1972
Auch ein Einfaltspinsel hätte es gemerkt. Und einfältig war Mariangela Anania, geborene Mollica, nun wirklich nicht. Außerdem, bestimmte Dinge spürt eine Mutter einfach.
Zu ahnen begonnen hatte sie es schon fast ein Jahr zuvor, als Vito auf Urlaub zu Hause war und ihr erzählte, dass er nun doch etwas länger dort oben in diesem Land der Sauerkraut- und Knödelesser bleiben werde. Sie hatte nicht lange gebraucht, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Wenn man ihn nach fünf Jahren ehrenhaften Dienstes im kalten Norden Italiens nicht zu seiner verwitweten Mutter zurückkehren ließ, konnte es nur einen Grund dafür geben: Er selbst hatte beantragt, dort zu bleiben.
Dumm war sie nicht und auch nicht weinerlich. Sie hatte nicht gekränkt reagiert, nichts verlangt, sondern nur »Ach ja?« gesagt und dann nicht mehr darüber gesprochen.
Dann war da noch dieses Picknick gewesen, am zweiten Ostertag mit den Nachbarn und deren Tochter Sabrina, die keine Schönheit war, aber doch ordentlich gebaut. Sie hatte alles da, wo es hingehörte, und das nicht zu knapp, und außerdem schöne grüne, leuchtende Augen, und diplomierte Buchhalterin war sie auch noch. Auf einen Kilometer Entfernung konnte man sehen, dass sie an Vito interessiert war, und Signora Anania und die Eltern des Mädchens hatten vieldeutige Blicke gewechselt, wie um zu sagen: Lassen wir sie doch ruhig mal allein, diese jungen Leute, sollen sie sich doch ein wenig unterhalten und kennenlernen, ohne dass wir dabei sind, das kann nicht schaden. Aber was geschah? Kaum hatte sich das arme Ding etwas näher zu Vito gesetzt, stand er auf, entdeckte eine Kaffeekanne, die umzustellen, ein Glas, das zu füllen war … Kurzum, es war offensichtlich, dass ihm jeder Vorwand recht war, um nicht mit ihr allein zu sein. Und das schien unnormal für einen jungen Mann, dessen Herz frei war. Wenn es jedoch nicht frei war …
Schließlich hatte Tante Giovanna, bekannt dafür, Dinge auszusprechen, die andere zwar dachten, sich aber zu sagen scheuten – eine Eigenschaft, die ihr stets den allgemeinen, wenn auch oft genug verärgerten Respekt eintrug –, diese Giovanna also hatte eines Tages zu ihm gesagt: »Wann willst du eigentlich endlich mal heiraten?« Worauf Vito nicht mit dem dümmlichen Lachen junger Männer reagierte, die noch ausschließlich Mädchen im Kopf hatten, die leicht ins Bett zu bekommen waren, weil für die eine, die das ganze Leben dieses Bett mit einem teilen sollte, noch Zeit genug war, mehr als genug sogar, was man den Verwandten aber natürlich nicht so offen sagen konnte, weshalb dann gekichert wurde, durchtrieben, eitel, verlegen. Nein, Vito schaute nur auf seine Schuhspitzen und hob den Blick gar nicht mehr oder erst nach einer halben Stunde, und so verhielt man sich nur, wenn man ein Geheimnis hatte, ein kostbares, ganz bestimmtes Geheimnis, das Vor- und Zunamen besaß.
Gherda Uber also.
Allein schon zu begreifen, dass man ihren Vornamen nicht aussprach, wie er geschrieben wurde, also »Gherda« statt »Gierda«, hatte sie einige Mühe gekostet. Aber dieser Nachname … Ging das denn überhaupt, dass ein Wort mit einem H anfing und einem Konsonanten endete? Ja, klar ging das, versicherte ihr Vito, und selbst im Italienischen gebe es so eines: hotel. Und dann, erzählte er weiter, sei dieser Nachname ja noch gar nichts, da gebe es weit schlimmere, manche ließen sich wirklich unmöglich aussprechen, und noch nicht einmal er, nach all den Jahren dort oben, bekomme das so richtig hin, und dann zählte er ihr einige auf. Sie verstand überhaupt nichts mehr, und um ihr einen Spaß zu machen, schrieb er die Namen auf ein Blatt.
