1992
Wann hatte Gerda ihren Vater zum letzten Mal gesehen? Bei Peters Beerdigung, ein Vierteljahrhundert zuvor.
Der Flur wies die seltsamsten Winkel auf. Man ging geradeaus und stieß gegen ein Fenster, das aber nicht bündig, sondern schräg eingesetzt war. Auch die Linien draußen an der Fassade des neuen Altersheims verliefen kreuz und quer, die Balkone waren dreieckig, und die Giebel auf dem Dach waren recht eigenwillig geschnitten.
Das Städtchen hatte lange auf dieses neue Altersheim warten müssen. Sei es wegen der Bevölkerungszunahme oder weil der Tod faul geworden war, jedenfalls waren seit Jahren in der alten Einrichtung für Senioren kaum noch Plätze zu bekommen. Die Warteliste war ellenlang, und die Familien mussten sich Jahre gedulden, bevor etwas frei wurde. Und da die einzige Art, wie ein Insasse sein Zimmer räumen konnte, wenig erfreulich war, wollte man niemandem diesen Abschied wünschen. Durch das neue Gebäude aber gab es jetzt sehr viel mehr Plätze, und Wartelisten waren kaum noch nötig.
Die Gemeinde hatte beim Bau keine Kosten gescheut, nicht zuletzt, weil durch die Steuerautonomie der Provinz sehr viel Geld hereinkam, sodass man sich zuweilen sogar fragte, wie man das alles ausgeben sollte. Die Architekten, die das Projekt entworfen hatten, waren zufrieden mit ihrem innovativen Werk, den Wänden, die so kühn aufeinanderstießen, den großen Räumen, die nie quadratisch oder rechteckig, sondern rhombisch, trapezförmig oder dreieckig waren. Schade nur, dass es den Bewohnern so schwerfiel, sich bei all diesen spitzen Winkeln im Haus zurechtzufinden; und wer seine Möbel von daheim mitbrachte, um die Zeit, die ihm noch blieb, im eigenen Bett zu schlafen, musste feststellen, dass es kaum möglich war, sie irgendwo an diesen schrägen Wänden aufzustellen. Aber dafür konnte sich das Altersheim sogar damit brüsten, in Architekturzeitschriften Erwähnung zu finden.
Von Hermann Hubers Kindern hatte die Heimleitung als Einzige Gerda ausfindig machen können: Ein Sohn war tot, eine weitere Tochter irgendwo im Ausland verheiratet, und niemand wusste, wie sie jetzt als Ehefrau hieß. Blieb nur noch sie, Gerda, die immerhin in dem Städtchen gemeldet war.
So rief man bei ihr an, am Telefon im Büro von Frau Mayer, die persönlich in die Küche gekommen war, um ihr zu sagen, dass man sie dringend sprechen wolle. Die Krankheit, unter der ihr Vater litt, so erklärte man ihr, sei nun sehr weit fortgeschritten, er spreche auf keine Therapie mehr an, und es bleibe ihm wohl nicht mehr viel Zeit. Wenn sie ihren Vater also noch einmal sehen wolle, solle sie sich beeilen. Andernfalls müsse sie aber auf alle Fälle danach vorbeikommen, um alle Formalitäten zu erledigen, die notwendig waren, damit der Nächste auf der Warteliste das Zimmer übernehmen konnte.
Frau Mayer hatte Gerda während des Telefonats in ihrem Büro allein gelassen. Trotz ihrer jetzt fast achtzig Jahre hatte das aztekische Grün ihrer Augen kaum etwas von seiner Strahlkraft verloren, und der Zopf, den sie um den Kopf trug, war zwar schlohweiß, aber deswegen nicht weniger akkurat geflochten, vielleicht sogar, wenn überhaupt möglich, noch makelloser als zuvor. Und da sich Gerdas Schönheit mit den Jahren verändert hatte und weniger verschwenderisch geworden war, hatten sich die beiden, Gerda und Frau Mayer, zu ähneln begonnen, wie es mit alten Paaren geschah. Mit ihren fast fünfzig Jahren war Gerda immer noch eine schöne Frau, rief aber bei den Männern nicht mehr dieses schmachtende Verlangen wie früher hervor, wodurch es Frau Mayer erst möglich wurde, sie mehr ins Herz zu schließen. So hatte sie auch nichts dagegen einzuwenden, als Gerda ihr mitteilte, dass sie einen Tag Urlaub brauche. Sie bemerkte lediglich, sie habe gar nicht gewusst, dass ihr Vater noch lebe.
