder reinster arischer Abstammung mit offenen Armen empfangen. Jeder würde einen neuen Hof von der Größe des südlich des Brenners zurückgelassenen erhalten, Wiesen und Weiden von der gleichen Ausdehnung sowie Kühe nicht nur in der gleichen Anzahl, sondern, so behauptete die Propaganda, auch mit einem Fell in den gleichen Farben wie die Tiere, die in den Ställen ihrer Vorfahren zurückbleiben würden. Sudetenland, Galizien, Steiermark und sogar Burgund, weiter noch die endlosen Gebiete, die man den dort ansässigen slawischen Völkern abnehmen würde: die Tatra in Polen, die weite Puszta in Ungarn, bald schon auch die fruchtbare Krim. Wer Südtirol verlasse, werde fette Böden vorfinden, die nur darauf warteten, von männlich-deutscher Arbeitskraft kultiviert und so zu einem Paradies auf Erden zu werden.
Mussolini seinerseits drohte den »Dableibern«, wie sie genannt wurden, mit gewaltsamer Italianisierung: dem absoluten Verbot, Deutsch zu sprechen, selbst in den eigenen vier Wänden. Er kündigte Massendeportationen aller Südtiroler an, die sich weigerten, die italienischen, oder genauer »Römischen« (wie es großgeschrieben in den Flugblättern hieß), Sitten und Gebräuche anzunehmen – Deportationen etwa nach Sizilien, um Feigenkakteen anzubauen, von denen kein Mensch wusste, was das für Früchte sein sollten. Die Alternative, vor die sie gestellt wurden, lautete nicht, zu gehen oder zu bleiben, sondern sich entweder zum Walschen oder zum Daitschen zu erklären, zum Italiener oder zum Deutschen. Auf italienischem Territorium deutsch zu bleiben war nicht möglich.
Fortziehen oder Dableiben wurde als freie Wahl hingestellt. Die Entscheidung zum Aufbruch aber, so verkündeten es die Flugblätter der Nationalsozialisten, würde belohnt werden als eindeutiger Beweis der Hingabe an die gewaltige Aufgabe, Großdeutschland zu schaffen. Wer seine Heimat liebe, müsse bereit sein, sie zu verlassen, um sie anderswo im Tausendjährigen Reich identisch wieder aufzubauen. Zu bleiben aber sei ein untrügliches Zeichen von Verrat, von Feigheit, von Ungehorsam gegenüber der nationalsozialistischen Idee.
So sah die Wahl aus oder genauer, die »Option«.
Kein Bauer ließ seinen Hof gern zurück, doch da sie sich als Daitsche fühlten, beschloss die große Mehrheit, sich auf den Weg zu machen. Sie »optierten«, wie es genannt wurde. Doch immer noch gab es zu viele Bauern, die sich Fragen stellten, flüsternd, abends im Schlafzimmer mit der Ehefrau: Würden sie die Weiden, die ihr Urgroßvater hundert Jahre zuvor mit Säge und Axt gerodet hatte, jemals wiedersehen? Und diese Gebiete, wo sie Kühe von der gleichen Farbe wie hier erwarteten, Höfe von der gleicher Ausdehnung, Bäume in derselben Anzahl, waren die eigentlich unbewohnt? Und wenn nicht, wohin würden dann die Bauern ziehen, die jetzt noch dort lebten?
Der Druck auf die »Dableiber« wurde zu organisierter Verfolgung, an der Hermann mit Feuereifer teilnahm. Mit dem Segen der faschistischen Parteileitung verkrüppelte er Zugpferde, tötete Wachhunde. Beschmierte mit seinen Exkrementen die Türpfosten jener Hofbesitzer, die nicht fortzuziehen gewillt waren. Wenn er sich danach in einem Bach die Hände wusch, fühlte er sich erfüllt von einer Kraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. In diesen Momenten waren die Scham und Verlassenheit des jungen Knechtes, der sich in der Eiseskälte vollgepinkelt hatte, fast vergessen.
Es gab da einen alten Bauern, der seit vielen Jahren Witwer und kinderlos geblieben war. Er hatte sich niemals weiter als ein paar Kilometer von der Stube entfernt, in der er geboren worden war und in der er auch jetzt noch lebte. Nicht einmal damals, während des Großen Krieges, denn er war auf einem Auge blind zur Welt gekommen und hatte nicht Soldat werden können. Zwei Kühe besaß er, Lissi und Lotte, die er nicht in andere Hände geben wollte: Denn sie waren sozusagen seine Familie. Kurzum, der alte Mann konnte sich nicht dazu durchringen, das Optionsformular zu unterzeichnen. Da trat Hermann in Aktion. Mit zwei Kameraden steckte er seinen Stall in Brand. Die ganze Nacht lief der alte Mann mit einem kleinen Wassereimer hin und her und versuchte, während ihm aus dem gesunden Auge die Tränen liefen, das Feuer zu löschen. Als würden zwei riesige Säuglinge schreien, so klang das Muhen von Lissi und Lotte, die in den Flammen gefangen waren. Sie verstummten erst, als das lodernde Stalldach auf sie hinabstürzte und sich in der Luft neben Rauch und Asche der Geruch von gegrilltem Steak ausbreitete. Da sank der Alte zu Boden und stand nie wieder auf.
Auch an der Aktion gegen Sepp Schwingshackl nahm Hermann teil. Sein früherer Schulkamerad war der gottlosen Faszination, die der Führer auf so viele seiner Landsleute ausübte, nie erlegen, und die ruhige Entschlossenheit, mit der er erklärt hatte, dass er seinen Hof nicht verlassen würde, machte ihn zu einem sehr gefährlichen »Dableiber«. Jedenfalls befahl der Gauleiter Hermann und noch zwei anderen, ihm einen Denkzettel zu verpassen – wie gesalzen er sein sollte, könnten sie selbst entscheiden. Und obwohl sie beide, Sepp und er, als Kinder jeden Morgen den Weg zur Schule gemeinsam zurückgelegt hatten und Sepp ihm jedes Mal, wenn ihm der Laster voll Holz liegengeblieben war, geholfen hatte, machte Hermann sich jetzt auf den Weg zu ihm.
Sepp überlebte den Überfall. Zurück blieben aber ein Zittern in den Händen, eine leichte Taubheit und eine weißliche Narbe auf der Stirn, die seine Augenbraue etwas hob zu einem Ausdruck des Erstaunens, als habe sich die Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass der alte Freund aus Kindertagen sein Gesicht mit Tritten bearbeitete, dort für immer eingegraben.
Eine jubelnde Menge begleitete den Aufbruch der ersten »Optanten«, jener Pioniere einer neuen Heimat. Hellblonde Kinder (ihrer Haarfarbe wegen ausgewählt) bekränzten die Köpfe der Aufbrechenden mit Margeritenkronen. Das Rot, Schwarz und Weiß der Hakenkreuzfahnen stach ab vor dem tiefen Blau des Himmels, dem Schneeweiß der Gletscher und dem herbstlichen Goldgelb der Lärchen: ein fantastisches Bild, wie alle betonten. Als Hermann Huber mit seiner Familie den Zug bestieg, war sein Sohn Peter vier Jahre alt, und seine Frau Johanna war mit der Tochter Annemarie schwanger. Wie es sich für einen wahren Nationalsozialisten geziemte, wollte Hermann ein Beispiel geben und gehörte zu den Ersten, die sich auf den Weg machten.
Und er war auch einer der Letzten. Einige Monate später trat Italien in den Krieg ein, und die Umsiedlung der Optanten wurde eingestellt, obwohl sich die meisten Südtiroler dafür entschieden hatten. Wer nun aufbrach, waren die jungen Männer, die man einberufen hatte, um an der Front zu kämpfen. Ein Paradies auf deutschem Boden, einen daitschn Himml, zu schaffen, daran dachte jetzt niemand mehr.
Als der Krieg aus war, kehrte die Familie Huber ins Tal zurück. Niemand, noch nicht einmal die »Dableiber«, waren neugierig zu erfahren, wo sie gewesen waren. An welcher Front Hermann gekämpft hatte, in welcher Division der Wehrmacht, ob er in die SS eingetreten war, ob er auch viele Zivilisten ermordet oder nur bewaffnete Gleichaltrige in Uniform getötet hatte, feindliche Soldaten, die umzubringen ja moralisch sauber war: Niemand fragte ihn danach. Und vor allen Dingen wollte niemand wissen, wie das denn nun mit dem Himmel auf Erden im Gelobten Land des Führers ausgesehen habe.
