1963

Binnen einer knappen Stunde verlor Gerda Vater und Mutter.

Nach mehr als drei Monaten Abwesenheit war sie mit ihrem Bauch, der sich bereits wölbte, nach Hause gekommen. Als sie ihrer Mutter von der Schwangerschaft erzählte, verzerrte sich Johannas Gesicht wie im Krampf, und sie führte eine Hand zur Brust. Über ihre blau angelaufenen Lippen schoss ein Schwall farbloses Erbrochenes und spritzte auf Gerdas Schuhe. Dann fiel sie vom Stuhl.

Als Hermann nach Hause kam, sah er seine Frau am Boden liegen, ihr Körper schon starr und leblos wie eine Sache, und über sie gebeugt Gerda, deren Bauch von Leben strotzend pulsierte. Einen Moment lang stand er da, die Beine ein wenig gespreizt, reglos, schweigend. Dann geschah es: Mit einer eigenartigen Bravour, als habe er sein ganzes Leben lang genau diesen Ablauf geübt, hob Hermann Gerdas Koffer auf, der vor der Stubentür stand, und schleuderte ihn mit einem eleganten Schwung durch die noch offen stehende Haustür. Der Koffer beschrieb einen hohen Bogen und knallte gegen den Laternenpfahl vor dem Eingang, öffnete sich, und flatternd, wie ein Schwarm bunter Zugvögel, flogen Gerdas Kleider heraus. Stumm beobachteten Hermann und seine Tochter ihren Ozeanflug. Der Kontinent, auf dem sie landeten, war der ungepflasterte Platz vor den Häusern Schanghais. Und erst als sie dort lagen, auf diesem feuchten, schattigen Flecken der Vorstadt, den nur im Sommer Sonnenstrahlen erreichten, wurde ihre ärmliche, unbeseelte Natur wieder offenbar.

Ohne seiner Tochter ins Gesicht zu schauen, deutete Hermann mit dem Finger hinaus auf den Platz vor seiner Tür, auf dem nun Gerdas Kleider lagen, die sie auf dem Mittwochmarkt kaufte, ihre saubere, doch schon zu lange getragene Unterwäsche, ihre Wollstrickjacken …

»Aussi«, sagte er.

Und Gerda ging hinaus.

Mit einem nicht lauten, aber endgültigen Schlag schloss sich die Haustür hinter ihr. Sie bückte sich und begann, ihre Sachen einzusammeln und in den Koffer zu stopfen, hob ihr bestes Stück vom Boden auf, ein grün-weißes Hemdblusenkleid, das sie sich selbst nach einem Schnittmuster genäht hatte. Da es die Taille betonte, konnte sie es seit Monaten nicht mehr tragen. Sorgfältig klopfte sie den Staub ab, bevor sie es in den Koffer zurücklegte.

Drinnen in dem Haus, das sie nie mehr betreten sollte, hörte Gerda, wie der Mann, der bis vor wenigen Augenblicken noch ihr Vater gewesen war, die Wand mit kräftigen Schlägen bearbeitete oder vielleicht auch den Fußboden oder den Tisch, jedenfalls ohne dabei irgendeinen Laut, noch nicht einmal ein Stöhnen, von sich zu geben.

Das Gebäude der Opera Nazionale Maternità e Infanzia, des Nationalen Hilfswerks für Mutter und Kind in Bozen, lag etwas außerhalb, nicht weit von dem Stahlwerk entfernt, wo man Peter nicht hatte anstellen wollen. Es war ein Triumph gerader Linien und rechter Winkel, solide, urfaschistisch; selbst die Hecken im Garten ließen keine Abweichungen zu. Von dem Talvera, der an dem Anwesen vorüberfloss, war nichts zu sehen wegen der hohen Mauer, die den Garten von der Straße trennte. Die Schwester Pförtnerin ließ Gerda herein und schloss das schwere Eisentor hinter ihr auf eine Art und Weise, die keine Zweifel zuließ: Wer hier eintrat, tat dies nicht aus freien Stücken, sondern weil ihm keine andere Wahl mehr blieb. Sie führte Gerda durch die breiten Flure bis zu einem leeren Schlafsaal, in dem es nach gekochtem Gemüse und Hühnerbrühe roch: Im Refektorium wurde gerade das Mittagessen aufgetragen.

