1964
Die Lage war etwa so:
Der Heuboden eines alten Hofes zu Ende des Sommers. Die Ernte war gut, es hat weder zu viel noch zu wenig geregnet, das Heu lagert trocken auf dem Zwischenboden. Die Klappe, durch die es der Bauer dann im Laufe des Winters hinunter in den Stall und dann weiter in die Futtertröge befördern wird, ist aus altem Holz; auch der Fußboden, die Wände und Balken, die das Dach tragen, und die Schindeln darauf sind aus Tannenholz und schon sehr alt. Auf dem Boden steht eine brennende Kerze, die zischt, raucht, ihren Docht verzehrt. Der Wind pfeift durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern und lässt das Flämmchen aufflackern, dann ein heftigerer Windstoß, und die Kerze kippt ins Stroh.
In jenem Sommer 1964 waren sie wirklich alle nach Südtirol gekommen, um in die Glut zu blasen und das Feuer zu entfachen.
Begonnen hatte es mit einigen polizeilich gesuchten Mitgliedern des BAS, die sich von der Gruppe abspalteten, weil ihnen das Vorgehen der »Bumser« zu harmlos schien. Anschläge gegen Hochspannungsmasten brächten nichts, erklärten sie. Um die »Heimat Südtirol« zu befreien, seien bewaffnete Guerillaaktionen notwendig. Und wenn dabei Blut fließen sollte, müsse man das eben hinnehmen.
Nach und nach waren sie alle aufgetaucht: die österreichischen Neonazis; die sich intellektuell gebenden Mitglieder der NPD, der Wiedergeburt von Hitlers NSDAP, ein Sammelbecken unbelehrbarer Anhänger eines »Deutschland über alles«; die italienischen Neofaschisten. Die rechtsradikalen Burschenschaften österreichischer Universitäten, der KGB, der von der sowjetischen Botschaft in Wien aus Kontakt zu den radikalsten Terroristen aufgenommen hatte; die Agenten italienischer und amerikanischer, österreichischer und deutscher Geheimdienste. Ja, selbst die Belgier waren vertreten, was man andererseits auch wieder verstehen konnte, denn jedweden flämischen Agent Provocateur mit einem Minimum an Berufsethos musste es reizen, im turbulenten Südtirol der sechziger Jahre, das damals viel bessere Karrierechancen als das heimische Flandern bot, den Dienst aufzunehmen. Schließlich war dann auch noch General De Lorenzo mit seinen Männern auf der Bildfläche erschienen. De Lorenzo war der Oberkommandierende der Carabinieri, früher Chef des italienischen Geheimdienstes SIFAR sowie der Verbindungsmann der CIA beim Aufbau der paramilitärischen Geheimorganisation Gladio.
So tummelten sich wirklich alle im schönen Südtirol, dem Land der nach frisch gemähtem Heu duftenden Wiesen, der rosaroten Felszinnen, der vom Rhododendron entflammten Steinmauern, der weiß glitzernden Gletscher oben an der Grenze und der Seilbahnen voller nach sportlicher Betätigung dürstender Skifahrer. Ja, sie waren wirklich alle gekommen, um hier die Generalprobe für ein Stück aufzuführen, das damals noch gar keinen Namen hatte, später aber, als handele es sich um ein harmloses Gesellschaftsspiel, »Strategie der Spannung« genannt wurde. Die Mitspieler: offen gewaltbereite Extremisten, V-Männer mit der Aufgabe, die Spannungen zu verschärfen, und ein Staatsapparat, der unbesonnener und härter noch als unter Mussolini reagierte.
Alles war bereit, ein Funken würde reichen, um das Feuer zu entfachen.
Von alldem hatte Peter keine oder nur eine sehr vage Ahnung. Dabei hatte auch er an subversiven Treffen in Almhütten gleich jenseits der Grenze teilgenommen und Leute kennengelernt, die so ganz anders als die zu Hause waren. Studenten mit dicken Hornbrillen zum Beispiel, die mit Wiener Akzent Verse aus den Räubern deklamierten, als habe Schiller sie eigens für sie verfasst, und pathetisch die kalte Luft der Alpennächte tief in sich einsogen, felsenfest davon überzeugt, einen historischen Augenblick zu erleben. Da war ein junger Assistent von der Innsbrucker Universität, ein Mann mit wulstigen Lippen und fleischigen Fingern, redegewandt trotz der vom Übergewicht rührenden Kurzatmigkeit, der meinte, nicht zu spät geboren worden zu sein, um noch vom Tausendjährigen Reich zu träumen. Oder ein Chemiker aus Bayern, der Peter beibrachte, wie man eine Bombe bastelte, und dessen Finger mit der Präzision und Leichtigkeit von Schmetterlingen auf einer Blumenwiese über Sprengstoff und Zünder glitten. Aber niemand von ihnen sprach jemals über die Tatsache, dass Peter sich in einer Fremdsprache verständlich machen musste, um im Rathaus irgendeine Bescheinigung zu erhalten, oder dass er lange keine Arbeit hatte finden können, weil er der falschen Volksgruppe angehörte. Nein, diese Leute hatten andere Themen: nationaler Befreiungskampf, Blut und Boden, bedrohtes Grenzlanddeutschtum, Volks- und Kulturgemeinschaft, Ausdehnung des deutschen Volkes in seinem rechtmäßigen Lebensraum.
Peter wusste gar nichts von diesen Leuten, stellte aber auch keine Fragen. Er wusste nicht, dass sie bereits Sprengsätze nach Italien geschmuggelt hatten und dort an konkreten Plänen arbeiteten, die abenteuerliche Namen trugen: »Operation Sophia Loren« etwa, eine Anschlagserie auf von italienischen Soldaten besuchte Bozener Kinos, die aber nicht in die Tat umgesetzt wurden; »Operation Panik«, Anschläge auf den öffentlichen Nahverkehr einiger großer italienischer Städte mit vielen Verletzten in einer römischen Straßenbahn; »Operation Eisenbahnterror«, eine Bombendetonation am Bahnhof von Verona mit rund zwanzig Verletzten, und endlich auch, nachdem man lange darauf hingearbeitet hatte, dem ersten Toten.
An Peter waren diese Leute nur deshalb interessiert, weil er schon als Bub mit dem Gewehr über der Schulter die Grenzpfade abgelaufen war. Weil er sie besser kannte als die Falten im Gesicht seiner Mutter, diese Wege der Gämsen, Hirsche und Steinböcke beiderseits der ungerechten Grenze zwischen Österreich und Italien, weil er Fährten lesen konnte, die schwachen Linien gelockerten Erdbodens zwischen Latschenkiefern und Geröllfeldern. Weil er über diese Wege also auch jene führen konnte, die unter dem Hemd Dynamitkerzen transportierten, die sich an Kontrollstellen vorbeischleichen wollten, um italienische Milizen zu überrumpeln, oder die nach einem Attentat auf der Flucht waren. Und schließlich war Peter interessant für diese Männer, die so viel gebildeter waren als er selbst, weil er vor der Vorstellung zu töten nicht zurückschreckte, und zwar nicht nur mit Wild als Jagdtrophäe.