Schwingshackl. Niederwolfsgruber. Tschurtschenthaler.
Aber sie stöhnte eher, als sie lachte, kein einziger Vokal, nur Konsonanten, und noch nicht einmal normale Konsonanten, sondern Ks und Hs und Ws. Was waren das bloß für Namen! Außerdem fühlte sie sich durch diese Laute zu sehr an jene Tage im Jahr 1943 in Reggio Calabria erinnert, als in ihrem Schoß ein Kind heranwuchs und ihr Mann, was sie damals aber noch nicht wusste, bereits in einem Massengrab in Griechenland lag und die Deutschen von Haus zu Haus marschierten und gegen die Türen schlugen und dabei so etwas wie »scinél actùn ràus capùt« brüllten. Es war wirklich ein Wunder, dass sie nicht vor Angst eine Fehlgeburt erlitten hatte. Aber Vito mochte sie das nicht sagen, denn einmal hatte er ihr erklärt: »Schau mal, Mama, nur weil sie Deutsch sprechen, sind die doch nicht alle Nazis.« Und da war ihr klar geworden, dass sie das Thema besser fallen ließ. Zum Glück hatte er ja diese Stimmen, die wie Maschinengewehrfeuer klangen, nicht mehr miterleben müssen, denn als er dann auf die Welt kam, waren die Amerikaner schon da.
Auf alle Fälle war sie erst einmal beruhigt, als ihr Vito alles erzählte.
Denn, nun ja, es war nicht zu leugnen, irgendwann hatten sie bereits böse Vorahnungen beschlichen.
Wenn diese Bekanntschaft, die er da gemacht hatte, ein anständiges Mädchen war, nun gut, warum nicht, er wäre nicht der erste Soldat, der sich seine Braut von irgendwoher aus der Ferne, wo er stationiert war, nach Hause mitbrächte. Nur, warum hatte er die Sache mehr als ein ganzes Jahr vor allen geheim gehalten?
Deshalb machte sie sich Sorgen. Steckte vielleicht hinter diesem langen Auf-die-Schuhspitzen-Starren ein Hindernis, ein Haken, eine Schande? Eigentlich war Vito ein sehr besonnener Mann, selbst als kleiner Junge hatte er sich nie Eigenmächtigkeiten erlaubt. Als sie ihn, da war er sechs, zum Brotkaufen schickte und ihm absichtlich etwas zu viel Geld mitgab, um zu sehen, ob er ihr den Rest auch wiederbrachte, was machte er da, der künftige Carabiniere? Er benahm sich nicht nur wie ein Carabiniere, sondern auch wie ein Steuerfahnder, wie einer, der die Bücher prüft, mit Soll und Haben, in denen alles korrekt sein muss. Die kleinen Lire-Münzen zählte er ihr einzeln in die Hand, die zu fünf mit dem Fischlein und die zu zehn mit der Ähre und dem Pflug darauf, nein, nicht die kleinste Verfehlung erlaubte er sich, nicht mal ein Bonbon kaufte er sich ohne ihre Erlaubnis. Aber bekanntermaßen waren es manchmal eben die geradesten Stöcke, die im Feuer landeten.
Doch er konnte sie beruhigen, als er ihr das Foto zeigte.