Auf dem Soldatenfriedhof in der Hauptstadt des Tales standen nun einfache Holzkreuze inmitten turmhoher Lärchen: ein kleiner Wald für die Toten, umgeben von einem größeren Wald mit echten Bäumen. Auf den Kreuzen das Datum und der Ort, wo sie gefallen waren. Genaue Angaben: Woroschilowgrad, Aletschenka, Jesowjetowska, Triest, Cassino, Pojablie, Vermuiza. Oder allgemeiner: Kaukasus, Finnland, Normandie, Montenegro. Hin und wieder war auch nur der Kontinent angegeben: Afrika. Oder die Himmelsrichtung: im Osten.
Viele Kreuze wurden mit Fotos versehen: untadelige junge Männer in gebügelten Uniformen, mit künstlichen Posen, der Blick bei fast keinem direkt geradeaus gerichtet, sondern eher in die Höhe oder zur Seite. Unmöglich zu sagen, ob der hier verewigte Ausdruck ihrer Augen zu ihrer Rolle bei dem erdumspannenden Gemetzel passte. Vielleicht hatte dieser verträumt dreinblickende achtzehnjährige Bursche eine schwangere Frau mit einer MG-Garbe niedergemäht. Vielleicht hatte dieser SS-Unterscharführer mit den eiskalten Augen sich einem Gefangenen gegenüber barmherzig gezeigt. Viele waren wohl beides gewesen: brutal und menschlich. Aber das wollte niemand mehr wissen. Es waren die Söhne, die Väter und Brüder derer, die jetzt die zerstörten Häuser wiederaufbauten. Niemand fragte danach, ob sie als bescheidene Helden, als Feiglinge oder als Peiniger gestorben waren.
»Optanten« und »Dableiber«, die Feinde von einst, fanden sich in dem Wunsch vereint, das, was vorgefallen war, nicht allzu genau zu benennen. Nazi, Kollaborateur, Denunziant, Kriegsverbrecher, Konzentrationslagerführer: Dies waren keine Bezeichnungen, sondern Blindgänger, um die herum man sich nur auf Zehenspitzen bewegen durfte, damit es nicht zur fürchterlichsten Explosion kam, der der Wahrheit. Zu hoch waren die Trümmerberge, die noch fortzuräumen waren, zu groß der Hunger, zu zahlreich die Toten, um die getrauert wurde. Selbst den granitenen Alpino mit seiner Miene dümmlicher Entschlossenheit hatten die Bomben der Alliierten vom Sockel geholt. Nein, es war sinnlos, zurückzuschauen und von irgendjemandem Rechenschaft zu verlangen. Auch von Hermann nicht.
Dies war die Abmachung, sie wurde nicht ausgesprochen, aber alle hielten sich daran.
In dem Haus, in dem die Familie Huber vor dem Krieg gelebt hatte, wohnte nun Alberto Ruotolo, ein Eisenbahner. Wie Tausende andere Einwanderer war auch er Mussolinis Aufforderung gefolgt und hatte sein Viertel Vomero in Neapel verlassen, um Südtirol zu italianisieren. Und auch der neue Staat, die Republik Italien, brauchte ihn sowie das gesamte faschistische Beamtentum weiterhin, um die Infrastruktur des Landes aufrechtzuerhalten. So kam es, dass aus den Fenstern des Hauses, in dem Hermann seinen ersten Sohn gezeugt hatte, nun nicht nur die Gerüche von Tomatensoße drangen, sondern auch eigenartige Laute, wenn Ruotolos beleibte Frau die Kinder zum Essen herbeirief und aus voller Kehle Salven endbetonter Worte abfeuerte: ›Pepè! Ueuè! Totò!‹, so klang ihr neapolitanischer Dialekt in den Ohren der Südtiroler.
Die Ruotolos blieben also in diesem Haus wohnen, und die Hubers hatten keine andere Wahl, als nach Schanghai zu ziehen. So nannte man, durchaus nicht wohlwollend gemeint, jene Ansammlung von Häusern an einem Hang im Schatten der mittelalterlichen Burg, die man jenen Familien zugewiesen hatte, welche nach dem Krieg zurückgekehrt waren, um wieder hier zu leben: »Rücksiedler«, dies war nun das schlimmste Schimpfwort, für die Hubers und die anderen heimgekehrten »Optanten«. Denn plötzlich schienen die Südtiroler vergessen zu haben, dass sie zur Zeit der Option fast alle bereit gewesen waren, nach Deutschland zu ziehen, und nur deshalb hier ausgeharrt hatten, weil der Krieg ausgebrochen war, und dass für die eigentlichen »Dableiber«, die sich gewehrt hatten, damals niemand eine Hand gerührt hatte. Aber die vielen, die auf dem orangefarbenen Formular das ›Ja‹ angekreuzt hatten, nannten nun die wenigen, die tatsächlich fortgezogen waren, »Heimatverräter«. Und für dieselben Leute, die bei der Verabschiedung von Hermanns Familie Hakenkreuzfahnen geschwenkt hatten, war er nun ein elender Schurke. Hermann nahm es hin, aber der dumpfe Druck, der ihm die Brust einschnürte, seit er sich damals als elfjähriges Waisenkind vollgepinkelt hatte, wurde nun noch stärker.
Schanghai lag über einen Kilometer vom nächsten Laden entfernt und fast zwei vom Zentrum der Kleinstadt, deren Einwohner darauf bedacht waren, die »Rücksiedler« auf Abstand zu halten. Es war eine Ansammlung niedriger Häuser, die mit einem grauen Gemisch aus Zement und Kies verputzt waren. Hinter dem Berg, der sie überragte, verschwand im September die Sonne; sie tauchte erst im Mai wieder auf. Bei Gewittern ergossen sich die Wassermassen von der Provinzstraße bis in die Häuser hinein, und selbst im Sommer wollte die Wäsche einfach nicht trocken werden. Wer in Schanghai wohnte, galt als arbeitsscheu, unzuverlässig und kommunistisch.
Ein anderer Name für Schanghai war »Hungerburg« oder auch »Revolverviertel«, weil Polizisten, Gebirgsjäger und Carabinieri kamen und gingen. Als man Gerda Jahre später häufig in Begleitung eines Italieners in Uniform sah, sagte so mancher:
»Kein Wunder, wenn man in Schanghai aufgewachsen ist …«
Peter war elf Jahre alt und hatte keinen Freund. Seine Kindheit hatte er anderswo verbracht und sprach deshalb mit einem seltsamen bayerischen Akzent, denn so weit fort waren die Hubers gar nicht gewesen. Nun aber erlaubte es keine Mutter ihrem Sohn, zum Spielen zu ihm zu gehen – nach Schanghai. Die Klassenkameraden quälten ihn, und wenn er sich beklagte, meinten sie nur: »Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja wieder gehen. Keiner hat euch gebeten zurückzukommen.« Seine Schwester Annemarie war schon alt genug, um bei der Hausarbeit zu helfen, Gerda war noch ein Säugling. Während der letzten Bombenangriffe in München war ihrer Mutter Johanna die Milch weggeblieben. Doch Gerda lernte früh, mit nicht einmal vier Monaten, Knödel zu verdauen, und überlebte. Schon da war klar zu erkennen, dass sie ihrer Mutter nicht ähnelte.
Johanna war noch nicht alt: so um die dreißig, denn sie hatte schon mit achtzehn geheiratet. Hässlich war sie nun auch nicht, aber sie schien sich zu schämen, überhaupt auf der Welt zu sein. Vielleicht war der Krieg daran schuld, vielleicht auch die Tatsache, dass ihr Mann seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit ihr sprach.
»Ostfront«, knurrte Hermann nur, wenn er doch einmal gefragt wurde, wo er gekämpft habe, und fügte kein Wort mehr hinzu.