Was macht einen Menschen zum Mörder? Wann verschmilzt seine Wut wegen einer historischen Ungerechtigkeit mit einem anderen Groll, der persönlicher ist, intimer, peinlicher, weil er noch nie jemandem anvertraut wurde, und lässt diesen Menschen plötzlich zu einem Sprengsatz greifen? Wann schlägt es um, sein Streben nach dem, was er für ein höheres Gut hält, in Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, das er im Namen dieses Gutes verübt? Was befähigt ihn dazu, die Herrschaft der Gebote zu stürzen, die wie eine Mauer die menschliche Gemeinschaft trennt: auf der einen Seite jene, die noch nie getötet haben, und auf der anderen diejenigen, die es getan haben, und sei es auch nur ein einziges Mal? Handelt dieser Mensch leichter aus voller Überzeugung, oder hat er eine Seele, die erkaltet ist, still und stumm wie ein See im Winter, in dem die Barmherzigkeit eingefroren wurde und sich nur noch tief unten, in verborgenen Strudeln, regt, die vielleicht noch die kleinen Steine auf dem Grund bewegen, aber nicht mehr das Eis aufbrechen können? Darüber hat sich Peter nie Gedanken gemacht.
Gerdas Bruder mit den dunklen, kein Licht reflektierenden Augen hatte seinen Sohn Sigi nur wenige Male, und das auch nur für ein paar Stunden, gesehen. Anders als bei Ulli hatte er für ihn auch auf keine Zielscheibe geschossen, auf der in gotischen Buchstaben »Siegfried« stand, denn bei der Taufe seines zweiten Sohnes war er gar nicht dabei gewesen.
Seit Langem schon wartete Leni nicht mehr auf ihren Mann. Die seltenen Male, wenn Peter nach wochenlanger Abwesenheit auf dem Hof ihrer Eltern, wo sie jetzt wieder mit den Kindern lebte, auftauchte, immer auf dem Sprung und meistens in der Dunkelheit, fragte ihn niemand etwas. Nicht nur, weil sie keine Antwort erhalten hätten, sondern vor allem, weil sie sich auf diese Weise selbst keine Rechenschaft über ihre eigene Haltung ablegen mussten. Offiziell war Leni noch Peters Ehefrau, aber längst waren dessen wahre Familie nicht mehr sie, Ulli und der Säugling Sigi, sondern Fremde, mit denen er allerdings nicht das Bett oder eine behagliche Stube teilte, sondern Waffen, Sprengstoff, Minen, Zündschnüre und Zünder, Fluchtpläne, gefälschte Papiere, Märsche über alte Schmugglerpfade, das Umgehen von Straßensperren.
Am 27. August 1964 gab die Musikkapelle eines Nachbardorfs ein ganz besonderes Konzert oben auf dem Berg, an dem Paul Staggl und die anderen Mitglieder des Konsortiums in atemberaubendem Tempo einen immer größeren, fantastischen Skijahrmarkt aufbauten. Die Veranstaltung sollte dazu beitragen, jene Stimmen verstummen zu lassen, die ihn mittlerweile »die Fabrik« nannten, den von den Stahlträgern der Seilbahnen, die echte Naturliebhaber niemals benutzt hätten, verschandelten Berg. Paul Staggl wollte seinen Landsleuten und den Sommergästen beweisen: Trotz der Sesselbahnen und Skilifts, Erfrischungsbuden und Stahlmasten (die sich bald schon über drei Hänge ziehen würden), der Restaurants mit dem bahnbrechenden, von den Militärkantinen übernommenen Selbstbedienungskonzept und des Viersternehotels auf mehr als zweitausend Metern Höhe – trotz alledem triumphiere dort oben auf dem Gipfel immer noch unangefochten die Natur. Und neben der Schönheit der »Heimat« mit dem 360-Grad-Blick von den Grenzgletschern bis zu den Dolomiten in der Ferne verblasste alles andere. Im Grunde kamen die Touristen aus der Stadt ja nicht nur, um Ski zu fahren, eine für das Wirtschaftswunderbürgertum mittlerweile unverzichtbare sportliche Aktivität, sondern auch, um sich an dieser majestätischen Pracht sattzusehen.
Und nichts konnte diese Tatsache eindringlicher unterstreichen als ein Konzert oben auf dem Gipfel, von Musikanten in den Trachten der Vorfahren. Im Programm auch die Welturaufführung einer Komposition des Direktors der Musikkapelle mit dem Titel »An meinen Berg«.
An jenem Tag brachte die von Gerda und Hannes eingeweihte Seilbahn ordentlich Geld ein: Touristen und Bewohner der Kleinstadt zog es in Scharen hinauf. Leni, in Begleitung ihrer Eltern, hatte auch die Kinder dabei, den Säugling Sigi, der, benommen von der dünnen Luft auf zweitausend Metern Höhe, durchschlief und auch nicht aufwachte, wenn der Kinderwagen rumpelnd gegen im hohen Gras versteckte Steine stieß. Und Ulli, der fest die Hand seiner Großmutter drückte, die Stirn gewölbt wie ein junges Reh, die Augen mit den langen, dunklen Wimpern zu jenem Ausdruck gespannter Erwartung aufgerissen, den er so oft in seinem kurzen Leben zeigen sollte.
Die letzten Klappstühle auf der Wiese wurden belegt, und Stille kehrte ein, nur ein-, zweimal unterbrochen vom Krächzen der schlauen Krähen. Der Dirigent hob seinen goldenen Stab, mit dem er auch den Marschtakt bei den Umzügen vorgab: und eins und zwei und … Ein Donnerschlag. Ein Knall, der unmöglich von Musikinstrumenten erzeugt worden sein konnte.
Auf der Provinzstraße unten am Fuße des Berges, einige Kilometer weiter östlich und zweitausend Meter tiefer, war ein Jeep auf eine Mine gefahren und in die Luft geflogen. Niemand starb, aber vier Carabinieri wurden schwer verletzt.
In den ersten Septembertagen kam in einem Nebental ein Carabiniere durch Gewehrschüsse ums Leben, die durch das geschlossene Fenster der Kaserne, in der er stationiert war, abgefeuert wurden. Natürlich machte man sofort die Terroristen für die Tat verantwortlich, doch wie sich herausstellte, handelte es sich wohl um einen privaten Racheakt.