Schön war sie, wirklich eine richtige Schönheit, da gab es nichts. Fast zu schön, hatte Mariangela gedacht, aber nicht gesagt. Und Vito starrte das Foto von diesem blonden Prachtweib so verträumt an, dass man sich vorstellen konnte, wie er sie erst mit Blicken verschlang, wenn er sie leibhaftig vor sich hatte. Gewiss, Gerda sah nicht nur fast zu schön, sondern auch fast zu deutsch aus. Aber nun gut, mit manchen Dingen musste sich eine Mutter eben abfinden, und sie hatte sich immer über Schwiegermütter geärgert, die der jungen Ehefrau ihres Sohnes das Leben schwer machten, nur weil sie nicht bis aufs i-Tüpfelchen ihren Vorstellungen von einer Schwiegertochter entsprach. Mariangela Anania, geborene Mollica, mit einem Säugling zur Kriegerwitwe geworden, wusste, welche Mühsal das Leben für Frauen bereithielt, und während sie das Foto betrachtete, überlegte sie: Wenn das nun das Mädchen ist, das mir Vito ins Haus bringen will, werde ich ihr zeigen, wie man Schwertfisch zubereitet und Auberginen mit Mandeln und Walnüssen, ich werde sie trösten, wenn sie Heimweh nach ihrem Dorf bekommt und sie wie die Tochter behandeln, die ich nie hatte.
Doch der Fluss ihrer Gedanken staute und brach sich an einem Satz, den Vito jetzt sagte.
»Allerdings gibt es da ein Problem.«
Etwas Kaltes überkam sie. Etwas Beklemmendes. Und eine Gewissheit: Jetzt sagt er mir, was es ist, das Hindernis, der Haken, die Schande. Instinktiv kniff sie den Mund zusammen, und die anderen Körperöffnungen auch, die weiter unten, wie jemand, der verhindern wollte, dass Kummer und Leid in sein Leben einzogen, und vor allem nicht in das des geliebten Sohnes. Aber sie wusste auch: Wenn sich Körpereingänge so zusammenpressten, waren Kummer und Leid bereits eingedrungen.
Aber.
»Sie hat …, sie ist um einiges größer als ich«, sagte Vito.
Wie eine kräftige, heiße Brühe an einem kalten Winterabend wärmte sie die Erleichterung. Zwar las sie in seinen Augen, dass es da noch eine Kleinigkeit gab, die er nicht erwähnte – einer Mutter entging so etwas nicht. Da sie aber auch nicht dumm war und in Anbetracht der Tatsache, dass er sie ihr verschwieg, wusste sie allerdings auch: Egal, worum es sich bei dieser Kleinigkeit handelte, über die er hinwegging, sie selbst musste sich nicht darum kümmern. Ihr Sohn würde sie aus der Welt schaffen, ganz allein.
»Was ist schon dabei?«, sagte sie also. »Dein Vater war auch kaum größer als ich. Bring sie mal mit, dann setze ich ihr eine gute ›Nduja‹ vor.«
Die Nachmittage nach der Schule verbrachten Eva und Ulli auf einem Himalajagipfel, genauer, auf dem Nanga Parbat. Ihrem Unterschlupf ganz oben auf dem Heuspeicher, dem hölzernen Balkon, dort, wo der Architrav die schrägen Dachbalken schnitt, hatten sie zu Ehren Reinhold Messners diesen Namen gegeben, jenes Bergsteigers, der die Achttausender nur im Vertrauen auf seine kräftigen Lungen ohne Sauerstoffflaschen in Angriff nahm. Auch sie selbst bestiegen den Nanga Parbat ohne künstliche Hilfsmittel, vor allem aber ohne Sigi: Für Ullis kleinen Bruder galt striktes Gipfelverbot. Als er einmal unbedingt mitkommen wollte, hatten sie ihn Yeti getauft, und weil Sigi so etwas Widerliches nicht sein wollte, hatte er sie fortan in Ruhe gelassen.
Eva war davon abgekommen, ihren Cousin Ulli zu ignorieren, wenn Gerda zu Besuch war. Nun erlaubte sie es ihm, sich ihr, ihrer Mutter und Vito anzuschließen. Der Brigadiere Anania beschränkte seine Zuneigung nicht auf Gerda und Eva, sondern bezog alle mit ein, die die beiden gernhatten. Also Maria, Sepp und Wastl. Und Ulli natürlich. Von jeher war für Eva die Gegenwart ihrer Mutter mit einem Gefühl von Knappheit verbunden gewesen: Sie eintreffen zu sehen hatte bereits die Furcht, sie wieder zu verlieren, mit eingeschlossen. Durch Vito hingegen hatte die Fülle Einzug gehalten, denn seine Wärme war so groß, dass sie für alle reichte.