Gerda wuchs heran; Peter und Annemarie hatten die dunklen Augen ihrer Mutter geerbt, während die ihren hellblau und länglich wie die ihres Vaters waren, und sie hatte hohe, majestätisch wirkende Wangenknochen. Johanna hingegen wurde von Tag zu Tag krummer und sah doppelt so alt aus, wie sie tatsächlich war. Als stünde diesem Haus nur eine begrenzte Menge Lebenssaft zur Verfügung, und der sei nicht mehr der Mutter zugedacht, sondern allein noch der jüngsten Tochter. Und zu Gerda strömte er mit aller Macht.
Peter begann, immer mehr Zeit allein im Wald zu verbringen. Jeder seiner Schritte auf dem dicken Humusboden, den Milliarden von Lärchennadeln in Jahrtausenden aufgeschichtet hatten, hallte von den metertief abfallenden kahlen Felsen wie von einer Trommel wider. Diese sanften Schläge, während er mit geschärften Sinnen und mit der Steinschleuder in der Hand durch den Wald lief, waren für ihn der schönste Klang auf Erden. Hier fühlte er sich zu Hause, und Eichhörnchen und Füchse, Marder, Auerhähne und Elstern sah er als seine Gefährten. Natürlich lernte er sie zu töten, aber zunächst lernte er, sie geduldig zu beobachten, stundenlang darauf zu lauern, dass sie sich zeigten. Er war ein hervorragender Schütze, und bald schon konnte er sich mit dem Geld, das ihm der Hutmacher für Felle und Federn zahlte, sein erstes Gewehr kaufen.
Obwohl sie damals noch sehr klein war, erinnerte sich Gerda ihr Leben lang an den Tag, als Peter seinen ersten Hirsch nach Hause brachte. Er hatte ihn sich auf die Schultern geladen und trug ihn um den Hals, indem er mit den Händen fast zärtlich seine Hufe hielt. Der Kopf des Hirsches aber baumelte an Peters Rücken hin und her, das Maul geöffnet, aus dem die Zunge heraushing: eine blutige Version des Guten Hirten. Gerda war fasziniert von dem Kontrast zwischen der bereits leblosen Materie der trüben Augen und dem sich noch so weich anfühlenden Fell. Lange Zeit wurde sie den süßlichen Geruch des Blutes nicht mehr los, der ihr in die Nase gestiegen war, als Peter den Hirsch häutete, und auch nicht den von Tierfett und -nerven aus dem größten Topf, den Johanna besaß, über dessen Rand das lange elegante Geweih hervorschaute. Hätte Gerda nicht zuvor mit eigenen Augen gesehen, wie Peter mit einem sauberen Schnitt den Kopf des Tieres vom Rumpf trennte, hätte sie fast glauben können, der ganze Hirsch spiele noch Verstecken in einem Topf, dessen Fassungsvermögen irgendein Zauber erweitert hatte.
Jedenfalls wurde der Schädel gekocht und sorgfältig entfleischt, denn Peter war sicher, einen ordentlichen Preis zu erzielen, wenn er ihn als Trophäe verkaufte.
Bevor die Optanten aufgebrochen waren, hatten sie auf die italienische Staatsbürgerschaft verzichtet, und nun fanden sich die »Rücksiedler« als Staatenlose wieder. Ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Respekt war die erste Zeit für die Familie Huber wie für die anderen Bewohner Schanghais besonders hart. Die Mutter des Zahnarztes im Städtchen, eine Baronin, bot Johanna eine Stelle als Bedienstete in ihrem Haus an, aber davon wollte Hermann nichts wissen: Solange er lebte, würde seine Frau nicht arbeiten gehen. Damit war es an Peter, die Familienkasse aufzubessern, der mit zwölf Jahren eine Stelle im Sägewerk antrat. Als Annemarie damit anfing, die Treppe in der Schule zu putzen, war sie gerade mal zehn und damit jünger als die Schüler der letzten Klassen. Doch die Mühen waren nicht umsonst: Nachdem Hermann einige Jahre lang für andere Lastwagen gefahren war, hatte er genug zur Seite gelegt, um einen eigenen anzahlen zu können.
Drei Jahre waren seit dem Kriegsende vergangen, als die italienische Regierung mit einem gnädigen Federstrich alle Folgen der Option tilgte und die Rücksiedler, die es wünschten, wieder ihre italienische Staatsbürgerschaft erhielten. Der Hermann früherer Zeiten hätte sich niemals die Erleichterung vorstellen können, die er an jenem Tag empfand, als man ihm die Papiere aushändigte, die ihn und seine Familie erneut zu italienischen Staatsbürgern machten.
Nun gehörte auch Schanghai zum mittlerweile republikanischen Staat Italien.
Als Gerda acht war, übernahm sie von der Mutter die Aufgabe, den Motor von Hermanns Lastwagen anzuwärmen. Nachts um drei stand sie auf, warf sich, ohne sich auch nur kurz das Gesicht zu waschen, den Mantel über und trat, zur dunkelsten Stunde, in die eisige Winternacht hinaus. Die Unterbrechung des Schlafes war aber noch schmerzhafter als die Kälte, die sie jetzt wie ein Schlag ins noch verschlafene Gesicht traf. Hermann konnte seinen Laster nachts nirgendwo unterstellen. Bevor man am Morgen den Motor anlassen konnte, musste man zunächst die eingefrorene Anlasserkurbel vorn an der Schnauze freibekommen. Mit Händen, rauer als die einer Wäscherin, entfachte Gerda aus Papier und Sägespänen mit so wenigen Streichhölzern wie möglich ein kleines Feuer unter dem Motorblock. In der klirrenden Kälte hockte sie auf allen vieren neben dem Wagen und hielt das Feuer in Gang, indem sie mit einer kleinen Metallschaufel das Brennmaterial ringförmig verteilte. Ein Fehler hätte das Ende bedeuten können, denn bei zu hohen Flammen wäre der Tank explodiert und der ganze Laster in die Luft geflogen – und sie mit ihm. Hatte sich die Anlasserkurbel ein wenig erwärmt und das gefrorene Kondenswasser, das sie blockiert hatte, wieder verflüssigt, kehrte Gerda ins Haus zurück, nahm eine Tasse Kaffee, den ihre Mutter unterdessen auf dem mit Holz gefeuerten Küchenherd gekocht hatte, trat ans Bett ihres Vaters und weckte ihn. Wenn Hermann den Laster bestieg und den Motor anließ, war es für Gerda schon Zeit, sich für die Schule fertig zu machen.
Eines Morgens, es war noch dunkel, hielt Gerda ihrem Vater wie immer den Kaffee vor die Nase. Doch er wurde nicht gleich wach. Er träumte noch. Endlich öffnete er ein klein wenig die glanzlosen Augen.
»Mamme …«, murmelte er.
Seine Mutter war wieder da! Stand neben ihm, hatte ihm eine Tasse dampfender Milch ans Bett gebracht, so wie früher, wenn er als Kind krank war.
Gerda erschrak: Diesen unschuldigen, vertrauensvollen Blick hatte sie bei ihrem Vater noch nie gesehen.
»Tata … i bin’s. Die Gerda«, sagte sie.
Hermann blinzelte und schlug die Augen auf. Der gleiche Mund, die gleichen Wangenknochen, die gleichen Augen wie seine Mutter, aber es war nur seine Tochter. Da wurde er sich bewusst, wie er sie gerade genannt hatte, und konnte es ihr nie mehr verzeihen.
Im Sommer, wenn der Lkw-Motor nicht erwärmt werden musste, zog Gerda mit ihren Cousins zur Alm hinauf, um dort die Kühe von Onkel Hans zu hüten, dem älteren Bruder von Hermann, der den Hof geerbt hatte.
Die Alm lag einen halben Tagesmarsch vom Hof entfernt, zu weit, um jeden Abend heimkehren zu können, und so schliefen Gerda und ihre Vettern Michl und Simon, die ungefähr in ihrem Alter waren, sowie der kleine Sebastian, Wastl genannt, in einer Almhütte im Heu. Die Zeit vertrieben sie sich, indem sie sich den Bauch mit Heidelbeeren vollschlugen, sich mit Ginsterbeeren bespuckten, Zweige schnitzten oder einander jene Körperteile zeigten, die bei ihnen unterschiedlich waren. Nur im äußersten Notfall rannten sie den Kühen nach, die sich entfernt hatten. Wenn es regnete, oder noch besser, wenn es donnerte, schlüpften sie tief ins warme Heu und erzählten sich Schauergeschichten, die meistens von bösen Berggeistern handelten. Dreimal die Woche brachte Hans’ Frau Schüttelbrot, Speck und Käse vorbei.