In der Nacht zwischen dem 6. und dem 7. September richtete in einer abgeschiedenen Almhütte ein V-Mann des Geheimdienstes im Schlaf Luis Amplatz hin, eines der zwei noch flüchtigen BAS-Mitglieder, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieben hatten. Seine Beerdigung schlug höhere Wellen und war besser besucht als ein Staatsbegräbnis: Selbst Südtiroler, die den bewaffneten Kampf ablehnten, sahen mehrheitlich in der Ermordung von Luis Amplatz eine Hinrichtung durch den italienischen Staat.
Einige Tage darauf flog nicht weit von der Kleinstadt, in der die Hubers und die Staggls lebten, wieder ein Militärjeep in die Luft, diesmal durch eine über Funk gezündete Bombe. Verletzt wurden sechs Carabinieri, davon vier schwer. Einer verlor ein Auge, ein anderer ein Bein.
Die Kühe unten im Stall schnuppern unruhig den beißenden Geruch, den die Kerze verströmt. Bald schon wird die Flamme auf das Heu übergreifen. Kaum vorstellbar, wie und durch wen der Stall dann noch zu retten wäre.
Einmal im Monat wurde Frau Mayers Hotel mit allen Zutaten beliefert, die für die süßen Nachspeisen gebraucht wurden: Mehl, Zucker, Pinienkerne, Rosinen, kandierte Früchte, bunte Zuckerstreusel, Silberkügelchen, Kakaopulver. Und zwar von einem jungen Burschen aus Trient, dessen Nachname auf »nin« endete wie der Kosename eines kleinen Jungen, den jedoch alle nur »Zuckerbub« nannten: der Junge, der die Zuckersachen brachte. Für den Grund dieses Beinamens gab es allerdings auch eine zweite Version, und die hatte mit der Tatsache zu tun, dass er den Damen – allen, ohne Ausnahme – Blicke zuwarf, die noch süßer als seine Zutaten waren. Selbst Frau Mayer blieb davon nicht unberührt und schaute, wenn sie aus der Küche von seinem Eintreffen erfuhr, kurz in den großen Spiegel an der Wand hinter der Bar.
Die Hotelbesitzerin kam Herrn Neumann in dessen Herrschaftsbereich nicht ins Gehege und überließ es ihm, das Abladen von Warenlieferungen zu überwachen. Tauchte aber der Zuckerbub auf, fand sie immer einen Grund, sich auf dem Platz vor dem Hintereingang der Küche herumzutreiben, erbat sich eine Erläuterung zu einer bestimmten Rechnung, ließ dem Chef des Jungen – einem alten Schulkameraden von ihr – Grüße übermitteln oder gab dem Faktotum Anweisungen, wie irgendwelche Fässer zu stapeln seien. Alles war ihr recht, um sich, und sei es auch nur kurz, diesem Blick auszusetzen, der sich wie Samt an ihren weiblichen Körper schmiegte. Den Rest der Tage, an denen der Zuckerbub seine Waren geliefert hatte, brachte Frau Mayer in einem Zustand vager Erwartung und hoffnungsvoller Melancholie zu, in der blassen Erinnerung an etwas Verzehrendes, was sie jedoch nicht hätte benennen können.
So verschwommen und hauchzart Frau Mayers Gefühle waren, so zielstrebig und entschlossen ging der Zuckerbub vor, was Gerda betraf: An ihrem nächsten freien Abend würde er sie abholen, erklärte er, und sie zum Tanz ausführen.
Trotz all seiner Erfahrungen als honigsüß lächelnder Frauenliebling war es selbst für den Zuckerbuben neu, in Begleitung einer Frau ein Lokal zu betreten, bei deren Anblick sich allen die Pupillen weiteten: den Männern vor Verlangen, den Frauen aus Bestürzung über den Kontrast zur eigenen Erscheinung.
Auch für Gerda war es ein erstes Mal. Sie war noch nie ausgeführt worden, denn Hannes hatte sich in öffentlichen Lokalen nicht mit ihr zeigen wollen. Wenn sie sich trafen, waren sie allein geblieben, nicht nur an jenem Tag in der Seilbahn, sondern immer. Sie hatte neben Hannes in seinem Mercedes gesessen, während er den Wagen durch die Kehren irgendeiner Passstraße steuerte, und dann hatten sie angehalten und sich auf einer einsamen Wiese geliebt. Einmal war er mit ihr auch ins Cadore gefahren, in ein Hotel, ganz ähnlich dem, wo sie arbeitete, nur etwas kleiner. Verlegenheit gegenüber den Angestellten, die genau ihren eigenen Kollegen glichen, mit denen sie tagtäglich die Mühen der schweißtreibenden Arbeit teilte, blieb ihr erspart: Zwei Tage lang kamen sie nicht aus dem Zimmer und ließen sich Essen und Trinken auf einem Tablett vor der Tür abstellen.
Gerda hatte in dieser Abkapselung ihrer Liebe einen Beweis für deren Vollkommenheit gesehen. Dass Hannes andere Gründe haben könnte, dass er einfach nicht mit ihr zusammen gesehen werden wollte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Tatsache war jedenfalls, dass sich Gerda bis zu diesem Abend noch nie an der Seite eines Mannes in der Öffentlichkeit gezeigt hatte.
In dem Lokal stand eine Jukebox.
»Was hörst du gern?«, fragte der Zuckerbub Gerda.
»Mina.«
Er warf eine Münze ein und wählte eine 45er-Scheibe: È l’uomo per me – der richtige Mann für mich. Dann legte er ihr einen Arm um die Taille und drückte sie an sich. Gerda dachte an Minas ägyptische Augen und die unzähligen Anspielungen in ihrem Blick und musste lächeln: Auch sie, Gerda Huber, Tochter von Hermann und Johanna Huber, tanzte nun.
Die Nacht verbrachten sie zusammen in seinem Lieferwagen und liebten sich zwischen Zucker- und Mehlsäcken. Als sie ins Hotel zurückkehrte, hingen in ihren blonden Haaren Silberkügelchen, Schokoblättchen und bunte Zuckerstreusel, und dank der erfahrenen Hände des Zuckerbuben fühlte sie sich so cremig, fluffig und leicht wie ein Karnevalskuchen.
Einige Stunden später erschien Frau Mayer mit zusammengekniffenen Lippen in der Küche, und Herr Neumann befürchtete sofort, dass es im Speisesaal Reklamationen gegeben habe. Doch mit einer Geste so trocken wie altes Brot deutete die Hotelbesitzerin auf Gerda, die gerade an der Salattheke für eine Garnierung aus Radieschen Blütenknospen schnitzte.