Mit ihrem notdürftig geschlossenen Koffer in der Hand – der Aufprall hatte ein Scharnier beschädigt – war Gerda zwei Wochen vor dem errechneten Termin in dem Heim eingetroffen. Doch Eva, von Anfang an recht zielstrebig, beschleunigte die Dinge. Während Gerda noch damit beschäftigt war, ihre Kleider in den Spind zu räumen, fuhr ihr ein heftiger Krampf in den Unterleib. Verwundert blickte sie durch die hohen Fenster hinaus, als ließe sich der Grund dafür im Garten finden.

Die Schwester Pförtnerin neben ihr, die ihr gerade die Vorschriften und die Tageseinteilung in der Einrichtung erläuterte, merkte sofort, was los war. So waren sie alle, die jungen Mädchen: Wenn es so weit war, reagierten sie verblüfft, als hätten sie es bis dahin gar nicht richtig geglaubt. Als der zweite Krampf kam, schaute Gerda nicht mehr aus dem Fenster, sondern zu Boden, zwischen ihre Füße, und ihr entfuhr ein leises Stöhnen.

»Jetzt jammert ihr, aber vorher hat es euch gefallen«, sagte die Nonne, jedoch ohne Groll oder moralische Verurteilung. Eher wie die bloße Feststellung einer Tatsache, die sie selbst in jahrelanger Erfahrung beobachtet hatte und die zu leugnen so sinnlos wäre wie ein Versuch, die Wehen aufhalten zu wollen.

Die Augenfarbe der Hebamme war wie die von Wasser in einem Behälter aus dickem Glas. Eine blonde Haarsträhne war ihrer Haube entwischt, schweißnass, als sei sie es, die gebären sollte. Am Kittel über ihrer üppigen Brust steckte der »Stern der Güte«, der ihr einige Monate zuvor anlässlich des »Festes für Mutter und Kind« für ihre verdienstvolle Arbeit verliehen worden war. Während der Feierstunde waren an hundertvierzig ledige Mütter und ihre Kinder Geschenkpakete überreicht worden.

»Pressen!«, forderte sie Gerda auf.

Gerda, die gerade in einer Wehe versank, reagierte nicht. Die andere Nonne, eine Krankenschwester, ließ die Zunge gegen den Gaumen schnalzen. Sie war klein und dunkel wie der Kern einer Wassermelone und trug einen gestärkten Schleier, der wie ein Schwanenflügel aussah und nur am Hinterkopf ihre schwarzen Haarwurzeln erkennen ließ.

Voller Verachtung sagte sie zur Hebamme:

»Noch nicht mal ›pressen‹ versteht die.«

Gerda wartete, bis die Wehe vorüber war, blickte dann die Schwester an und sagte auf Italienisch, nicht ganz korrekt:

»Io capiscio«, statt ›capisco‹ – ich verstehe schon.

Da verzog die schwarzhaarige Krankenschwester ungläubig das Gesicht.

»Kapiscio …!«, äffte sie Gerdas deutschen Akzent nach und brach in fröhliches Gelächter aus. »Kapiscio …« Ihre knöchernen Schultern zuckten vor Lachen, und sie konnte gar nicht mehr aufhören.

Die Hebamme und Gerda schauten sie reglos an.

»Kapiscio …«, sagte die Krankenschwester weiter, während sie den Raum verließ. Ihr Gelächter hallte durch den ganzen Flur, bis sie die Glastür dieser Abteilung hinter sich geschlossen hatte.

Da wandte die Hebamme Gerda den Blick zu, hob eine Schulter an und schob die Unterlippe vor. Dann schloss sie die Augen mit überheblicher Miene wie eine Aufforderung, es ihr nachzutun.

»Was soll’s? Ist eben ’ne Terrona«, tröstete sie Gerda in ihrem venetischen Dialekt.