Eva mochte es besonders, wenn sie hörte, dass Gerda und Vito sich über sie unterhielten. Gerade so wie ein richtiges Elternpaar. Einmal, als die beiden dachten, sie sei bereits eingeschlafen, bekam sie sogar mit, wie sie fast in Streit geraten wären.
Gerda erzählte ihm, dass sie Eva nach der mittleren Reife auf eine Hotelfachschule schicken wolle. Bei den vielen neuen Hotels, die jetzt aufmachten, würde sie so nie in Not geraten. Und vor allem würde sie dann nicht, wie sie selbst, eine Arbeit beginnen, ohne tatsächlich etwas zu können, außer sich die Hände von Ätznatron verbrennen zu lassen und sich beim Scheuern von Riesentöpfen einen krummen Buckel zu holen. Nein, Eva würde ihre erste Arbeitsstelle mit einem Diplom, einem Titel und Fachkenntnissen antreten. Sicher würde sie nicht als Chefköchin anfangen, aber als Hilfsköchin, ja, das schon.
»Nein! Eva muss ihr Abitur machen«, hatte Vito dagegengehalten. »Und vielleicht auch studieren. Sie ist intelligent genug, die Universität zu besuchen.«
Die Universität? Gerda war fast in Zorn geraten. Die Universität besuchten doch nur Kinder reicher Eltern, sagte sie, von Leuten, die ein dickes Bankkonto hätten und Beziehungen nach ganz oben. Sie hingegen habe ja nur ihre zwei Hände, und darauf sei sie stolz, und wenn er denke, dass Köchin ein Beruf sei, der …
Sie hatte innegehalten. Mit geschlossenen Augen im Bett liegend, konnte Eva das Schweigen hören, dann das Geräusch feuchter Lippen, die sich trafen, Vitos sanfte Stimme, die ihr zuraunte: »Du bist für mich …«, und schließlich nur noch ein undeutliches Gemurmel. Obwohl sie das Gesicht ihrer Mutter nicht sah, stand es ihr genau vor Augen: Sie hatte es jetzt schon oft gesehen, wenn Vito etwas zu ihr sagte, das mit »du …« begann. Dann wurde es so wunderschön, das Gesicht ihrer Mutter, dass selbst sie es kaum noch wiedererkannte.
Eines Tages, in der Schule, baute sich die Lehrerin vor Eva auf, die, anstatt aufzupassen, an einem Bild zeichnete.
»Und wer soll das sein?«, fragte sie, indem sie auf das Blatt zeigte.
Das Bild zeigte einen Mann mit dunklen Augen und Haaren, auf dem Kopf eine Schirmmütze, und breiten roten Streifen an den Seiten seiner schwarzen Uniformhose. In der Hand hielt er, wie einen Rosenstrauß, eine riesengroße violett-grüne Artischocke.
»Mein Tata«, sagte Eva. Mein Papa.
Der Urlaub war vorüber.
Vito blickte aus dem Fenster, sah aber nur sich selbst: Der Nachtzug war gerade in Reggio Calabria losgefahren und draußen, auf der Meerseite, war nichts als Finsternis.
Bevor er nach Hause aufgebrochen war, hatte er Gerda versprochen, dass er seiner Mutter Bescheid sagen würde. Gerdas Miene war erstarrt wie vor Schmerz, doch es war Freude. Das hatte sie noch nie erlebt, dass man sie einer Mutter als künftige Schwiegertochter ankündigte.
Und von Eva werde ich ihr auch erzählen.