»Zwei Soldaten fragen nach Ihnen«, sagte sie im Tonfall schneidender Höflichkeit zu ihr.
Gerda blickte zu ihrem Chef auf. Als Zeichen der Zustimmung ließ Herr Neumann das Kinn gegen seinen fetten Hals klatschen, und keine zwanzig Minuten später saß Gerda vor einem Schreibtisch in der Carabinierikaserne am Ende der Straße.
Vor sich hatte sie zwei Soldaten. Einer hockte hinter dem Schreibtisch, sie vermutete, ein höherer Dienstgrad, auch wenn sie von Kragenspiegeln und Abzeichen keine Ahnung hatte. Der andere stand und schaute sie mit halb geöffnetem Mund an, als wisse er nicht genau, was er in ihr sehen sollte, eine Bürgerin, eine sehr schöne Frau oder eine Tatverdächtige.
»Peter Huber ist Ihr Bruder?«
»Ja.«
»Was wissen Sie über seine Aktivitäten?
»Welche Aktivitäten?«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Bevor meine Mutter starb.«
»Wann war das?«
»Vor anderthalb Jahren.«
»Haben Sie ein enges Verhältnis?«
Sie flatterte mit den Lidern. »Er ist mein Bruder.«
»Ihr Bruder steht unter dringendem Tatverdacht, Anschläge gegen Vertreter und Infrastruktur des italienischen Staates verübt zu haben.«
»Das verstehe ich nicht.«
Der Offizier sog entrüstet die Luft durch die Zähne.
»Ja, natürlich. Ihr hier oben wisst gar nicht, was das ist, der italienische Staat …«
»Nein … ›Infra…‹«
Der stehende Soldat wandte jetzt zum ersten Mal den Blick von Gerda ab und sagte, beflissener als gewünscht, zu seinem Vorgesetzten: »Infrastruktur. Das Wort ist es …«
Ein gereizter Blick des anderen ließ ihn verstummen. Der Soldat senkte den Blick, hob ihn dann wieder zu Gerda und verfiel erneut in staunendes Schweigen.
Der Tonfall, in dem sich der Offizier auf seinem Stuhl nun wieder an die Vorgeladene wandte, klang nach Gitterstäben, Handschellen, nach harten, aber gerechten Strafen.
»Damit sind Brücken gemeint, Signorina, Straßen, Leitungsmasten … Vor allem aber das Leben von Soldaten, die während der Ausübung ihres Dienstes Opfer von Anschlägen werden.«
Sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass Gerda nichts von ihrem Bruder wusste. Dennoch behielten sie sie etwas länger da, als es notwendig gewesen wäre, einfach so, aus Gewohnheit, nicht um sie in die Enge zu treiben. Gerda machte es nichts aus, immerhin erhielt sie auf diese Weise unverhofft ein paar Stunden Pause. Aber sie war auch besorgt: Was trieb Peter da, was war aus ihm geworden, warum waren diese Soldaten hinter ihm her? Traurig dachte sie an Leni, an ihren verlorenen Gesichtsausdruck, als sie sie zuletzt gesehen hatte, und an ihre beiden Kinder. Dann musste sie an Eva denken, und ihre Arme kamen ihr leer vor. Sie hatte ihre Tochter bei der vielköpfigen Familie Schwingshackl wie den obersten, kleinsten Stein eines Mandls abgesetzt, eines Steinmännchens, das in den Bergen die Pfade markierte und das man nicht aus den Augen verlieren durfte, weil man sich sonst verirren würde zwischen Kiefern und Geröllhalden – oder im eigenen Leben.
Der Carabiniere mit dem niedrigeren Dienstgrad brachte sie zum Kasernenausgang. Mit nur einem Schritt überwand er die Schwelle, die den Gehweg von dem faschistischen Klotz trennte, und fragte sie, befreit von der autoritären Aura dieser Architektur, ob er sie mal wiedersehen dürfe.
Er könne sie ja noch mal festnehmen, antwortete Gerda, und der junge Carabiniere lachte dümmlich. Aber das war ihr egal. Sie musste ihn ja nicht heiraten und ihm keine Kinder schenken oder ewige Liebe schwören. Nichts anderes hatte sie mit ihm zu tun, als an seinem nächsten freien Abend mit ihm loszuziehen und die Hüften zu schwingen zu Minas samtweicher und doch energischer Stimme.
Es roch nach Schimmel, Verwesung, Urin und abgestandenem Alkohol. Der Gestank überlagerte den Duft frisch gemähten Heus, der von den Wiesen zu den Häusern zog, tränkte die kühle, leicht bewegte Luft dieser Septembernacht, drang wie ein schleimiger, giftiger Tentakel in die Nasenflügel ein. Dieser Geruch erreichte auch die vier Carabinieri, die kurz vor Tagesanbruch an die Tür eines Hauses in Schanghai pochten. Die Menschen hier schienen einen leichten Schlaf zu haben, denn Maresciallo Scanu, der ranghöchste Carabiniere, hatte gerade die Hand gehoben, um ein zweites Mal gegen das abgeblätterte Holz zu schlagen, da bewegte sich schon die Tür in den Angeln. Die Luft, die den Männern aus dem Wohnungsinnern entgegenschlug, rief wie ein böser Fluch archaische Ängste bei ihnen wach.
Auch der Appuntato – der Unteroffizier – und die beiden anderen stammten wie Maresciallo Scanu aus Süditalien. Alle vier waren sie jeweils fast einen halben Kopf kleiner als der Mann, der ihnen öffnete. Nur ihre Schirmmützen rückten ein wenig die Proportionen zurecht. Obwohl teils schon über ein Jahr, teils erst wenige Monate in Südtirol stationiert, war das Heimweh nach dem Süden bei allen gleich groß. Eines allerdings hielten sie diesen Südtirolern hier zugute: Es waren durchweg korrekte, saubere Leute, für die Ordnung einen hohen Wert hatte. Und so fragte man hier auch nicht »Tutto bene?« (alles gut), sondern »Alles in Ordnung?«, wenn man sich traf. Einen Saustall wie diesen hier hatten die Carabinieri in Südtirol zuvor noch nicht gesehen.
Die Stube, in die sie blickten, war mit schmutzigen Kleidern, Holzscheiten und den Einzelteilen eines auseinandergebauten Motors übersät. Die Töpfe und Pfannen auf dem Herd waren mit Dreckkrusten überzogen, die mit den Essensresten und Abfällen zu einem einzigen stinkenden Mischmasch verschmolzen. Verschiedene Eimer mit Schmutzwasser standen, umgeben von Dutzenden leerer Flaschen, auf dem Fußboden herum. Bis vor anderthalb Jahren war dieses Haus, obwohl feucht und dunkel, normal bewohnt gewesen, doch nun war es zu einer Müllhalde, einem Schrottlager verkommen. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, trug ein vergilbtes Unterhemd, eine alte Hose voller Schmutzkrusten und einen struppigen Bart.