Gerda war die Einzige, die bei den
Kühen immer ohne Stock auskam, denn folgsam wie gigantische
Hündchen liefen ihr die Tiere freiwillig nach. Auch die Vettern
wären Gerda überallhin gefolgt. Wenn Simon und Michl viele
Jahrzehnte später an diese Nächte zurückdachten, mit Gerda im Heu,
während der kleine Wastl neben
ihnen schlief, ließ die Erinnerung an ihr blondes Schamhaar,
das ihr hochgerutschtes, abgetragenes Kleidchen enthüllte, ihnen
immer noch das Blut in die unteren Körperre-
gionen strömen.
Eines Morgens in solch einem Sommer kam ein englischer Bergsteiger, der sich verirrt hatte, des Weges und erblickte aus einiger Entfernung Gerda. Die Augen halb geschlossen, saß sie unter einer Zirbelkiefer und erzeugte mit einem Grashalm vor den Lippen Pfiffe so schrill und scharf wie Glas. Ihre schlammverkrusteten Füße und ihre nackten Beine schauten unter einem zerlumpten Baumwollkleidchen hervor, während ihr schmutziges Haar im Nacken mit einem schmalen, geflochtenen Lederband zusammengebunden war. Doch der Engländer sah die rosigen Wangen, die runde Stirn, den fleischigen Mund, die lang gezogenen hellblauen Augen und dachte, kein Zweifel, das ist das schönste kleine Mädchen, das ich je gesehen habe. Der Gedanke, weiterzugehen und sie niemals mehr wiederzusehen, schien ihm unerträglich. Lange betrachtete er sie, bevor er sich zu erkennen gab. Er vergaß die Tour, die er gehen wollte, und blieb den ganzen Tag bei Gerda und ihren Vettern auf der Alm.
Er teilte mit ihnen den Proviant, den er im Rucksack dabeihatte, und als er Gerda lachen hörte, beschloss er, alles zu tun, um diesen Klang länger zu hören. Seinen Wanderstock schwingend, rannte er den Kühen nach und bellte dabei wie ein Hütehund, hängte sich eine Kuhglocke um den Hals und begann wie eine Kuh zu weiden, kaute lange und schluckte dann tatsächlich das Gras hinunter. Und Gerda lachte und freute sich. Dann machte er die englische Königin Elizabeth nach, schritt wie sie einher, mit einer Krone aus Margeriten auf dem Kopf, mit der er Gerda krönte und sie zur einzig würdigen Herrscherin erklärte. Als es für den Engländer schließlich Zeit wurde, sich auf den Rückweg zu machen, bat er sie ehrerbietig um Erlaubnis, ein Foto von ihr machen zu dürfen. Am Ende des Sommers wurde Gerda von Hans’ Frau ein an sie persönlich adressierter Briefumschlag ausgehändigt. Absender: John Gallagher, Leeds, United Kingdom. Er enthielt ein Foto der zehnjährigen Gerda, das Eva viele Jahre später in ihrem Bücherregal aufstellen würde. Auf der Rückseite in einer Handschrift mit großen, spitzen Buchstaben: In eternal gratitude for the best day of my life. Forever yours, John.*
* »In ewiger Dankbarkeit für den schönsten Tag meines Lebens. Für immer, Dein John.«
Während eines solchen Sommers wurde das Alpinodenkmal wiederaufgebaut und ein neuer Gebirgsjäger daraufgesetzt, schlanker als der vorherige und mit einem nicht mehr ganz so trotzig-einfältigen Gesichtsausdruck wie zuvor. In seiner Rede anlässlich der feierlichen Einweihung erklärte der Militärbischof, dass dieser Soldat nun für die Aussöhnung der Republik Italien mit ihrer entlegensten Provinz stehe. Er symbolisiere eine Haltung, die defensiv und nicht aggressiv sei, betonte er.
Doch an der Einstellung der Südtiroler änderte das nichts. Für sie war dies ein Denkmal des faschistischen Italien und würde es auch immer bleiben, selbst jetzt noch, da der Faschismus untergegangen war. Niemand von ihnen, abgesehen von einigen Amtsträgern, nahm an der Enthüllung teil. Auch Peter nicht, der jetzt sechzehn war, und ebenso wenig sein Vater Hermann, der von diesen Dingen überhaupt nichts mehr wissen wollte.
Einige Jahre später kehrte Peter die ganze Nacht nicht heim. Erst als es bereits hell zu werden begann, hörte ihn seine Mutter, die nie schlafen konnte, solange ihr Erstgeborener nicht zu Hause war. Und sie brauchte nur kurze Zeit, um zu begreifen: Es war nicht die Jagd, von der Peter heimkam. Seine Kleider rochen weder nach Wald noch nach Schießpulver, sondern waren mit roter und weißer Farbe beschmiert. Aber Johanna fragte nicht nach.
Am Tag darauf versammelten sich die Carabinieri um das Alpinodenkmal und sperrten die Kreuzung, an der es stand, für den Verkehr. Denn in der Nacht war sein Granitsockel weiß und rot angestrichen worden, in den verbotenen Farben der Tiroler Landesflagge also. Aber auf diese Weise verhöhnt, rief der Alpino nun bei den Leuten weniger Angst oder Ablehnung als vielmehr eine Art spöttischer Zuneigung hervor, sodass man ihn seit diesem Tag in dem Städtchen immer öfter nur noch »Wastl« nannte, anderswo hätte man vielleicht »Pierino« oder »Fritzchen« gesagt. Einen ganzen Tag schrubbten ihn die Carabinieri mit Bürsten und Seife wieder sauber.
Peter fand keine feste Stelle und schlug sich weiter mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er erntete Kartoffeln, bot sich den Bauern, deren Söhne ihren Wehrdienst ableisteten, als Tagelöhner an, wenn jede Hand gebraucht wurde, um das Heu einzubringen. Nur gelegentlich, bei besonders schweren Transporten, half er seinem Vater mit dem Laster, doch das Geld wollte nie reichen. In einem Winter fand er Arbeit als Wächter in der Villa einer adligen Wiener Familie, die in Südtirol den Sommer verbrachte. Dreimal die Woche hatte er die Öfen anzuzünden, damit die Wasserleitungen nicht einfroren, musste lüften und den Schnee vom Dach schippen. Es war keine schwere Arbeit, aber sie war auch schlecht bezahlt. Eigentlich wollte Peter eine Familie gründen, er war jetzt immerhin schon zweiundzwanzig, und es gab da ein Mädchen, das ihm ganz gut gefiel: Doch wenn das so weiterging, würde daraus nichts werden. Irgendwann erfuhr er dann, dass man im Stahlwerk Falck in Bozen Arbeitskräfte suchte.
In der Familie konnte nur Johanna Italienisch lesen und schreiben: Sie war die Einzige, die während des Faschismus die Schule besucht hatte. Als Hermann zur Schule ging, bis zum Tod seiner Eltern, gehörte Südtirol noch zur Donaumonarchie. Ihre Kinder besuchten die Schulen der aus dem Antifaschismus hervorgegangenen Republik Italien, die zwar, anders als von den Südtirolern erhofft, diese entlegene Provinz nicht an die Mutter Österreich zurückgegeben hatte, jedoch immerhin das Recht der deutschsprachigen Bewohner anerkannte, in ihrer Muttersprache lesen und schreiben zu lernen. Die gesamte Bürokratie allerdings kommunizierte weiterhin auf Italienisch.
So war es Johanna, die Peter half, die erforderlichen Papiere zusammenzustellen – Führungszeugnis, Musterungsnachweise, Gesundheitszeugnis –, und die ihn zu den verschiedenen Ämtern begleitete.