Terrona. Das war das Schimpfwort der Norditaliener für die aus dem Süden. Aber von den internen Differenzen der »Walschen«, wie sie sich unterschieden und wie wichtig es ihnen war, nicht miteinander verwechselt zu werden, von alldem wusste Gerda, die junge »Daitsche«, die mit Italienern kaum in Berührung gekommen war, überhaupt nichts. Aber sie nahm sich vor, sich dieses neue Wort zu merken. Terrona: eine dumme, ungezogene Person, die grundlos lacht.

Unterdessen hatte die nächste Wehe sie gepackt.

Die Schmerzen waren vollkommen. Eine Galaxie quälender Sterne von betörender Schönheit, die pulsierten, an ihr rissen und zerrten. In der Mitte blitzten sie dicht gedrängt, sodass es nicht auszuhalten war. Auf den spiralförmigen Armen, die davon abgingen, hingegen in größeren Abständen.

Majestätisch und unerbittlich drehte sich die Galaxie um sich selbst. Nichts hätte sie stoppen können, weder Gerdas Schreie noch ihre Angst, geschweige denn ihre totale Erschöpfung. In den wenigen Pausen entspannten sich die Tentakel des Schmerzes, streckten sich aus und nahmen Gerda mit bis zu einem Punkt, an dem sie sich einen Augenblick lang einem reglosen Frieden überlassen konnte, einer grenzenlosen, vibrierenden Stille.

Dann atmete Gerda.

Aber bald zog sich der Tentakel des Schmerzes mit animalischer Lust wieder zusammen und riss sie brutal an sich. Und erneut stürzte Gerda hinab in den glühenden Kern der Wehen.

Es kam ihr vor, als gehe das schon seit Jahrtausenden so, dabei waren erst wenige Stunden vergangen. Ihre breiten Hüften waren wie dazu gemacht, neuem Leben den Durchtritt zu erleichtern. Und schließlich geschah es, dass nach einer letzten grellen Schmerzexplosion zwischen ihren Beinen Eva zur Welt kam.

Ihre Haut war hell. Ihre Oberlippe ähnelte einer Meeresfrucht und deutete an, dass sie einmal, wie ihre Mutter, einen vollen Mund haben würde. Der kahle Schädel sah wie eine Weltkarte aus, auf der die kreuz und quer verlaufenden purpurfarbenen Äderchen, die durch die Anstrengung der Geburt hervorgetreten waren, die Flüsse, Gebirgsketten und Kontinente eines neuen Planeten beschrieben. Die wenigen Haare dazwischen waren hellblond, fast weiß. Nicht rot, was Gerda sehr erleichterte: Dieses Baby, von dem sie noch gar nichts wusste, sah nur ihr ähnlich, niemandem sonst.

Als die Hebamme ihr die Kleine gewaschen und im Strampelanzug des Hilfswerks in den Arm legte, waren Gerdas Brüste schon schmerzhaft angeschwollen. Grünliche Adern durchzogen die Haut, und die eingeschossene Milch hatte bereits ihr Nachthemd durchnässt. Wie einen Segen empfing sie den gierigen Mund des Babys, der ihre dunkle Brustwarze umschloss. Evas Kopf an ihrem Busen hob und senkte sich wie eine kraftvoll arbeitende Pumpe. Die Hebamme »Stern der Güte« sah ihr eine Weile zu und weissagte dann in ihrem rauen venetischen Dialekt:

»Die Kleine wird dir nie Scherereien machen.«

So, als fühle sie sich angesprochen, schlug Eva die Augen auf und schaute ihrer Mutter ins Gesicht, neugierig, als sei sie es, die die andere kennenlernen wolle, und nicht umgekehrt.

Die Schwester Pförtnerin behielt recht: Auch Gerda hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht glauben wollen, dass es tatsächlich wahr würde, und begann erst jetzt richtig zu begreifen, dass sie eine Tochter hatte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war da etwas, was nur ihr gehörte.

