Km 0–35
Ich rufe meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ich nicht zum Ostermittagessen kommen kann. Das heißt, ich werde auf all die Köstlichkeiten verzichten müssen, die sie und meine Patin Ruthi schon seit einer Woche vorbereiten. Aber sie wird mich auch nicht wieder der ganzen Sippe vorführen können und die Komplimente einheimsen für ihre schöne und tüchtige Tochter – schade nur, dass sie nie geheiratet hat (zu meiner großen Erleichterung haben sie seit einiger Zeit das frühere »noch nicht« durch dieses »nie« ersetzt, ein Fortschritt, den ich meinen vierzig Lebensjahren zu verdanken habe).
»Ich muss verreisen«, erkläre ich ihr, »es ist dringend.«
Bisher habe ich mir noch nie ein Feiertagsessen entgehen lassen. Wenn ich jetzt absage, muss es sich also um etwas Dringendes handeln. Tatsächlich zwingt meine Mutter mich nicht zu näheren Erklärungen und fragt nur: »Kenne ich ihn?«
Die Möglichkeit, dass meine Absage vielleicht nichts mit einem Mann zu tun haben könnte, zieht sie gar nicht in Betracht.
Ich schaue auf die Gletscher in der Ferne oder genauer auf das, was in Zeiten des Klimawandels davon übrig geblieben ist.
»Kann sein«, antworte ich, und sie hakt nicht nach.
Keine Chance, einen Tag vor Ostern einen Flug nach Kalabrien zu erwischen. Ich rufe bei allen Fluggesellschaften an, dann an den Flughäfen in Bozen, in Verona, Venedig, Mailand, München, Innsbruck und Brescia. Stundenlang versuche ich es auch übers Internet. Nichts. Den nächsten freien Platz könnte ich in einer Maschine nach Reggio Calabria in zwei Tagen buchen, das wäre nach Ostermontag. Das könnte zu spät sein für Vito. So bleibt mir nur eine Möglichkeit: Liegewagen bis nach Rom und von dort aus weiter, ebenfalls mit der Bahn, runter nach Kalabrien. Eine lange Fahrt.
Und so sitze ich nun im Bummelzug, der mich zunächst einmal nach Fortezza/Franzensfeste bringen wird. Über den Sitzen an der hinteren Wand des Abteils hängt ein Plakat des Deutschen Kultur- und Familienamts, der zuständigen Behörde für familiäre und kulturelle Angelegenheiten der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols, nicht zu verwechseln mit dem rigoros davon getrennten Amt mit den exakt gleichen Aufgaben für die Italiener. Es informiert über Weiterbildungsangebote für Erwachsene in der Provinz Bozen. Auf einem Foto sieht man einen Mann im blauen Overall in einem Raum, unter dem man sich wohl seine Werkstatt als Mechaniker, Kfz-Elektriker oder Schweißer vorstellen soll: Mit dem Gesichtsausdruck eines konzentrierten Kindes faltet er mit seinen kräftigen Handwerkerpranken ein rosafarbenes Blatt Papier, um auf diese Weise eine Origamifigur herzustellen.
Unter dem Foto der Schriftzug: WER LEBT, LERNT.
Habe ich manchmal an Vito gedacht, in der Zeit, als ich heranwuchs? Ich kann es nicht sagen. Er schied so jäh aus unserem Leben aus. So unerwartet, zumindest für mich. Für meine Mutter wohl nicht, nein, natürlich nicht, aber mir hat niemand etwas erklärt. Vito verließ uns zu einem Zeitpunkt, als ich bereits dachte, er würde nun für immer zu meiner Welt gehören und wir zu der seinen. Ich war schon seine Tochter und Gerda Huber seine Frau. Er war einfach da. Und dann, ganz plötzlich, nicht mehr.
Nein, ich habe gar nicht so oft an Vito gedacht.
Wie eingekeilt Fortezza/Franzensfeste doch liegt. Die steil abfallenden Felswände des Eisacktals rücken hier so nahe zusammen, dass sie der Senke kaum noch Platz lassen und sie wie ein Schraubstock einzwängen. Wenn ich den Ort sehe, frage ich mich immer, wie man dort bloß wohnen kann. Was mögen die Eisenbahner, die Mussolini aus Rovigo, Caserta, Bisceglie oder Sulmona kommen ließ, gedacht haben, als sie hier eintrafen? Als sie das enge Tal sahen, in dem man, um den Himmel zu erblicken, den Kopf in den Nacken legen muss? Es heißt, auf ihrer Flucht Richtung Brenner hätten die Nazis in der düsteren napoleonischen Festung, die dem Ort seinen Namen gab, die Schätze versteckt, die sie in Italien zusammengeraubt hatten. Hin und wieder macht sich wohl jemand daran, ein paar Quader zu verrücken und unter der Festungsanlage zu graben. Für mich ist das nur ein Märchen, das man sich hat einfallen lassen, um diesem klaustrophobischen Ort einen – wenn auch noch so absurden – Sinn zu geben.
Am besten esse ich hier noch etwas, Anschluss nach Bozen habe ich erst in über einer Stunde.