Sie verhörten ihn im Stehen, sagten, sie suchten seinen Sohn. Den habe er schon lange nicht mehr gesehen, erklärte er. Ob er wisse, wo er sich aufhalte? Nein? Wo er wohne? Er habe keine Ahnung, auch seine Schwiegertochter sei fortgezogen. Er glaube ihm kein Wort, brauste der Maresciallo auf und drohte ihm schlimme Konsequenzen an, wenn er weiterlüge. Der Mann schwieg.
Die beiden einfachen Carabinieri machten sich daran, das Haus zu durchsuchen. Gewöhnlich, so wusste der Maresciallo, folgte der Hausherr den Polizisten und passte auf, dass nichts ramponiert wurde, stellte zurück, was sie in die Hand genommen hatten, beeilte sich, Schlösser und Riegel zu öffnen, um zu verhindern, dass sie aufgebrochen wurden, oder auch nur, um die Durchsuchung zu beschleunigen. Dieser Mann nicht. Reglos stand er in dem nur von einer Glühbirne erhellten Zimmer und sagte kein Wort, als gehe ihn das Hin und Her der Carabinieri gar nichts an. Er fragte auch nicht, weshalb sein Sohn gesucht wurde. Nicht, weil er den Grund bereits kannte, sondern weil in diesem alten Mann, der noch nicht einmal sechzig Jahre alt war, keine Fragen mehr waren.
Maresciallo Scanu schaute Hermann Huber ins Gesicht und musste an einen Friedhof denken.
Hausdurchsuchungen, Razzien, Erstürmungen von Privatwohnungen durch Polizeieinheiten werden nicht durchgeführt, wenn es bereits Tag geworden ist, wenn sich die Leute schon das Gesicht gewaschen und einen warmen Milchkaffee getrunken haben. Razzien geschehen auch nicht, wenn auf dem Herd eine Suppe kocht, glasig angeschwitzte Zwiebelscheiben ihren Duft verströmen und das Brot auf dem Küchenbrett darauf wartet, geschnitten zu werden; wenn die Bauern noch nicht vom Feld zurück sind und ihre Frauen auch nicht, wenn tief hängende, düstere Spätsommerwolken das frisch gemähte Heu bedrohen und alle Hände gebraucht werden, damit es beim ersten Donnern sicher auf dem Heuboden liegt – nein, auch dann geschieht es nicht und ebenfalls nicht, wenn es am Boden schon dunkel ist, der Himmel aber noch opalfarben schimmert und in der Stube die Säuglinge bereits auf den Armen der älteren Schwestern eingeschlafen sind, die Frauen Strümpfe stopfen und die Männer über den Erdrutsch reden, der nach dem letzten Gewitter die Straße verschüttet hat. Nein, der passende Moment für Razzien, Festnahmen, Hausdurchsuchungen ist seit Menschengedenken die schwärzeste Stunde der Nacht, vor dem ersten Dämmern.
Wenn die nachtaktiven Tiere mit einem noch halb lebenden Stück Fell oder Gefieder im Maul schon wieder in ihrem Bau verschwinden und die tagaktiven ihren Unterschlupf noch nicht verlassen haben; wenn die Menschen zwar nicht mehr rennen und fliegen mit ihren im Traum ewig gelenkigen Körpern, sich ihrer realen, sehr viel gebrechlicheren Hülle aber auch nicht richtig bewusst sind; wenn sich die Strömungen zwischen Berg und Tal einen Moment lang aufheben, die Luft steht und sich Kälte und Wärme nicht wie üblich vermischen: Genau in diesem kurzen Zeitraum, der so dunkel ist, still und reglos, in dem nichts passiert, rücken Polizei und Soldaten an, mit Stiefeln und Mannschaftswagen, brüllen Befehle, die nichts ordnen, sondern nur einschüchtern sollen mit jener Urgewalt, die ein Mensch mit einer Waffe in der Hand über Unbewaffnete ausübt.
Doch diesmal war es helllichter Tag, kurz vor Mittag, als die uniformierten Einheiten am Steilhang über dem Tal bei den Bauernhäusern vorfuhren, die sich um eine kleine Kirche drängten. Eine Gemeinschaftsaktion von Gebirgsjägern, Carabinieri und Polizei, fast tausend Mann, mit Mannschaftswagen, gepanzerten Fahrzeugen und sogar einem richtigen Panzer. Es war also nicht schwer, auf sie aufmerksam zu werden. Im Schutz einer Heugarbe wurden Gewehrschüsse abgegeben. War es der Gesuchte, Peter Huber, der da schoss? Und wenn ja, waren auch die anderen bei ihm? Die Leute, die nur wenige Tage zuvor eine Panzerabwehrgranate gezündet und ein halbes Dutzend Soldaten verletzt hatten? Waren es Terroristen, die dort hinter den Heugarben lauerten? Und wie viele waren es? Oder war es nur einer? Das konnte man nie wissen. Wie Kinder, die Cowboy und Indianer spielten, hatten sie aus einer provisorischen Deckung auf die Soldaten geschossen, doch die Waffen waren echt, und ein Mann wurde verwundet. Wer sie auch sein mochten, jetzt flohen sie die steilen Hänge hinauf, folgten erst den Pfaden der Jäger und dann denen der Steinböcke, tauchten, wie nach jedem Anschlag, auf österreichischem Territorium unter und ließen die Bewohner der Höfe allein, die jetzt die Wut und Enttäuschung der italienischen Polizisten und Soldaten zu spüren bekamen. Plötzlich hallten Glockenschläge durch die klare Septemberluft, als wollten sie Alarm schlagen.
Es war Lukas, der alte Küster mit dem schütteren, meist ungekämmten Haar und den kurzen, doch vom jahrzehntelangen Glockenstrangziehen muskulösen Armen. Der Umstand, dass die Siedlung von bewaffneten Soldaten eingekreist war, schien ihm kein Grund zu sein, seine tägliche Pflicht zu vernachlässigen: Mittags um zwölf wurde zum Angelus geläutet. Die Soldaten allerdings kannten weder Lukas noch sein Pflichtbewusstsein, folgerten, dass dies ein Signal für die Terroristen sein müsse, von oben das Feuer zu eröffnen, und erstürmten daraufhin diese kleine Ansammlung einzelner Bauernhäuser, als gelte es, eine Festung zu schleifen.