Kein Formular, keine Bestimmung, kein Schild war auf Deutsch geschrieben, kein Beamter sprach oder verstand Deutsch. Die Tatsache, dass die Menschen, die das Amt aufsuchten, alle deutschsprachig waren, interessierte hier niemanden. Anträge waren in fehlerfreiem Italienisch einzureichen, oder man lief Gefahr, noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen. Für Johanna war es eine Qual, sich mit diesen abweisenden Beamten in einer Sprache auseinanderzusetzen, die nicht die ihre war, doch schließlich hatte sie alle notwendigen Bescheinigungen beisammen. Dann bügelte sie ihrem Sohn noch den Sonntagsanzug, und an einem Montag in der Früh bestieg Peter den Bus in die Provinzhauptstadt.
Einige Wochen blieb er in Bozen, wo er bei einer entfernten Cousine seiner Mutter unterkam, in einer engen Behausung mit vier kleinen Kindern zwischen zwei und acht Jahren. Nachts konnte er dort auf dem Boden neben dem Ofen schlafen, aber tagsüber musste er fort. Es waren gerade die Tage der drei Eismänner, der Eisheiligen in der Mitte des Frühjahrs, dem letzten Aufbäumen des Winters, und die Luft war frostig. Peter fehlte das Geld, um sich in einem Gasthaus aufzuwärmen, und so brachte er die Nachmittage im Wartesaal des Bahnhofs zu.
Dort sah er sie aus den Zügen steigen, Männer, wie sie, was Peter nicht wusste, in jenen Jahren auch in Turin, in Lüttich oder Düsseldorf eintrafen, mit sizilianischen Schirmmützen, den coppole, auf dem Kopf, und karierten Jacketts. Meist trugen sie Kartons, die mit Bindfäden verschnürt waren, selten nur Lederkoffer. Hin und wieder war auch eine Frau darunter, meist zwischen zwanzig und dreißig, selten älter, mit vollem schwarzem Haar. Sie stiegen entweder allein aus dem Zug oder aber mit drei, vier Kindern an der Hand und wurden immer von einem Mann abgeholt, der so aussah wie diejenigen, die soeben allein eintrafen, nur war sein Gesicht etwas weniger gezeichnet, etwas weniger ängstlich: das Gesicht eines Mannes, der Arbeit gefunden hatte und der nun bereit war für die Last und die Ehre, Familienoberhaupt zu sein.
Diesen Einwanderern aus Süditalien hatte zu Hause niemand erklärt, in was für eine Gegend sie aufbrachen. Niemand in den Arbeitsämtern von Enna, Matera oder Crotone, wo die Bozener Unternehmen neue Arbeitskräfte gewannen, dachte daran, den Auswanderern zu sagen, dass die Menschen, unter denen sie in Zukunft leben würden, Deutsch sprachen und keine Spaghetti aßen und auch keine Polenta, ein im Grunde ja noch italienisches Gericht, sondern Speisen, die sie Knödel, Schlutzkrapfen oder Spatzlan nannten. Schließlich gehörte dieser Landstrich zu Italien. Und mehr musste so ein Auswanderer auch nicht wissen.
Als Peter in seinem sauberen und frisch gebügelten Sonntagsanzug in Bozen eingetroffen war, begab er sich sogleich zum Personalbüro des Stahlwerks und gab dort seine Bewerbung und die mühsam besorgten Bescheinigungen ab. In den folgenden Tagen suchte er dann noch Lancia auf, das Personalbüro der Eisenbahn und schließlich sogar die Straßenverwaltung ANAS: Ein Leben als Straßenkehrer war zwar nicht das, wovon er träumte, aber immer noch besser, als ohne Arbeit dazustehen.
Auf keine seiner Bewerbungen erhielt er eine Antwort. Doch es dauerte eine Weile, bis Peter begriff, was dahintersteckte. Das Wirtschaftswunder des Industriestandorts Bozen mit seinen Sozialwohnungen und seinen fast anständigen Löhnen war nur für Italiener gedacht. Nicht, dass man deutschsprachige Arbeitskräfte von vornherein ausgeschlossen hätte. Sie waren nur einfach nicht vorgesehen.
Gewiss, in den Südtiroler Schulen durfte wieder Deutsch unterrichtet werden, und neue »Katakombenschulen« waren nicht notwendig, damit Schüler und Lehrer in ihrer eigenen Sprache reden und lernen konnten. Anders als Mussolini versuchte die neue Republik Italien nicht, alles Deutsche in Südtirol auszumerzen. Nein, es war eine andere Haltung, die man jetzt in dieser Frage einnahm. Man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht.
Schließlich kehrte Peter nach Hause zurück. Johanna durchfuhr der Schrecken, als sie sah, wie schäbig sein Anzug aussah: Drei Wochen lang hatte er ihn nicht ausgezogen. Warum er keine Arbeit finden konnte, erklärte Peter nicht, und niemand fragte ihn danach. Den nächsten Sommer blieb er die ganze Saison über in der Schweiz. Dort verdingte er sich als Almhirt und besserte seine Einkünfte durch den Verkauf von Jagdtrophäen, hauptsächlich von Gämsen, auf. Einmal hatte er Glück und erwischte einen Steinbock. Seine Kunden waren zumeist deutsche Touristen. Die wenigen Italiener, die sich in diese Gegend verirrten, hatten an Trophäen kein Interesse.
Gerda war zwölf, als ihr Bruder sie eines Tages im November fragte, ob sie mit nach Bozen komme. Dort gebe es ein großes Fest, sagte Peter, die Straßen seien voller Menschen wie bei dem Kirschta.
Ein Ausflug! So etwas kannte sie gar nicht. An manchen Sonntagen waren auf der Provinzstraße, die an Schanghai entlangführte, Autos, Pferdewagen oder Gruppen von Fahrradfahrern unterwegs, und Gerda hörte die Leute singen und lachen. Auch die Kollegen ihres Vater luden an Sommersonntagen ihre Familie und Freunde auf den Lastwagen und fuhren mit ihnen zum Picknick an den Fluss, der in den vergletscherten Bergen entsprang, oder zu den Wiesen bei der Einmündung des Tales. Wenn der Wind Gerda den Duft von Grillwürstchen, Musikfetzen oder Gelächter zutrug, überkam sie eine große Sehnsucht nach der Unbeschwertheit dieser Fremden. Hin und wieder konnte man auch an einem Fest teilnehmen. Am Ende des Sommers wurden auf dem großen Hof zwischen den höher gelegenen Häusern von Schanghai die frisch geernteten Maispflanzen aufgeschichtet, von denen in Handarbeit die langen, lanzettförmigen, scharfkantigen Blätter abgerissen wurden, mit denen man dann Matratzen füllen konnte, die immerhin eine ganze Wintersaison hielten. Mit Liedern und Scherzen untermalten Tagelöhner und Bäuerinnen die Arbeit, und wenn dann am Abend in einer Ecke des Hofes der Blätterberg höher als die Haustüren aufragte, begann man zu den Klängen von Zithern und Akkordeons zu tanzen. Die Bewohner Schanghais strömten zusammen, die einen brachten eine Flasche Obstwein mit, andere ein Stück Speck, wieder andere Stühle für die älteren Leute. Alle waren dabei, nur Familie Huber nicht. Hörte Hermann, wie gesungen wurde an solch klaren, nach Heu duftenden Sommerabenden, verfinsterte sich seine Miene. »Manche können es sich eben leisten zu feiern«, sagte er dann, »aber ich muss morgen arbeiten.« Und damit ging er zu Bett.
Gerda wusste nicht, wie das Lachen ihres Vaters klang. Dagegen erinnerte sie sich noch sehr genau an den Moment, als sie ihre Mutter zum letzten Mal hatte lachen hören. Beim Putzen war ihr ein Eimer mit Seifenlauge auf dem Küchenfußboden umgekippt, und Hermann war darübergelaufen und ausgerutscht. Der Anblick, wie ihr ungelenker Ehemann mit einem lauten Plumps auf dem Hosenboden landete, bereitete Johanna Vergnügen, und Gerda erinnerte sich lange noch an das leise, von Zuckungen und Schluchzern unterbrochene Lachen, das ihren dünnen Oberkörper schüttelte. Hermann sagte nichts, forderte sie nicht auf, damit aufzuhören, beschimpfte sie nicht, machte sich nicht seinerseits über sie lustig. Doch warf er ihr, als er aufstand, einen Blick voll solch tiefer Verachtung zu, dass Johanna das Lachen auf den Lippen erstarb, ähnlich einer Feldblume, die von einem glühenden Holzscheit berührt wird. Solange sie lebte, hörte Gerda ihre Mutter nie mehr lachen.