Er würde seiner Mutter ein paar von Evas Heften mitbringen und ihr zeigen, wie gut sie in der Schule war. Ich kann es gar nicht erwarten, sie kennenzulernen, würde seine Mutter sagen. Und dass sie ihr etwas Schönes schenken und kalabrische Lieder beibringen wolle …
Ehrlos, verachtenswert, falsch. So fühlte sich Vito nun.
Er saß in einem Waggon, der bis nach Deutschland durchfuhr. Es war der Zug der »Fremdarbeiter«, der italienischen Emigranten, die nach den Ferien im heimischen Dorf an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Vito kannte es schon: Ganze Abteile belagerten sie mit ihren Caciocavalli-Käsen, ihren Gläsern mit in Olivenöl eingelegten Tomaten, den Korbflaschen voll Wein. Mit ihm redeten sie über ihr Heimweh und wie hart es sei, fern der heimischen Wurzeln zu leben. »Da bleibt immer ein Teil von einem zurück«, sagten sie. Und sie beneideten ihn, wenn sie sahen, dass er noch vor dem Brenner ausstieg. Sie schienen nicht zu wissen, dass dies zwar noch Italien war, aber nur gewissermaßen.
Der Zug nahm Fahrt auf und machte sich auf den langen Weg ganz Italien hinauf, wo am oberen Ende der Ort lag, den Gerda ihr Zuhause nannte, am unteren der, der für ihn das Zuhause war.
Vito war schon eine ganze Weile wieder zurück, als er die Klappe des Küchenherds öffnete und die Nduja sah.
Die Salami war ein Mitbringsel von seiner Mutter für Gerda, für seine Verlobte, wie sie betont hatte. Aber die konnte sie nicht essen. Zu scharf war sie ihr, zu intensiv, zu anders als die Geschmacksrichtungen, die sie kannte. Und als Vito gegangen war, hatte sie die Wurst einfach in den Ofen gesteckt. Nun war sie voller Asche, gräulich und stank.
Gerda trat zu ihm und drückte sich an ihn. »Ich habe sie nicht runterbekommen.«
»Macht doch nichts.«
Er trat an das Fenster, das zu den Gletschern hinausging, und stand da, während ihm die Lippen zitterten. Noch nie hatte er eine so tiefe Traurigkeit in sich gespürt. Er hätte nicht sagen können, woher sie rührte. Seine Augen wurden feucht.
Gerda schaute ihn erschrocken an. War es möglich, dass er wegen einer Salami weinte? Er richtete sich auf und legte ihr eine Hand um die Taille.
»Tut mir leid«, sagte er, »ich bin nur ein wenig erschöpft.«
Er drückte sie an sich, schloss die Augen, suchte ihre Haut. Nur eine Sehnsucht spürte er in diesem Moment: blind zu sein, taub und ohne Zukunft.
Wochen, Monate waren vergangen. Bei Vito und Gerda hatte sich nichts verändert.
Weiterhin besuchten sie gemeinsam Eva, die die übrige Zeit bei Sepp und Maria lebte, zur Schule ging und jede freie Minute mit ihrem Ulli verbrachte. Gerda arbeitete in der Hotelküche, Vito in der Kaserne. Sie schliefen miteinander, sobald sie Gelegenheit dazu hatten. Zum Tanzen gingen sie dagegen nicht mehr: Beiden war klar geworden, dass sie eigentlich gar kein Interesse daran hatten.
Leni hatte auf dem Hof ihrer Eltern ein weiteres Gebäude mit drei Apartments für Touristen bauen lassen. Es war ihr nicht leichtgefallen, alle Genehmigungen einzuholen. Die Kinder bereiteten ihr keine Sorgen in der Schule, ihre alten Eltern waren noch rüstig, und so sah sie sich selbst nicht als unglückliche Frau.