Viele der jungen Mütter blieben sehr viel länger als die vorgesehenen drei Monate im Haus, denn viele wussten nicht, wohin sie zurückkehren sollten. Die Nonnen teilten sie für einfache Aufgaben in der Küche, in der Krippe oder beim Putzen ein. Wenn sie Glück hatten, fand man eine bezahlte Akkordarbeit in irgendeinem Handwerksbetrieb im Umkreis für sie: Sticken, Stricken, Nähen und Ähnliches, das machte sie unabhängig, sodass sie sich ein eigenes Zimmer suchen konnten. Doch häufig vergingen Monate, wenn nicht gar Jahre, bis das möglich war. Hatten sie mithilfe der Nonnen tatsächlich eine Stelle gefunden und kehrten in die Welt zurück, blieben sie beim Abschied noch einmal hinter dem Tor stehen und schauten sich halb traurig, halb erleichtert ein letztes Mal um. Aber nur jene jungen Frauen, die ihr Kind bei sich behalten konnten. Die anderen, die allein das Haus verließen und deren Kinder auf der Waisenstation, streng getrennt vom Trakt der Wöchnerinnen, zurückblieben, hatten es eilig wegzukommen. Kaum konnten sie nach der Geburt wieder laufen, durchschritten sie schon das Gittertor. Und sobald die Schwester Pförtnerin es hinter ihnen schloss, drehte sich keine von ihnen noch einmal um.

In dem Zimmer mit den hohen Bogenfenstern, das Gerda sich mit sieben ledigen Müttern teilte, belegte einige Tage lang eine übergewichtige Frau das Bett neben ihr. Sie wurde Anni genannt und war von undefinierbarem Alter. Nachts schnarchte sie, und tagsüber hielt sie sich den Zeigefinger an den Mundwinkel, selbst wenn sie aß. Wie Gerda erfuhr, war Anni vorher bereits fünfmal hier gewesen. Bei keinem der Kinder, die sie dort zur Welt brachte, wusste sie, wer der Vater war. Manche Nonnen vermuteten sogar, Anni durchschaue gar nicht den Zusammenhang zwischen den Säuglingen, die mit verblüffender Leichtigkeit zwischen ihren enormen Oberschenkeln austraten, und den Dingen, die die Männer, zwischen Bierkästen und Säcken mit Sägespänen in der Abstellkammer unter der Treppe eines Wirtshauses, mit ihrem mächtigen Leib anstellten. Denn jedes Mal betrachtete sie ganz ratlos das mit Blut und Kindspech verschmierte Neugeborene, das sie da hervorgebracht hatte, bevor sie es dann der Hebamme oder einer der Krankenschwestern übergab. Wenn die Hebamme Frauen wie Anni beizustehen hatte, drängten sich ihr gewisse Gedanken zum Thema Abtreibung und Verhütungsmethoden auf, welche die Leitung des Mutter-Kind-Hilfswerks, wären sie ihr zu Ohren gekommen, gewiss dazu veranlasst hätten, ihr den »Stern der Güte« wieder zu entziehen. Deshalb behielt die Hebamme sie lieber für sich.

Gerda betrachtete Anni, wie sie wohl auch eine nur mit Perlen und Federn bekleidete Eingeborene aus dem Dschungel des Amazonasgebiets beäugt hätte, von der sie aus verlässlicher Quelle wüsste, dass sie eine entfernte Verwandte von ihr sei: bestürzt, ungläubig, misstrauisch, aber auch mit der unbezähmbaren Neugier herauszufinden, ob es nicht doch irgendwelche Ähnlichkeiten gebe. Sie fand aber keine. Es gab nur Trennendes, vor allem die Tatsache, dass Anni ihr Kind zur Adoption freigab. Daran hätte Gerda nicht im Traum gedacht. Anni ließ nicht erkennen, ob es sie traurig machte, ihr Kind wegzugeben. Bei jeder Geburt blieb sie nur kurz da, brachte den Säugling zur Welt, und am Morgen darauf war ihr Bett bereits wieder leer.

Die Tage im Heim verliefen immer gleich, waren geprägt vom festen Rhythmus des Stillens und Wiegens, von Füttern und Schlafenlegen. Die hohe Mauer, die Gerda bei ihrer Ankunft an ein Gefängnis erinnert hatte, kam ihr zunehmend wie ein Schutz vor; ein Schutz vor der Welt, die sie nicht mit offenen Armen empfangen würde, wenn ihre Zeit bei den Nonnen vorüber wäre.