Sie traten Türen ein und brüllten Befehle, als wäre der Krieg nie zu Ende gegangen und Italiener und Nazis immer noch Verbündete. Sie schossen auf die Hühner, die aufgeregt ihre Füße umflatterten, und verwandelten sie in reglose Klumpen aus Federn und Blut. Männer, Frauen, Alte und Kinder, alle wurden aus den Häusern getrieben. Auch in die Stube, wo eine taube alte Frau, eingeschlossen in die Stille, die sie seit Jahrzehnten umgab, vor einem Spinnrad saß, stürmte ein Soldat, ein junger Mann aus Niscemi in der Provinz Caltanisetta, der gerade mal zwei Monate Wehrdienst hinter sich hatte. Er war achtzehn und mit einem Sturmgewehr bewaffnet, von dem er kaum wusste, wie damit umzugehen war. Als er die alte Frau inmitten des Geschreis und der Schüsse so reglos dasitzen sah, vermutete er, dass sie etwas zu verbergen habe, zielte auf ihr Gesicht und schoss. Er verfehlte sie, und unmittelbar neben dem grauen Zopf, den sie um den Kopf geschlungen hatte, schlug die Kugel hinter ihr ein, wie ein neues Astloch in der mit Zirbelkiefernholz verkleideten Wand. Erst jetzt hob die Frau den Kopf.
Zwei andere Soldaten drangen ins Haus von Lenis Eltern ein. Als Ulli sie sah, rannte er quer durch die Küche zu seiner Mutter und barg sein Gesicht zwischen ihren Beinen. Vielleicht würde dieser Albtraum enden, wenn er sich weigerte, ihm ins Angesicht zu schauen. Leni senkte die Pfanne, in der sie gerade ein Stück Butter hatte schmelzen wollen, und hielt sie ihm wie einen Schutzschild vor den Kopf. Der eine Soldat blieb in der Tür stehen, während der andere zu dem Bettchen in einer Ecke des Raumes trat, die MP auf den Kopf des schlafenden Sigi richtete und gleichzeitig Leni zuschrie, sie solle ihm sagen, wo ihr Mann stecke, sonst werde er abdrücken.
Leni wusste nicht, wo Peter war. Sie wusste weder, wo er sich aufhielt, noch was er tat und aus welchem Grund. Sie hatte es nie gewusst und ihn auch nie danach gefragt. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob dieser Mann, der wenige Stunden zuvor mitten in der Nacht in ihrem Bett aufgetaucht und bald schon wieder verschwunden war, eben jener Peter Huber war, dem sie vor langen Zeiten einmal ewige Treue geschworen und dessen Gesicht sie seit Monaten nicht mehr bei Tageslicht gesehen hatte. Im Moment wusste sie nur, dass der Kopf ihres älteren Sohnes von einer Bratpfanne geschützt zwischen ihren Schenkeln steckte und auf den zarten, nach Schlaf duftenden Kopf des jüngeren in der gegenüberliegenden Ecke der Küche ein Gewehr gerichtet war. So weit voneinander entfernt wie verschiedene Kontinente kamen ihr die Köpfe ihrer beiden Söhne vor, und dazwischen breitete sich der Ozean ihrer mütterlichen Machtlosigkeit aus.
Schweigend schauten sie sich an, so als suchten beide, Leni und der Soldat, nach einer Antwort, die ihnen verschlossen war. Nach einer Weile legte der Soldat (zwanzig Jahre alt, aus Bucchianico in den Abruzzen gebürtig) die Stirn in Falten und blinzelte, als sei ihm ein Staubkorn ins Auge geraten, das er nicht herausholen konnte, weil er keine Hand frei hatte. Und so ließ er das Gewehr sinken.
Alle Männer und auch einige Frauen waren auf dem Platz zwischen den Häusern zusammengetrieben und in Handschellen zu dem nahen Bach geführt worden. Unter ihnen befanden sich auch Sepp Schwingshackl und dessen ältere Söhne. Seine Frau Maria hatte, als die Razzia begann, mit der kleinen Eva im Arm vor dem Stall gestanden und gerade noch Zeit gefunden, das Kind auf den Boden zu setzen, als sich schon die Handschellen um ihre Gelenke schlossen und sie abgeführt wurde. Eva saß nun zwischen den Kamilleblüten und stützte sich mit den gespreizten Fingern auf der Erde ab. Doch die genagelten Stiefelsohlen traten nicht auf ihre Hände, die glühenden Läufe der halb automatischen Waffen verschonten ihr Gesicht. Als Ruthi sie entdeckte, rannte sie herbei, als sei es mittlerweile ihr Schicksal, Eva zu retten. Sie setzte sich die Kleine auf die ein wenig vorgereckte linke Hüfte, wie es Mütter gewöhnlich tun, um die rechte Hand frei zu haben, und blieb, plötzlich wie erstarrt vor Unsicherheit und Angst, inmitten der herumfliegenden Hühnerfedern und hin und her hetzenden Soldaten stehen.
Einer von diesen (aus Acettura in der süditalienischen Provinz Matera gebürtig, achtzehn Jahre alt, Schulbildung: dritte Volksschulklasse), ein Junge mit Pickeln auf Stirn und Backen und nur ein wenig samtenem Flaum statt eines Schnurrbarts auf der Oberlippe, hatte unterdessen damit begonnen, wie von Sinnen auf den Schnittpunkt der dicken Balken zu feuern, die das Stalldach trugen. Bei jedem Schuss riss Eva die Augen auf. Ihr Blick folgte den Patronenhülsen, die wie wild gewordene Insekten durch die Luft zischten und zu Boden fielen, und dem Rauchwölkchen, das den Lauf einzuhüllen begann wie Dampf einen Topf, der zum Abkühlen auf der Fensterbank steht. »Peng« machte die Beretta BM59, und Evas Augen weiteten sich zu zwei blauen Knöpfen. Peng, und Eva hielt den Atem an. Peng! Peng!
Stundenlang mussten die Dörfler gefesselt am Ufer stehen, während die Soldaten auf die Häuserwände schossen, Handgranaten in Ställe und Scheunen warfen und sich in den Küchen mit Speck und Käse, Bier und Brot bedienten. Vier mittlerweile betrunkene Alpini packten Ruthis älteste Schwester Eloise an den Armen und schleiften sie hinter eine Dunggrube. Sie hatten sie bereits zu Boden geworfen, als ein Tenente Colonnello, ein Oberstleutnant, dazwischenfuhr und ihnen befahl, sie gehen zu lassen. Schon wollte das Mädchen, unter Tränen, ins Haus laufen, da wurde es wieder gepackt und zu den anderen Bauern gebracht, die am Bach zusammengetrieben waren. Als die Sonne langsam unterging, standen sie immer noch da und hielten sich aneinander fest, um nicht ohnmächtig zu Boden zu sinken.