Auch Peter, diesen zehn Jahre älteren Bruder, kannte Gerda nur wenig, er war ihr kaum vertraut. Getrennt durch Alter und Geschlecht, hatten sie kaum Zeit miteinander verbracht – jedenfalls viel weniger als mit den Vettern – und sich nie viel zu sagen gehabt. Unter einem Dach zusammengelebt hatten sie und vom selben Brot gegessen. Mehr aber auch nicht.
Eigentlich war er zu einem stattlichen, gut aussehenden Mann herangewachsen, aber sein Auftreten war so blass und verhuscht wie das seiner Mutter. Seine Gesten waren weniger unsicher als vielmehr verstohlen, wie die eines Jägers auf der Lauer. Von Johanna hatte er auch die dunkelbraunen Augen, die kein Licht reflektierten, und in seinem Blick lag etwas Trübes, das Gerda als kleines Mädchen fast Angst machte. Nun, da er erwachsen war, ähnelte Peter seinem Vater Hermann überhaupt nicht mehr, außer wenn er etwas sagte – also, wie der Vater, fast nie, und wenn es nicht anders ging, dann mit halb geschlossenem Mund. So, als seien die Worte etwas Kostbares, von dem man sich nur schweren Herzens trennte.
Peter hatte niemals einen Freund nach Hause mitgebracht, und das Mädchen, das er heiraten wollte, hatte die Stube der Hubers noch nie betreten. Wenn sie sich trafen, dann auf der Tenne des Hofes, auf dem sie zur Welt gekommen war. Manchmal brachte er ihr kleine Geschenke mit, ein langes Hirschgeweih etwa, in das er geometrische Figuren geschnitzt hatte, oder einen Strauß Auerhahnfedern, die wie Stahl glitzerten, oder ein Halstuch, das er auf dem Markt gekauft hatte. Leni, so hieß das Mädchen, nahm die Geschenke mit einem Lächeln in Empfang, das sie kostbar machte – wie ein Sonnenstrahl, der Katzenaugen wie echtes Gold glänzen lässt. Aber auch bei ihr war Peter nicht viel gesprächiger.
Nein, die Hubers waren nicht dafür bekannt, unterhaltsame Gesellschafter zu sein.
Einen Ausflug also. Mit Peter. Gerda hätte nicht sagen können, was von beidem ungewöhnlicher war. Tata und Mamme würden nicht mitkommen, erklärte er ihr, die interessierten sich nicht dafür. Und Annemarie auch nicht, die als Dienstmädchen bei einer Familie arbeitete und sonntags nur den halben Tag freihatte.
Lange bevor es dämmerte, brachen sie auf. Es war ein milder Herbst, aber so früh am Morgen nicht nur dunkel, sondern auch kalt. Gerda war überrascht, wie viele Menschen schon unterwegs waren, obwohl es bis zur Frühmesse noch lange dauerte. Sie strömten alle ins Zentrum des Städtchens, wo einige Lastwagen und Busse bereits die Motoren warmlaufen ließen. Gerda trug ihr Firmungskleid. Zweimal hatte Johanna es ihr schon weiter gemacht, doch über der Brust und an den Hüften spannte es, und bald würde es nicht mehr für sie abzuändern sein. Darüber trug sie ein Oberteil aus Walkloden, grau mit grünen Bündchen, und über den Schultern ein rotes Tuch. Peter hatte wieder dieselben Kleider angezogen wie damals in Bozen bei der Arbeitssuche. Einige Leute sah man in Tracht, die Frauen in langen Röcken, Schürzen aus schwerem, schimmerndem Samt und Spitzenchemisetten wie bei der Herz-Jesu-Prozession und die Männer in rot-grün gestreiften Westen, kunstvoll gemusterten Gürteln über den Lederhosen und Filzhüten mit Auerhahnfedern auf dem Kopf. Wer nicht in Tracht ging, hatte sich die feinsten Kleider herausgesucht, die er besaß.
Gerda war die Jüngste. Als sie auf den Lastwagen stieg, machten ihr die Männer ehrfürchtig Platz, die Frauen boten ihr Roggenbrot und Holundersaft aus filzumkleideten Trinkflaschen an. Noch nie hatten sie so viele Menschen auf einmal angelächelt. Als die Fahrzeuge sich in einem Korso in Bewegung setzten, formierten sich die Scheinwerfer zu einer Lichtergirlande, die auf Gerda noch festlicher wirkte als ein brennender Adventskranz. Die Menschen auf dem Laster begannen zu singen, und mit noch kindlicher Stimme stimmte sie ein. Am Brunnen vor dem Tore sangen sie, Wo der Wildbach rauscht und Kein schöner Land – Lieder, in denen die romantische Liebe und die Liebe zur Heimat miteinander verschmolzen. Den Text kannte Gerda nicht, sie hatte noch nie mit anderen in solch einem großen Chor gesungen. Doch die Melodien waren eingängig, und die Töne klangen so vertraut aus den Kehlen wider, als kenne sie diese schon ihr Leben lang. Die kalte Luft strich ihr übers Gesicht, und sie empfand eine tiefe Freude, obwohl sie nicht wusste, wohin sie überhaupt fuhren und was so viele Menschen dort wollten. Denn das hatte Peter ihr nicht erklärt. Zum ersten Mal in seinem Leben aber beugte er sich zu seiner kleinen Schwester hinab und lächelte sie an.
Als sie fast drei Stunden später am Ziel eintrafen, war Gerda eingeschlafen; ihr Kopf lag im Schoß der Frau, die ihr den Holundersaft angeboten hatte. In dem Moment, da der klapprige Laster mit ächzenden Bremsen hielt, schlug sie die Augen auf.
Sie hatte das Gefühl, noch zu träumen, denn so viele Menschen beieinander hatte sie noch nie gesehen. Weder bei der Herz-Jesu-Prozession noch bei der Beerdigung des alten Grafen, als sich der Leichenwagen, von vier Rappen gezogen, einen Weg durch die Menschenmassen auf den mittelalterlichen Straßen des Städtchens gebahnt hatte. Peter half ihr vom Wagen, indem er sie wie eine Puppe unter den Achseln fasste und auf den Boden stellte. Gerda war von der Menge umringt, die sie drückte, hin und her schob, sie mitzog und bremste und wie ein verkehrt fließender Fluss die Steigung vom Bozener Becken zur Burgruine Sigmundskron hinaufströmte. Gerda drückte Peters Hand, hatte aber keine Angst. Im Gegenteil kam ihr die Menge wie ein lebender Organismus vor, wie ein beseeltes Wesen, dessen Gefühle, dessen Erregung sie spürte und das auf diese Weise sie selbst berauschte. Es war ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sogar ihr, dem gerade mal zwölfjährigen Mädchen, Wert und Würde verlieh. Sie fühlte sich stark, euphorisch, überzeugt, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon eigentlich. Niemals wieder in ihrem Leben würde Gerda, außer im Fernsehen, eine so große Versammlung sehen.
Es wurde ein milder Tag. Mitten im November ließ eine fast septemberwarme Sonne die Augen der Menschen strahlen, die einander anlächelten und sich grüßten, auch ohne sich zu kennen und obwohl sie aus verschiedenen Tälern stammten. Peter hatte recht: Was sich da vor der Burg Sigmundskron, dem Castel Firmiano, ereignete, war ein Fest, wie man in ganz Südtirol noch keines erlebt hatte.