Hier drangen die Ereignisse dieser Welt nur wie ein entferntes Echo zu ihr. Nach dem Abendessen saß Gerda mit Eva im Arm im Fernsehzimmer. Die Beine der unbequemen Metallstühle hatten eine Unzahl kleiner Kreise in den grünlichen Linoleumfußboden gestanzt, der das Licht der Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Kommodenfernseher zurückwarf. Jeden Abend verfolgte sie, wenn auch nicht mit besonderem Interesse, die Meldungen der Nachrichtensendung.

WISSENSCHAFTLER SIND SICH EINIG. ALGEN WERDEN IN ZUKUNFT
DAS HAUPTNAHRUNGSMITTEL DER GESAMTEN MENSCHHEIT SEIN;
SIE SIND NAHRHAFT, UND IHR VORKOMMEN IST UNERSCHÖPFLICH.

DAS VERSCHWINDEN EINES HAARES DES PROPHETEN MOHAMMED AUS DEM HAZRATBAL-SCHREIN IM INDISCHEN SRINAGAR HAT IM GANZEN LAND ZU UNRUHEN MIT TOTEN UND VERLETZTEN GEFÜHRT.

DIE UNO DISKUTIERT DEN VORSCHLAG, AUF DER GANZEN WELT DAS JAHR AN EINEM SONNTAG BEGINNEN UND AN EINEM SAMSTAG
ENDEN ZU LASSEN. EINE STELLUNGNAHME DES PAPSTES WIRD
ERWARTET.

Auch die Rückkehr Minas auf den Bildschirm wurde gemeldet. Über ein Jahr lang war die Sängerin vom Fernsehsender RAI boykottiert worden, nachdem sie ein Kind von ihrem verheirateten Geliebten zur Welt gebracht hatte. In der Meldung, die der Nachrichtensprecher verlas, hatte man es allerdings geschafft, die Worte »boykottiert«, »Geliebter« und »verheiratet« kein einziges Mal vorkommen zu lassen.

Als es dann so weit war, drängten sich die ledigen Mütter in dem kleinen Fernsehzimmer. Die Sendung hieß La fiera dei sogni (Fest der Träume), und Mina sang È l’uomo per me (Der richtige Mann für mich). Sie hatte Nase, Augen und Mund wie eine ägyptische Königin, und so wie sie beim Singen die Arme und die Hüften schwang, musste allen klar werden, dass Mina das, was andere für unmoralisch hielten, keinen Augenblick bereute. Vielen der Mädchen vor dem Bildschirm stiegen fast Tränen in die Augen, weil sie ihnen neue Hoffnung schenkte, diese gleichzeitig freche und sanfte Stimme, die niemanden um Entschuldigung bat.

»Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und nicht verheiratet zu sein«, sagte leise zu Gerda eine etwa gleichaltrige Brünette, die nicht sehr auf Körperpflege hielt und deren Blick wie ausgehungert wirkte. Sie hatte noch nicht gelernt, ihr runzliges, dunkelhäutiges Baby richtig im Arm zu halten, das daher auch in einem fort weinte.

»Das wird immer schlimm bleiben«, antwortete sie.

Unterdessen sang Mina weiter, mit einem Gesicht, das noch heller strahlte als die Strasskette über ihrem Dekolleté.