Wastl war nach München gezogen, wo er Musikunterricht gab und Klarinette in einer Jazzgruppe spielte. Ruthi folgte ihm, um ihm zu beweisen, dass er sie brauchte, was ihr aber nicht gelang. So war sie irgendwann nach Hause zurückgekehrt und hatte kurz darauf den ältesten Sohn eines Hofs auf der anderen Talseite geheiratet. Und mit nicht einmal achtzehn Jahren erwartete sie nun ihr erstes Kind.
Paul Staggl war stolz, endlich auch Großvater geworden zu sein. Überhaupt hatte sich seine Schwiegertochter als hervorragende Mutter herausgestellt, die ihre Kinder mit fester Hand erzog, auch die weiteren drei, die noch folgten. Um sowohl seine Frau als auch die Kinder so wenig wie möglich zu sehen, brachte Hannes seine Tage im Büro des Vaters zu. Dadurch hatte er seine Kenntnisse in Sachen Seilbahnen, Skipisten und vor allem der neuesten bahnbrechenden Erfindung, der Schneekanonen, beträchtlich erweitern können. Den cremefarbenen 190er Mercedes Cabrio besaß er immer noch, ließ ihn aber die meiste Zeit in der Garage. Ins Büro ging er zu Fuß.
Wie ganz Schanghai wurde Hermanns Haus kurzerhand abgerissen, um, wie es der neueste Bebauungsplan vorsah, Ferienwohnanlagen Platz zu machen. Mit seinen vierundsechzig Jahren wurde Hermann zum jüngsten Bewohner im Altersheim der Stadt. Das Personal empfand ihn nicht als besonders schwierigen Gast. Wenn er nicht aß oder schlief, brachte er seine Zeit damit zu, aus Brotkrumen Figürchen zu modellieren, von denen einige sogar in der Krippe zu sehen waren, die an Weihnachten in der Eingangshalle aufgebaut wurde. Besucht wurde er nie in diesem Altersheim.
Als die Wintersaison in Frau Mayers Hotel vorüber war, sagte Vito zu Gerda:
»Ich zeige euch Venedig.«
Eva hätte stundenlang den Tauben auf dem Markusplatz nachrennen können, aber es gab ja so viel zu sehen. Mehr noch als die Straßen, die fast alle aus Wasser bestanden, oder die Gondeln, die wie schwarze Fische hindurchglitten, die Häuser, die nicht aus Stein, sondern aus Zuckerguss gemacht schienen, waren es die Menschen, die sie faszinierten. Die Stadt schien ein einziges großes Open-Air-Festival zu sein: Viele Touristen hatten lange Haare, mandelförmig geschnittene Augen, milchig helle, bernstein- oder auch lederfarbene Haut. Die Röcke der Frauen waren sehr kurz oder knöchellang.
Eine solche Vielfalt unterschiedlichster Menschen kannte Eva noch nicht. Verglichen mit diesen Menschen hier, hätten die Touristen, die in der Hochsaison in ihrem Städtchen herumliefen, alle miteinander verwandt sein können. In Venedig aber sah sie Amerikaner, Asiaten, Skandinavier, sogar Afrikaner. Was für eine schöne Hautfarbe sie doch hatten. Warum man sie allerdings »Schwarze« nannte, obwohl sie doch eher braun waren, war Eva nicht ganz klar. Und dann diese Japanerinnen – konnten die überhaupt richtig sehen durch ihre Schlitzaugen? Eva blinzelte, um es selbst einmal auszuprobieren, und stellte fest, dass sie schon etwas erkennen konnte, jedoch nur seitlich, oben und unten nicht. Dennoch bewegten die Japanerinnen seltsamerweise nicht den Kopf, um hochzuschauen; aber vielleicht interessierte man sich dort, wo sie herkamen, nicht für den Himmel. Während ein Passant von ihr, Gerda und Vito ein Foto machte, sah sie eine Frau, die eine Tischdecke trug, und einen Mann im Pyjama.