Überall sah man Spruchbänder und Schilder. Auf vielen las Gerda: Volk in Not. Zwei Reihen Carabinieri flankierten den Umzug, schwarz wie Pech und mit roten Seitenstreifen an den Hosenbeinen entlang, sodass sie wie fremdartige Insekten aussahen, die Hände auf den Maschinenpistolen. Mit angespannten Mienen beobachteten sie die Menge, die zu der Burgruine emporwanderte. Sie waren jung, einige noch sehr jung. Und sie hatten Angst, mehr Angst als die Menschen in dieser riesigen Menge, wie Gerda auf Anhieb verstand, als sich ihr Blick mit dem eines Polizisten kreuzte. Er war gar nicht so viel älter als sie selbst, achtzehn, höchstens neunzehn, und blickte ihr unverwandt in die Augen, als schenke ihm das ein wenig Trost. Gerda hatte schon begriffen, dass »die da« nicht zu dieser Sache gehörten, an der sie, Peter und all die anderen teilnahmen, sondern ganz im Gegenteil Vertreter jener »Gefahr« waren, in der ihr »Volk«, wie es hieß, schwebte. Doch der Carabiniere, mit der Mütze zu tief in der Stirn, blickte sie weiter so an, als klammere er sich an den Liebreiz dieses Mädchens in dem zu engen Kleid, um die eigene Angst besser zu ertragen. Unwillkürlich lächelte Gerda ihn an, und der junge Polizist lächelte zurück. Da löste sich das Tuch um ihren Hals und fiel zu Boden. Instinktiv bewegte sich der Oberkörper des Carabiniere, wollte sich hinabbeugen, streckte die Hand, die nicht die MP hielt, aus, um das Tuch aufzuheben.
Der Kamerad aber, der neben ihm stand, fuhr plötzlich herum und starrte ihn an, ein harter Blick, der eine Meldung beim Vorgesetzten oder Schlimmeres ahnen ließ. Augenblicklich gefror das Lächeln des jungen Carabiniere zu einer Maske mit noch angespannteren Zügen als zuvor. Einen Moment lang zögerte er, dann kehrte sein Oberkörper in die geforderte kerzengerade, steife Haltung zurück. Gerda wandte sich ab, hob das Tuch vom Boden auf und ging weiter. Ihr Bruder hatte von dieser Szene gar nichts bemerkt. Er war von der Menge schon ein Stück weitergeschoben worden, dem höchsten Punkt des Hügels zu.
Menschentrauben lehnten an den Bäumen, drängten sich auf der Freifläche vor der Burg, auf den Erhebungen ringsumher, zwischen den Zinnen der verfallenen Befestigungsanlage. Gerda schien es, als wäre diese unübersehbare Menge ein gigantisches, alles überdeckendes Kraut, bestehend aus Fleisch, Kleidern, Haaren, Gesichtern, aus der Wiese gewachsen, sodass nun vom Gras nichts mehr zu sehen war. Nur das blutrote Porphyrgestein der senkrecht abfallenden Felsen, aus denen die Ruine wie ein verwunschenes Gebilde hervorzuwuchern schien, war zwischen den einzelnen Körpern noch zu erkennen.
Auf dem unter dem Burgturm errichteten Podest stand ein Mann. Gerda hätte nicht sagen können, was knöcherner wirkte, er oder die Krücken, auf die er sich stützte. Alt war er nicht, aber er sah krank und äußerst gebrechlich aus. Frontheimkehrer, die ihre Erinnerungen an den Krieg, der seit zwölf Jahren zu Ende war, am Leibe trugen, hatte Gerda viele gesehen, ausgemergelte Gestalten, Männer, die eine Hand oder den ganzen Arm verloren hatten oder aber ein Bein wie dieser hier, der jetzt zu der Menge sprach. Das Glied, das nicht mehr da war, schmerzte weiter, ein Schmerz, der in den restlichen Körper ausstrahlte und ihm, einem Vampir ähnlich, das Leben aussaugte und ihn verdorren ließ. Der abgemagerte Mann dort vorn schien unter solchen Symptomen zu leiden: Seine Stimme klang gepresst, metallisch, keineswegs wie die eines Redners. Und doch hörten ihm alle in gebannter Stille zu. Nur als er den Innenminister Tambroni erwähnte, musste er abbrechen, weil sich ein Pfeifkonzert erhoben hatte. Aber das brachte ihn nicht aus dem Konzept, er wartete ruhig, zeigte keine Anzeichen von Ungeduld, ließ es geschehen, dass die Menge nach Herzenslust diesen Vertreter der italienischen Regierung auspfiff.
Eine Minute verging. Die Pfiffe hörten nicht auf.
Zwei Minuten. Die Carabinieri und Soldaten, die vor dem Podium eine Absperrkette gebildet hatten, begannen sich anzuschauen, als würden sie sich fragen, wie sie reagieren sollten.
Drei Minuten. Die Pfiffe gegen den Minister, dem die Uniformierten unterstanden, schienen nicht abklingen zu wollen. Gerda riss einen Grashalm aus, staubig und von unzähligen Füßen zertreten, und führte ihn an die Lippen. Es war jene Geste, bei der sie auch John Gallagher aus Leeds, United Kingdom, damals beobachtet hatte. Sie blies über den zwischen den Daumen gespannten Halm und brachte einen schrillen Pfiff hervor. Da drehte sich Peter zum zweiten und letzten Mal an diesem Tag und in seinem ganzen Leben zu ihr um und lächelte sie zufrieden an.
Vier Minuten. Bei den jüngsten Carabinieri begannen die Hände Schweißränder auf den MP-Griffen zu hinterlassen. Mit zufriedener Miene blickte der Mann auf dem Podium auf Zehntausende pfeifender Menschen hinunter. Er hatte es nicht eilig, mit seiner Rede fortzufahren, sondern nutzte die Unterbrechung, um sich über den Zulauf zu dieser von ihm organisierten Veranstaltung klar zu werden. Er konnte wirklich zufrieden sein. Vor ihm, Silvius Magnago, war an diesem 17. November 1957 bei der Burg Sigmundskron eine Menge von mindestens dreißig-, vierzigtausend Menschen versammelt. Bei einer Südtiroler Gesamtbevölkerung von gerade mal dreihunderttausend Seelen war das mindestens jeder Zehnte. Wie Gerda und Peter hatten sie sich in tiefster Nacht mit Lastwagen, Bussen, Autos, Motorrädern oder Traktoren auf den Weg gemacht. Sie kamen aus der Umgebung von Bozen, aus dem nahen Überetsch, aber auch aus den weiter entfernten Regionen: dem Ahrntal, dem Passeiertal, dem Martelltal, dem Gsiesertal, aus Schlanders oder dem Vinschgau. Aus Gegenden, in denen man im Dialekt oans, zwoa … zählte, oder anderen, wo man aans, zwa … sagte. Und jetzt pfiffen sie und pfiffen, als wollten sie nie mehr damit aufhören.
Fünf Minuten. Die Carabinieri blickten zu ihren Vorgesetzten hinüber.
Der hagere Mann auf dem Podium holte Luft und öffnete den Mund. Er schien nun doch weiterreden zu wollen, und augenblicklich verstummte die Menge.
Silvius Magnago erinnerte an den Kanonikus Gamper aus Brixen, den bereits von Faschisten und Nationalsozialisten verfolgten Geistlichen, der einige Monate zuvor ausgerufen hatte: »Es ist ein Todesmarsch!« Einem Todesmarsch für Südtirol würde es seiner Meinung nach gleichkommen, wenn sich nichts Grundlegendes änderte: an der forcierten Einwanderung aus Süditalien, der Stellenverweigerung für Einheimische, an deren Verarmung und Auswanderung. Bald schon würden die Südtiroler nur noch eine Minderheit im eigenen Land sein, um irgendwann ganz aus der Geschichte zu verschwinden.
Er kämpfe, versprach Magnago, der Vorsitzende der Südtiroler Volkspartei, der Partei der deutschsprachigen Südtiroler also, für eine Autonomie ihrer Provinz ohne Zusammenschluss mit einer anderen italienischsprachigen Provinz, wie er zurzeit mit Trient bestehe. Für eine echte Autonomie also kämpfe er, die es den Südtirolern ermöglichen sollte, das Geschick ihrer Heimat wieder selbst in die Hand zu nehmen.
»Los von Trient! Los von Trient …«, rief er zum Schluss der Menge entgegen, einmal, zweimal, immer wieder. Los von diesem mehrheitlich italienischen Gebiet also, in dem die Deutschsprachigen als ungeschützte Minderheit lebten. Der Beifall der Zuhörer umtoste ihn und schien kein Ende zu nehmen.