Die Schwester Pförtnerin hatte es bislang noch nicht gewagt, dem Hausgeistlichen die Sache mit der Pinzette zu beichten. Ein richtiger Diebstahl war es ja eigentlich nicht. Denn deren Besitzerin, ein Mädchen mit blond gefärbten Haaren und verdächtig feiner Unterwäsche, hatte gut einen Monat zuvor das Haus verlassen. Zurückgeblieben war ein Waisenkind mehr, für das mühsam eine Familie gefunden werden musste. Dass sie diese Pinzette aus verchromtem Stahl nun hinten in dem leeren Spind gefunden hatte, konnte sicher nicht als Sünde gelten, schon eher aber das Versäumnis, sie nicht unverzüglich der Mutter Oberin ausgehändigt zu haben. Tatsache war jedenfalls, dass seit dem Zeitpunkt, da es – dem Himmel sei Dank – mit diesen sinnlosen Menstruationsschmerzen vorbei war, die sie mehr als dreißig Jahre lang gequält hatten, auf der Oberlippe der Schwester Pförtnerin vereinzelt dunkle Haare, so hart und spitz wie Stacheldraht, sprossen. Die hatte sie immer, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, verstohlen und mit einem entschlossenen Ruck von Daumen- und Zeigefingernagel ausgerissen. In dieser Situation kam ihr die Pinzette wie gerufen.

Nun fürchtete die Schwester Pförtnerin allerdings den Moment, da sie den Mut finden würde, diese Sünde der Eitelkeit zu beichten. Das aber weniger wegen der Schande und der Zerknirschung, die sie erwarteten, sondern weil man ihr auferlegen würde, ein für alle Mal das Diebesgut an die Mutter Oberin zu übergeben. Und auf dieses saubere, akkurate Entfernen der Härchen, das so viel angenehmer und eleganter war als der wütende Ruck mit bloßen Fingern, würde sie fortan verzichten müssen.

Als sie wieder einmal mit der Pinzette einem besonders widerspenstigen Büschel Härchen zu Leibe rückte – zum letzten Mal, wie sie sich sagte, ohne allerdings tatsächlich daran zu glauben, denn seit Tagen schon hatte sie diesen Vorsatz, ohne ihn in die Tat umzusetzen –, ertönte in ihrem Reich, der Pförtnerloge, die Torglocke.

In dieser Position dem Hilfswerk zu dienen war wahrscheinlich jene Aufgabe, die eine Nonne am wenigsten dazu verleiten konnte, ihr Keuschheitsgelübde zu bedauern. Das Aussehen der Mädchen, die bei ihnen im Haus für kurze Zeit Unterschlupf fanden, ihre Niedergeschlagenheit, ihr Entsetzen, ihre Angst hatten in der Tat wenig Beneidenswertes.

Seit über zwanzig Jahren beobachtete die Schwester Pförtnerin nun schon diese jungen Frauen, die einsam und bedrückt in den Gemeinschaftsschlafsälen lagen und sich, wie an Rettungsanker, an ihre Säuglinge klammerten, nachdem ihr ganzes bisheriges Leben in Scherben gefallen war. Hin und wieder tauchten die Männer bei ihr am Tor auf, die die Mädchen nicht geheiratet hatten, und fragten nach den untergeschlüpften ledigen Müttern, junge Burschen in einem Anflug von Reue oder gestandene Ehemänner, die trotz allem etwas für die Mutter ihres unehelichen Kindes empfanden. Aber alle waren sie so offensichtlich überfordert von dem Drama, das die von ihnen geschwängerten Frauen erlebten, dass die Schwester Pförtnerin kein gar zu hartes Urteil über diese verhinderten Väter fällen mochte. Wie verzogene Kinder kamen sie ihr vor, unfähig, die ganze Härte des Schicksals zu erfassen, das ihre Geliebten erwartete. Mädchen, die man überwachen musste, damit sie sich nichts antaten. Sie brachten ihnen billigen Modeschmuck mit und bedrängten sie, die Pförtnerin, ihn weiterzugeben. Wöchnerinnen mit Brustdrüsenentzündung, die nicht stillen konnten, weil sie ihr Kind schon zur Adoption freigegeben hatten, schlugen sie romantische Wochenenden in irgendwelchen abgeschiedenen Hotels vor, um den günstigen Umstand auszunutzen, dass die Ehefrau verreist war. Und das waren nicht die Schlimmsten: Sie immerhin hatten sich gemeldet. Im guten Anzug standen sie mit betretenen Mienen vor dem Tor und versuchten hinüberzuspähen. Der Schwester Pförtnerin war bewusst, dass sie alles gegeben hätten für ein Wort oder auch nur einen Blick von ihrer Seite, der ihren Entschluss für verständlich, unvermeidlich, ja richtig erklärte, ihr Kind nicht anzuerkennen und die Mutter nicht zu heiraten. Je mehr solcher Männer sie sah, desto weniger verstand die Nonne, was an ihnen dran war, wie es ihnen gelungen war, die jungen Mädchen dazuzubringen, sich ihretwegen der Gefahr einer Schwangerschaft auszusetzen. Für sie war das ein Rätsel, und die Begegnung mit Hannes Staggl trug sicher nicht dazu bei, ihr die Sache einleuchtender zu machen.