Dies alles gefiel dem Tenente Colonnello der Carabinieri überhaupt nicht. Das war nicht der Kampf gegen den Terrorismus, wie er ihn sich vorstellte.
Er stand zwischen diesen von der Septembersonne idyllisch beschienenen Bauernhöfen und sollte eine Operation leiten, die taktisch falsch angelegt war und, wie jeder Offiziersanwärter im ersten Jahr sofort erkannt hätte, zum Scheitern verurteilt war. Völlig unangemessen war diese Aktion, sowohl in der Wahl der Mittel als auch in der Zielsetzung: Sollte ihm doch mal einer erklären, wie man auf diese Weise, indem man mit solch einem wahnsinnigen Aufgebot an Panzer- und Kettenfahrzeugen stundenlang bei einem Dörfchen im Tal herumstand, Terroristen ergreifen wollte, die sich auf alten Schmuggelpfaden oben in den Bergen im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien bewegten.
Noch nicht einmal die Männer, die seinem Kommando unterstanden, hatte er sich aussuchen können. Ja, es kam ihm sogar so vor, als habe man sie eigens nach dem Kriterium »Unfähigkeit« ausgewählt: junge, unbedarfte Wehrpflichtige, die sich am Lauf einer Beretta höchstens die Finger verbrannten, kleine Jungs, denen man ohne irgendeine Anleitung eine MAB in die Hand gedrückt hatte … Da konnte man nur die Augen schließen und versuchen, nicht daran zu denken, was sie mit solchen Waffen anrichten könnten.
Wer aber dem Oberstleutnant noch größere Sorgen bereitete, waren manche seiner Unteroffiziere, die seltsame Reden schwangen und verdächtig gute Kenntnisse einer bestimmten historischen Epoche, des Faschismus nämlich, herauskehrten, wenn nicht gar Sehnsucht danach bekundeten. Einige Zeit zuvor hatte General De Lorenzo, der Oberkommandierende der Carabinieri, ihm, dem Tenente Colonnello, der damals noch in Rom stationiert war, einen schockierenden Befehl erteilt: Er solle die Bereitschaft seiner Männer erkunden, auch auf Zivilisten zu schießen, und eine Liste derjenigen anlegen, die sich dazu bereit erklärten. Der Oberstleutnant konnte diesen Befehl nicht verweigern, hatte aber, in der guten militärischen Tradition des passiven Widerstands gegen unverantwortliche Befehle, die Sache hinausgezögert und in Erwartung neuer Entwicklungen die Zeit verstreichen lassen. Bis man ihn dann nach Südtirol schickte, um dieses motorisierte Bataillon zu kommandieren; die Liste der Willigen, wie De Lorenzo sie genannt hatte, hatte man ihm gegenüber nicht mehr erwähnt. Doch während er nun diese Unteroffiziere beobachtete, die keinen Finger rührten, um ihren plündernden, saufenden und wild herumballernden Männern Einhalt zu gebieten, fragte er sich, ob diese perverse Selektion nicht bereits andere für ihn übernommen hatten.
Wie war das zum Beispiel mit Maresciallo Scanu, einem zuverlässigen Unteroffizier, den er schätzte? Der Tenente Colonnello hatte den ausdrücklichen Befehl erhalten, ihn nicht an der Operation teilnehmen zu lassen. Als sei dessen menschliches Mitgefühl nicht erwünscht, das trotz des Offiziersjargons zwischen den Zeilen des Berichts mitschwang, den er zu den Wohnverhältnissen des Huber Hermann, Vater des mit Haftbefehl gesuchten Huber Peter, abgefasst hatte. Und der Oberstleutnant begann sich zu fragen, ob es da nicht Kräfte gab, die all diejenigen von operativen Maßnahmen fernzuhalten bestrebt waren, die mit ihrem Einfühlungsvermögen hätten Brücken schlagen können zwischen den in Südtirol stationierten Streitkräften und den Einheimischen. Leute hinter Schreibtischen in Bozen oder gar in Rom, die in dieser bereits brennenden Provinz noch ins Feuer bliesen, anstatt sich im Ton zu mäßigen und die Gewalt einzudämmen. Leute, die daran arbeiteten, dass die Situation außer Kontrolle geriet. Es war keine Gewissheit, sondern nur so ein Gefühl, das er niemandem hätte anvertrauen können. Denn wenn dies tatsächlich eine kalkulierte Strategie war, zu welchem Zweck wurde sie verfolgt? Wer profitierte davon, wenn die Gewalt eskalierte? Der Tenente Colonnello konnte es sich nicht erklären und ahnte nur, dass es viele, gar zu viele Hintergründe gab, in die er nicht eingeweiht war. Und ihm, der sich noch genau an den Kloß im Hals erinnerte, als er feierlich seinen Eid auf die Verfassung der Republik Italien abgelegt hatte, behagte dieser Gedanke nicht. Überhaupt nicht.
In diesem Augenblick tauchte am Himmel, der durch das herbstliche Hochdruckwetter lapislazulifarben schimmerte, der Hubschrauber auf.
Im Luftwirbel seiner Rotorblätter bogen sich die Tannenspitzen, das Gras duckte sich, und Uniformrevers flatterten. Dann war der Helikopter gelandet.
Ein Oberst der Gebirgsjäger stieg aus. Er sprach schnell und abgehackt, und ohne den Oberstleutnant dabei anzuschauen, fragte er:
»Wie viele Leute habt ihr festgenommen?«
»Fünfzehn.«
»Gut. Lass sie an die Wand stellen und erschießen.«
Der Tenente Colonnello starrte den höherrangigen Offizier an. Der Hubschrauberlärm machte die Verständigung schwierig. Er musste sich verhört haben.
»Wie bitte?«
»Stell sie an die Wand!«, zischte der Oberst. »Alle.«
Der Carabiniere rührte sich nicht und antwortete ruhig, in höflichem Ton:
»Ich bin hier, um Straftaten aufzuklären und Verdächtige festzunehmen. Ein Mörder bin ich nicht.«
Da begann der Oberst der Gebirgsjäger zu brüllen:
»Du sollst sie erschießen lassen! Und danach lässt du das Dorf niederbrennen. Mach es dem Erdboden gleich!«
Der Carabinierioffizier spürte, dass er hungrig war. Oder genauer, sein Magen verkrampfte sich, was ihn daran erinnerte, dass er seit vielen Stunden nichts mehr gegessen hatte. Und er merkte, wie der Hunger seinen Zorn entflammte, und schrie zurück.