»Inder«, erklärte Vito ihr, doch Eva wunderte sich nur noch mehr: Inder hatte sie sich immer mit Federn auf dem Kopf, Zöpfen und Mokassins vorgestellt. Du meinst Indianer, stellte Vito klar, das ist im Italienischen das gleiche Wort. Jedenfalls kamen sie von weit her und waren faszinierend anzuschauen. Dass sie und all die anderen Menschen hierhergekommen waren, erschien Eva wie eine Einladung. Wenn die ganze Welt Venedig besuchte, würde sie auch eines Tages die ganze Welt besuchen können.
So liefen sie, Vito, Gerda und Eva in der Mitte zwischen ihnen, die Brücken und Stege hinauf und hinab, durchquerten Gasse auf Gasse. Wenn diese zu eng waren, gingen sie hintereinander und beschleunigten ihre Schritte, bis wieder ausreichend Platz war, um nebeneinander spazieren zu können. In einer kleinen Pension hinter der Kirche San Stae nahmen sie sich ein Zimmer. Der Hotelier, der sie an der Rezeption empfing, hatte dicke Ringe unter den Augen, weil er schon viele Jahre nachtschwärmerischen Gästen die Tür öffnen musste und nicht mehr richtig schlief. An Gerda wandte er sich mit »Signora« und sprach ihr gegenüber von »Ihrem Mann«, Vito gegenüber von »Ihrer Tochter«. Dann las er ihre Nachnamen in den Ausweisen und begriff, wie die Dinge lagen. In den zwei Tagen ihres Aufenthalts bemühte er sich erfolgreich, Gerda nicht mehr direkt anzusprechen (»Signorina« zu sagen hätte als Kränkung empfunden werden können), und fragte auch nicht nach, wessen Tochter die Kleine nun war. Solch eine Situation erlebte er nicht zum ersten Mal. Paare ohne Ehering am Finger waren ihm schon mehr als genug unter die Augen gekommen, und gerade in den letzten Jahren hatte er Dinge gesehen, die er früher nicht für möglich gehalten hätte. Nein, das störte ihn alles nicht. Gerda aber zündete sich, als der Hotelier ihnen die Schlüssel reichte, eine Zigarette an, während Vito Eva das Glöckchen vom Tresen reichte und »Schau mal« zu ihr sagte. Doch sie wusste: Wenn ihre Mutter so ins Leere starrte und paffend den Rauch ausstieß, war irgendetwas nicht in Ordnung.
Abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall, war Gerda glücklich. Sie war in Venedig! Mit Vito! Und Eva! Wie in einem Schlager, einem Fotoroman, einem Film fühlte sie sich. In Filmen sah man, wie sich Verliebte, die Venedig besuchten, in der Gondel küssten, und Vito hatte gerade einen Gondoliere herbeigerufen. Auf dem mit rotem Samt bezogenen Bänkchen lehnte sie sich zurück und schloss die Augen.
»Zeigst du mir die Amalfiküste auf unserer Hochzeitsreise?«
Vito streichelte ihr Haar und drückte sie an sich, und Gerda bemerkte nicht, dass er dies tat, um ihr nicht in die Augen zu sehen. Dann jedoch sagte er:
»Ich möchte dich heiraten.«
Ich möchte war ungefähr das Gleiche wie Ich will, aber nicht ganz, deshalb richtete sie sich auf und schaute ihn an. Da gestand er ihr, dass er seiner Mutter nur von ihr erzählt hatte. Von Eva aber nicht.
Eva, vorn auf dem Klappsitz, drehte sich nicht um.
Vito redete leise, damit nur Gerda ihn verstand.
»Wenn ich das nächste Mal runterfahre, hole ich es nach. Das verspreche ich dir.«
Eva starrte weiter auf das Ruder, das der Gondoliere durchs faulige Wasser zog.
Vito küsste Gerdas Gesicht. Sie ließ sich küssen.
Eva betrachtete die kleine Bogenbrücke, die über ihrem Kopf hinwegzog, und dachte: Wenn die einstürzt und auf mich runterfällt, tauche ich unter und halte die Luft an und schwimme und schwimme, bis ich heil am Ufer bin.