In dem Restaurant/Pizzeria neben dem Bahnhof scheint man die Speisekarte in den letzten zwanzig Jahren unverändert gelassen zu haben: Knödel, Wiener Schnitzel, Steak, Salat, Spaghetti al pomodoro oder al ragù. Mehr Auswahl gibt es nicht. Sonst nur noch Pizzas, aber darunter findet man jetzt tatsächliche eine Hawaiiana mit Ananas und eine, die sich Caccia al Tesoro (Schatzsuche) nennt: mit Cocktailtomaten, Sardellen und Oliven, die mit Kapern gefüllt sind. Ob die mit dem Schatz gemeint sind?
Während ich mein nicht eben zartes Schnitzel verspeise, schaue ich mich um. Im Spiegel der Bar gegenüber meinem Tisch sehe ich meinen Kopf im Gegenlicht. Ich hebe den Blick, zucke zusammen und wende ihn sogleich wieder ab. Oben zwischen den Flaschen mit Likören, die kein Mensch je bestellt, habe ich drei dieser verfluchten Zielscheiben entdeckt. Oh, wie ich die hasse.
Auf zweien dieser runden, von Hand bemalten Holztafeln ist im Zentrum ein Auerhahn dargestellt, der ein Wappen im Schnabel trägt, auf der dritten ist es ein Fasan. Am oberen Rand der Scheiben stehen Daten, 9/8/84, 12/5/88, 3/10/93 und darunter Namen: Kurt, Moritz, Lara. Es sind Geburtsdaten mit dem entsprechenden Vornamen, wie sie auch mein Onkel für den neugeborenen Ulli aufmalen ließ. Und auch hier sieht man winzige Löcher in dem dargestellten Tier in der Scheibenmitte. Wie Peter damals ist also auch der Inhaber dieses Restaurants ein Jäger, und so wie er hat er im Kreis seiner Freunde zur Feier seiner Vaterschaft auf die Namen seiner Kinder geschossen (mein Gott, geschossen!). Nur ist er ein besserer Schütze als mein Onkel oder war vielleicht weniger betrunken: Denn statt des Tieres in der Mitte traf Peter den Namen seines Sohnes.
Das letzte Mal sah ich diese schreckliche Zielscheibe, die auch Ulli nie ausstehen konnte, als sie mit ihm zusammen ins Grab hinabgelassen wurde. Da drängte sich der Gedanke auf, dass sein Vater, dieser Onkel Peter, den ich nie kennengelernt habe, damals nicht nur den Namen seines Sohnes, sondern auch dessen ganzes Leben mit Schrot durchsiebte. Ach ja, jetzt erinnere ich mich: Als Ullis Sarg damals ins Grab hinunterglitt, an jenem Tag habe ich ganz stark gespürt, wie sehr mir Vito fehlte.
»Wir haben einen Freund, einen wunderbaren Menschen verloren«, sagte damals jemand zu mir. Vor Wut ballte ich die Fäuste in den Manteltaschen. Verloren hatte ich niemanden. Ich war doch nicht mit Ulli im Supermarkt gewesen, und als ich mich irgendwann umdrehte, war er plötzlich fort, wie es einem mit einem Kleinkind passieren kann. Er war auch nicht wie eine Zeitung oder ein Handy versehentlich auf einer Parkbank liegen geblieben. Nein, ich hatte Ulli nicht verloren. Ulli hatte sich umgebracht. Und viele dieser Menschen, die zu seiner Beerdigung kamen, waren mit ihrem Verhalten zu seinen Lebzeiten daran schuld. Wie eine Welle stieg die Wut in mir auf und verebbte wieder, und danach fühlte ich mich nur noch furchtbar erschöpft. In diesem Augenblick vermisste ich Vito schrecklich.
Ich sehnte mich danach, den Kopf wieder an seine Schulter zu lehnen oder genauer, an seinen Bauch, denn auch wenn Vito kein ausgesprochen großer Mann war – als ich ihn zum letzten Mal sah, war ich noch ein Kind – sein Kind. So stellte ich ihn mir in jenem Moment wieder vor, wie er mit seinen starken Armen von hinten meinen Oberkörper umfasste, während ich nur ein wenig den Hals drehte, mit dem Hinterkopf sein Brustbein streifte und mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn lehnte, in der Gewissheit, dass er mich halten würde. Vor Ullis Grab stehend, packte mich eine derartige Sehnsucht nach Vito, dass sie einen Moment lang sogar die Trauer um meinen toten Cousin verdrängte, meinen Spielgefährten und Vertrauten, der mir mehr als ein Bruder war, ein Freund, vielleicht meine einzige Liebe.
So stand ich da, als Lukas, der alte Küster, zu einer ungewöhnlichen Trauerrede anhob. Aber nur aus Vitos Mund hätte ich die Einsicht akzeptiert, dass Ulli nicht umsonst gestorben ist. Doch Vito fehlte bei der Beerdigung.
Es wird Zeit, ich muss zahlen und aufpassen, dass ich den Zug aus Innsbruck erwische, der mich nach Bozen bringen wird.