»Du bist wahnsinnig!«
»Das ist ein Befehl!«
»Der Befehl ist Wahnsinn!«
»Wenn du nicht gehorchst, bist du wegen Befehlsverweigerung dran!«
»Wir sind doch keine Nazis!«
Männer aller Dienstgrade, Alpini und Carabinieri, versammelten sich um sie. Nicht einmal die Ältesten unter ihnen hatten je erlebt, dass sich zwei Offiziere vor der Truppe dermaßen anbrüllten. Einigen von ihnen fiel der Unterkiefer herunter, viele standen wie in Trance mit offenem Mund da. Der Carabiniere packte den Gebirgsjäger am Arm, zerrte ihn zum Hubschrauber und stieß ihn hinein. Verlud ihn wie einen Rucksack oder eine Munitionskiste.
»Schaff ihn fort«, wies er den Piloten an, und es klang weniger wie ein Befehl als vielmehr wie eine flehentliche Bitte.
Der Pilot, ein Hauptmann, hatte die Szene schweigend beobachtet. Ihm war der Kiefer nicht heruntergeklappt, im Gegenteil: Sein Mund hatte sich zu einem schmalen violetten Strich verengt, weil er die Lippen so fest zusammenkniff. Den Blick des Tenente Colonnello meidend, als verbinde sie beide eine gemeinsame Scham, ließ er den Motor an. Schon durchschnitt der Propeller die Luft, die Männer legten eine Hand auf den Kopf, um ihre Mützen festzuhalten, der eine oder andere merkte jetzt, dass sein Mund noch offen stand.
Metallisch und zoomorph wie ein fantastisches mittelalterliches Kriegsgerät erhob sich der Hubschrauber in die Lüfte. Der Tenente Colonnello sah ihm nach, wie er sich entfernte, immer kleiner wurde, bis ihn der Himmel verschluckte, der nun eine rosafarbene Tönung annahm. Er fühlte sich erfüllt von einer besonderen Dankbarkeit diesem Piloten gegenüber, der zumindest mit einer Disziplinarstrafe rechnen musste. Ein Mann, von dem er noch nicht mal den Namen kannte und dessen Gesicht er schon wieder vergessen hatte.
Die Folgen des Militäreinsatzes an diesem goldenen Septembertag des Jahres 1964 waren zahlreich und sehr unterschiedlich.
Kein einziger Terrorist wurde im Verlauf der Operation verhaftet. Alle Festgenommenen mussten nach wenigen Tagen wegen erwiesener Nichtbeteiligung an den jüngsten Sprengstoffanschlägen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Nur ein alter, schwerhöriger Mann, der sich den Ermittlungsbeamten nicht verständlich machen konnte, wurde nach Venedig überstellt, wo er fast drei Monate lang, bis zum Dezember, inhaftiert wurde.
Sigi blieb für sein Leben gezeichnet durch diesen Gewehrlauf, der auf sein Köpfchen gerichtet war: Als Erwachsener entwickelte er sich zu einem fanatischen Anhänger Andreas Hofers und trat einer Schützenkompanie bei. So jedenfalls versuchte es sich Ulli zu erklären, wenn er wieder einmal erkennen musste, dass sein Bruder zu einem dumpfen, homophoben Rassisten geworden war. Mit dieser Deutung unterschlug er allerdings die Tatsache, dass zwar er und seine Mutter an jenem Tag traumatisiert wurden, nicht aber der kleine Sigi. Denn der hatte die ganze Zeit fest geschlafen.
Nach Ableistung seines Wehrdienstes wieder zu Hause, erlebte der junge Hilfscarabiniere aus Niscemi im Traum die Szene wieder, wie er auf die taube alte Frau schoss. Diesmal jedoch sah er, wie das Gesicht der Alten, nachdem er den Abzug betätigt hatte, in einer Explosion aus Feuer, Blut und Entsetzen vor seinen Augen zerbarst. Gleich am nächsten Morgen eilte der junge Mann zur Kirche Santa Maria Odigitria und warf sich dort voller Inbrunst zu Füßen der Madonna nieder, die ihm die größte Gnade gewährt hatte, nämlich ein schlechter Schütze zu sein.
In den italienischen Zeitungen las man nichts über diesen Militäreinsatz, nur in den deutschsprachigen, denen man daraufhin staatsfeindliche Propaganda vorwarf. Ein Abgeordneter des Provinzrates machte sich daran, die Zeugenaussagen der betroffenen Bauern zu sammeln, um sie in einer Denkschrift zu veröffentlichen und damit eine von der Südtiroler Volkspartei beantragte parlamentarische Anfrage zu dem Vorgang zu unterstützen. Er arbeitete noch an dem Bericht, als er, wenige Wochen nach jenen Ereignissen, unter nicht geklärten Umständen beim Klettern ums Leben kam. Manche behaupteten, das Seil, mit dem er sich sichern wollte, sei mutwillig beschädigt worden. Fest steht jedenfalls, dass die parlamentarische Anfrage am 25. September 1964 im Abgeordnetenhaus in Rom ohne diese Dokumentation behandelt wurde. Der Südtiroler Provinzabgeordnete hatte sie nicht mehr rechtzeitig fertigstellen können. So fiel es dem faschistischen Parlamentarier Almirante leicht, jede Erwähnung von Übergriffen der italienischen Sicherheitskräfte als Unterstellung und Propaganda der austriacanti zu diffamieren, wie er die deutschsprachigen Südtiroler in jeder öffentlichen Verlautbarung bezeichnete.
Zurück im Quartier, rief der Tenente Colonnello unverzüglich General De Lorenzo an und informierte ihn über den wahnsinnigen Befehl, den man ihm hatte erteilen wollen, und seine Weigerung, diesen auszuführen.
»Ja, ich hörte schon davon, dass Sie gekniffen haben«, antwortete der General.
Dem Oberstleutnant stellten sich die Härchen an den Unterarmen auf, als sähe er sich plötzlich einer unheimlichen Erscheinung gegenüber.
Noch am selben Abend erhielt er die Mitteilung, dass er von seinen Aufgaben in Südtirol entbunden sei und sich unverzüglich, in den nächsten vierundzwanzig Stunden, nach Friaul zu begeben habe, um dort die Stelle des Vicecomandante der Carabinieri in Udine anzutreten. Wie bei jeder Versetzung üblich, erhielt er wieder eine Beurteilung durch seine Vorgesetzten. Bisher hatte er stets die Höchstnote »hervorragend« erhalten, wurde diesmal jedoch mit einem niederschmetternden »durchschnittlich« bedacht. Damit hatte man ihm alle weiteren Karrierechancen verbaut.