Da plötzlich hörte man, wie oben auf dem Turm knatternd ein großes Tuch entfaltet wurde. Alle blickten hinauf. Zwei junge Leute hatten sich in die Burg geschlichen, lehnten nun in einer Schießscharte und entrollten eine lange weiß-rote Fahne. Die Tiroler Flagge zu hissen stand nach dem italienischen Gesetzbuch immer noch unter Strafe. Es war eines der faschistischen Gesetze, die abzuschaffen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Ein Grüppchen Carabinieri rannte zum Turm, doch bevor die beiden festgenommen werden konnten, begannen sie zu rufen:
»Los von Rom!«
Peter und einige andere, meist junge Männer stimmten ein: »Los von Rom!«
Mit anderen Worten: keine von Politikern verabredete Autonomie, keine Verhandlungen, keine Kompromisse. Ihnen war es zu wenig, sich nur von Trient zu lösen. »Fort von Rom«, war die Parole. Fort von Italien.
Magnago presste die dünnen Lippen zusammen, während die jungen Aktivisten von den Carabinieri abgeführt wurden.
Ein gutes Jahr später wurde das Alpinodenkmal in dem Städtchen, in dem die Hubers lebten, erneut Ziel eines Anschlags. Dieses Mal blieb es nicht bei weißer und roter Farbe, jener beinahe harmlosen, an einen Studentenstreich erinnernden Provokation. Nein, nun war es Dynamit, das den Sockel zerriss. Der granitene »Wastl« aber blieb fast heil; der Sprengsatz hatte nicht richtig gezündet.
An diesem Tag hielt sich Peter in einem Nebental auf und half seinem Vater, Holz zu verladen. Nachdem er nun schon ein Vierteljahrhundert Lastwagen fuhr, hatte Hermann Rückenschmerzen, und er brauchte die Hilfe seines Sohnes, auch wenn das einen Verzicht auf das zusätzliche Geld bedeutete, das Peter mit einer anderen Arbeit hätte nach Hause bringen können. Als sie an diesem Abend heimkehrten, verlor Johanna kein Wort darüber, was dem »Wastl« am Morgen zugestoßen war. Ihr reichte die Gewissheit, dass ihr Sohn dieses Mal nicht dabei gewesen sein konnte, worüber sie große Erleichterung empfand.
An einem Junitag einige Jahre später stellte sich ein Mann aus Meran im Haus der Familie Huber vor. Er war daitsch, fluchte aber auf Italienisch. Mittlerweile fluchten sie ja alle italienisch, die Südtiroler, selbst in den eigenen vier Wänden: Sie riefen nicht mehr Vofluicht oder Scheisszoig, sondern Madoja, Ostia, Porco zio, oder auch, zur Freude der vergleichenden Sprachwissenschaftler, Porzelona. Das mochte damit zu tun haben, dass viele, so wie Hermann, zur Zeit Mussolinis Vorhaltungen oder auch Schläge einstecken mussten, wenn ihnen ein Ausruf in deutschem Dialekt entfahren war, sodass man auch zu Hause lieber auf Italienisch fluchte, um es zur Gewohnheit werden zu lassen. Allerdings mochte auch die leise Hoffnung dahinterstecken, ihr daitscher Gott sei vielleicht in Fremdsprachen nicht sehr bewandert und werde einen walschen Fluch möglicherweise nicht richtig verstehen und weniger übel nehmen. Doch wie man das Verhalten auch deutete, fest stand jedenfalls, dass die einstimmige Annahme italienischen Fluchens durch die deutschsprachige Bevölkerung das Einzige war, was sich von der Zwangsitalianisierung, wie der Faschismus sie betrieben hatte, bleibend durchsetzen konnte.
Der Mann aus Meran war gekommen, um Hermann mitzuteilen, dass er dessen jüngster Tochter eine Stelle in der Küche eines großen Hotels anzubieten habe. Schon bald nach dem Krieg waren die Touristen nach Südtirol zurückgekehrt, und wer Arbeit suchte, fand sie meist an der neuen Grenze des Tourismus, den Tälern der Dolomiten. In den großen Hotels, die noch in der Vorkriegszeit in den Heilbädern des Etschtals gebaut worden waren, wurde daher das Personal knapp. Der Mann bot Gerda ein ordentliches Gehalt an, Kost und Logis sowie die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen: Köchin.
Wer weiß, wäre Hermann nicht ein verschüchterter Knecht gewesen, der sich aus Kummer in die Hose machte, hätte er nicht in düstersten Optionszeiten die Tore mancher Höfe mit Exkrementen beschmiert, hätte er bei der Frau, die er heiraten wollte, nicht Ergebenheit, sondern Liebe gesucht, hätte er an der Ostfront nicht Dinge getan und erlebt, über die ein Mantel des Schweigens ausgebreitet wurde, hätte Hermann also nicht vor langer, allzu langer Zeit schon alle Liebe verloren, dann wäre ihm vielleicht jetzt in den Sinn gekommen, dass die harten Jahre vorüber waren und dass seine Familie nicht mehr in Armut lebte; dass sein Lastwagen genug einbrachte, um seine Kinder ernähren und kleiden zu können, wenn auch nicht im Überfluss. Darüber hinaus musste er aus vielen Erzählungen eigentlich genau wissen, was seine Tochter erwartete, wenn er sie mit diesem Mann gehen ließ – nicht zufällig wurden die jungen Küchenmädchen »Matratzen« genannt.
Und dann hätte er dem Mann gesagt: Wort a mol, Moment mal. Und er hätte ihm erklärt: Des Madl will i net weggian lossn, das Mädchen lasse ich nicht fort, im Gesicht ist sie zwar noch ein Kind mit ihren rundlichen Wangen, aber ihr Körper wird immer weiblicher, sie hat schlanke Beine, und sie ist schön, nein, wunderschön ist sie, genau wie ihre Großmutter früher, aber sie selbst weiß das noch nicht, und deshalb muss ich sie beschützen, wie nur ich als ihr Vater das kann und muss. Vielleicht nehme ich sie mit zum Tanzen am Kirschtà im Sommer, dann können alle Burschen sehen, wie begehrenswert sie ist, aber auch, wie wachsam und aufmerksam ihr Vater aufpasst, der niemals zulassen wird, dass man ihr zu nahe tritt, und deshalb sage ich dir: Nein, ich geb sie dir nicht mit, denn ich will nicht, dass sie im Hotel für die Fremden arbeitet und »Matratze« genannt wird.
Was Hermann aber tatsächlich sagte, war: »Passt.«
Und Gerda, die gerade mal sechzehn war, machte sich auf den Weg.
Die Fahrt zu dem Kurort, in dem sie arbeiten sollte, war nicht lang, aber kompliziert. Am Bozener Bahnhof angekommen, blickte sie sich ratlos um. Überall um sie herum Stimmen, die italienisch sprachen; es kam ihr so vor, als seien nur Menschen mit dunkler Gesichtsfarbe unterwegs. Aber schließlich war dies auch die Stadt, in der vor Peters Augen einige Jahre zuvor die Einwanderer aus Süditalien eingetroffen waren.
Sie musste den Bus nach Meran nehmen, aber der Busbahnhof lag noch ein Stück entfernt. Vom Bahnhofsvorplatz führte eine breite Allee in die Stadt hinein. Die lief sie nun entlang, den Zettel fest in der Hand, auf dem der Mann den Namen des Hotels aufgeschrieben hatte, in dem sie anfangen sollte. Die blühenden Rosskastanien verströmten einen intensiven Duft. Der Mann hatte ihr gesagt, sie solle der Allee folgen und ungefähr in der Mitte nach links abbiegen. Mit unsicheren Schritten, berauscht vom Duft der Blütentrauben über ihr, den Griff des kleinen Koffers mit ihren wenigen Sachen fest in der Hand, lief sie über das Pflaster. Sie fand den Busbahnhof und trat auf einen der Fahrer zu, wagte es dann aber doch nicht, ihn anzusprechen, weil sie sich für ihr schlechtes Italienisch schämte.
»Schnell! Der Bus Richtung Meran fährt jetzt!«, hörte sie da jemanden einem älteren Ehepaar, offenbar Touristen aus Deutschland, zurufen. Sie rannte ihnen nach zu einem Bus, der bereits mit laufendem Motor wartete, und stieg ein. Sie hatte Glück: Im nächsten Moment schloss der Fahrer die Türen und fuhr ab.