Als sie den schweren, schmiedeeisernen Riegel zurückzog, stand vor dem Tor ein cremefarbener Mercedes 190, auf dessen verchromtem Kotflügel die Nonne einen großen weißen Vogel erblickte: ihr eigenes Spiegelbild. Erst als sie die Augen hob, registrierte sie Hannes. Er stand hinter seinem Wagen mitten auf der Straße und schaute zu den Fensterreihen jenseits der Umfassungsmauer hoch. Allerdings waren die Nonnen nicht so einfältig, die Mädchen in den zur Straße hinausgehenden Räumen unterzubringen, weil diese andernfalls ihre Tage damit zugebracht hätten, wartend hinauszusehen, ob sich nicht doch das Wunder näherte, das sie aus ihrer Not retten würde. Hinter den Fenstern, wo Hannes das Mädchen, dem er ein Kind gemacht hatte, zu erblicken versuchte, waren Nonnen bei der Arbeit.

An dem jungen Mann fielen ihr besonders das fast orangefarbene Haar auf, die durchsichtig wirkende Haut und die Hände voller Sommersprossen. Als Hannes sich nach Gerda Huber erkundigte und dem Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, atmete die Schwester Pförtnerin erleichtert auf. Zu viele uneheliche Kinder hatte sie schon zur Welt kommen sehen, die dazu verurteilt waren, für immer das Gesicht des Vaters, der sie verlassen hatte, zu tragen. Gerdas Tochter aber schien Glück zu haben und ganz nach der Mutter zu schlagen.

»Es ist ein Mädchen. Es ist gesund. Die Mutter ist auch wohlauf.«

Seine durchscheinenden Augenlider begannen zu flackern. Mit voller Wucht traf ihn die Realität, traf ihn dieses eine Wort: Mutter.

»Wie heißt sie?«

»Eva.«

Einen Moment lang blickte Hannes auf seinen Mercedes.

»Ein schöner Name.«

»Ja. Der ist schön.«

Erneut sah er zu den Fensterreihen hoch und kniff die Augen zusammen. Um in die Zimmer hinter den Scheiben, in denen sich der Himmel spiegelte, zu blicken? Um Zeit zu gewinnen? Um sich an diesen schönen Namen zu gewöhnen?

So, nun ist es so weit, dachte die Nonne Pförtnerin, jetzt kommt seine Bitte. Er hat weder ein Päckchen noch Blumen in der Hand, aber das Auto sieht nach reicher Familie aus, und wenn ein Mädchen hier wegen eines Kerls landet, der Geld hat, gibt es wenig Grund, sich etwas vorzumachen.

»Kann ich sie sehen? Die Kleine?«

Die Schwester Pförtnerin presste das Kinn gegen die Brust und schaute ihn von unten herauf an.

»Ja, wenn du ihr deinen Nachnamen gibst.«

Er senkte den Blick, schaute hinunter auf seine gut gearbeiteten Schuhe. So stand er eine ganze Weile da. In den Augen der Nonne hatten die kastanienbraunen Regenbogenhäute mit dem Alter ihre klaren Konturen verloren und lösten sich mit gräulichen Ringen an den Rändern auf. Aber die Pupillen waren noch schwarz und klar gezeichnet. Ihr Blick war nicht streng, sondern sachlich, geduldig, illusionslos. Er drückte keine Verurteilung, aber auch nicht die ersehnte Absolution aus. Sie wusste: Er würde wortlos davongehen, mit gesenktem Kopf, um nicht Gefahr zu laufen, doch einmal aufzuschauen zu den Fenstern, hinter denen er seine Tochter vermutete, die er nicht anerkennen wollte, wo in Wirklichkeit aber die Schwester Wirtschafterin Lieferantenrechnungen prüfte und die Köchin überlegte, was es zum Abendessen geben sollte.

Während der Mercedes hinter der Ecke verschwand, fragte sich die Schwester Pförtnerin einmal mehr, was das nur für eine Verlockung sein mochte, die all dieses Leid wert sein sollte. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen.

Der zweite Besuch, den Gerda erhielt, wurde ihr dagegen angekündigt.

Als die Nonne Pförtnerin den Riegel zurückzog und ihr Herr Neumann gegenüberstand, fielen ihr seine geschwollenen Augenlider auf, der stattliche Bauch, der gegen die Knöpfe seines Jacketts drückte, und vor allem sein Alter. Sie war erleichtert, dass dieses blonde, gut gebaute Mädchen, das wenig redete, aber sehr fleißig in der Küche half und sich so anmutig bewegte, dass es allen, sogar ihr selbst, eine Freude war, dass dieses Mädchen nicht von diesem dicken Mann schwanger geworden war. Auch Herr Neumann hatte eine Bitte, und zwar wünschte er sich, wie er der Pförtnerin nun erklärte, dass Gerda an ihren Arbeitsplatz zurückkehren sollte. Niemand würde auf sie herabsehen wegen dieser Sache, die ihr passiert war, dafür garantiere er. Da tat es der Schwester Pförtnerin leid, dass sie diesen Mann nur nach seiner äußeren Erscheinung beurteilt hatte – als ob die Härchen an ihrem Kinn darüber Aufschluss gäben, wer sie selbst tatsächlich war. Streng tadelte sie sich im Geiste und erlegte es sich auf, ihrem Beichtvater auch diese arrogante Oberflächlichkeit zu gestehen.

Als Gerda zur Pförtnerloge herunterkam, stockte Herrn Neumann der Atem, sodass die Knöpfe an seinem Jackett unter diesem zusätzlichen Druck abzuspringen drohten. Niemals, in seinem ganzen Leben, hatte er eine schönere Frau gesehen. Genau das hatte er zwar schon gedacht, als Gerda mit der umgebundenen Schürze seine Küche zum ersten Mal betreten hatte, sich dann aber den Gedanken verboten, um sich die Arbeit an ihrer Seite nicht unerträglich zu machen. Herr Neumann war seit fast dreißig Jahren nicht unglücklich verheiratet und hatte erwachsene Kinder und einige Enkelkinder. Darüber hinaus hatte er versprochen, Gerda vor Kränkungen zu schützen. Daher sagte er jetzt nur zu ihr:

»Gerda gibs lai oane« – eine wie dich gibt’s nur einmal.

Sie packte schnell ihren Koffer und stieg in den pistaziengrünen Fiat 1300 mit dem weißen Verdeck, von dessen Raten Herr Neumann mittlerweile über die Hälfte abgezahlt hatte. Während sie für immer die Opera Nazionale Maternità e Infanzia hinter sich ließ, nahm sie zwei Dinge von dort mit: eine fünfwöchige Tochter, die nie schrie, und beachtliche Fortschritte in der Beherrschung der italienischen Sprache. Eines jedoch ließ sie zurück: die Überzeugung, dass es die wahre Liebe gebe und dass sie dazu ausersehen sei, sie zu erleben.

Als der Fiat 1300 um die Ecke entschwand, standen die Nonnen, also die Hebamme »Stern der Güte«, die Krankenschwester aus dem Süden und all die anderen, die dort den Mädchen beistanden, auf dem Gehweg und winkten ihr nach, glücklich, dass zumindest Gerda einen Platz gefunden hatte, wo sie erwünscht war.

Am folgenden Morgen erschien die Schwester Pförtnerin zum wöchentlichen Gespräch mit dem Hausgeistlichen. Sie beichtete ihm all ihre Sünden. Dann machte sie sich auf den Weg zur Schwester Oberin und händigte ihr, mit Erleichterung und Bedauern, die Pinzette aus.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
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