»Ich auch nicht«, antwortete Gerda.
Jetzt durchquerte sie den Flur, der vom Eingang des Altersheims zum Treppenaufgang führte. In den unteren Geschossen waren jene Bewohner untergebracht, die sich noch selbst verpflegen konnten, die noch die Dolomiten lasen, sich verliebten und gegenseitig wilde Eifersuchtsszenen machten. Auf den oberen Stockwerken wohnten die Alten, die nicht mehr allein zurechtkamen. Je näher oder wahrscheinlicher das Ableben eines Gastes war, desto näher lag sein Zimmer am Himmel.
Gerda folgte dem Weg, den man ihr an der Rezeption beschrieben hatte, und hielt sich rechts, stand aber plötzlich vor einer Toilettentür. Und schon hatte sie sich verlaufen. So wie fast alle Besucher, die zum ersten Mal hierherkamen. Bei all den unerwarteten Ecken war es schnell passiert, dass man links und rechts durcheinanderbrachte. Gerda machte kehrt und beschloss, auf den Fahrstuhl zu verzichten und die Treppe zu nehmen. Da stieß sie mitten im Flur auf eine kleine Menschenmenge. Vielleicht ein Dutzend Personen – Pflegekräfte, Bewohner und Besucher – umstanden eine große, hagere Gestalt auf Krücken, die trotz ihres Alters für Gerda unverwechselbar war. Sie schrak zusammen: Es war ihr Obmann!
»Das kann ich Ihnen garantieren, gnädige Frau«, sagte dieser gerade zu einer alten Dame im Rollstuhl, »Hüftosteoporose hat keinen negativen Einfluss auf ihre geistigen Fähigkeiten. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Säße die Intelligenz in den Beinen, müsste man mich als Idioten bezeichnen.«
Und die Dame im Rollstuhl lachte wie ein junges Mädchen, das jederzeit hätte aufstehen und tanzen können.
Mit seinen bald achtzig Jahren hatte Silvius Magnago seine Ämter aufgegeben und war nicht mehr Landeshauptmann von Südtirol und auch nicht Obmann seiner Partei, deren Ehrenvorsitzender er allerdings blieb. Wenige Monate zuvor, im Juni 1992, hatte Österreich der Republik Italien eine Note übergeben, in der anerkannt wurde, dass der italienische Staat seinen Verpflichtungen gegenüber der deutschsprachigen Minderheit in der Region Trentino/Alto Adige nachgekommen sei. Der offizielle Begriff dafür lautete: Schuldbefreiungsbestätigung. Ein Begriff, der sich nach Anwaltskanzlei anhörte, nach Buchhaltung und Kaufbelegen, jedoch sicher nicht nach Heldentaten – aber vielleicht lag gerade darin Silvius Magnagos politischer Erfolg begründet. Und da er nun seine historische Aufgabe erfüllt hatte, war er auf andere Weise erfolgreich: indem er Seniorenheime in der Provinz Bozen besuchte und dort Menschen seines Alters mit einem trockenen Humor überraschte, den ihm früher, während seiner politischen Laufbahn, niemand zugetraut hätte.
Magnago deutete jetzt auf die Zigarette in der Hand einer jungen Krankenschwester. »Die Heimleitung hat mir verboten, Ihnen Zigaretten mitzubringen, davon würden Sie Krebs bekommen. In dem Heim in Lana hat man es mir dagegen erlaubt. Und soll ich Ihnen mal sagen, warum? Weil deren Warteliste länger ist und sie ein wenig Unterstützung brauchen können.«
Ein kurzes Schweigen, dann brach die ganze Runde in ein befreiendes, fast wildes Gelächter aus.
Mit Herzklopfen trat Gerda näher. Beim Anblick dieses Mannes kam sie sich wieder als kleines Mädchen wie damals auf der Burgruine Sigmundskron vor, als er die Menschenmenge in seinen Bann geschlagen hatte.
»Herr Obmann …!«, murmelte sie.
Magnago erblickte sie, wandte sich ihr mit einem liebenswürdigen Lächeln zu und ergriff die Hand, die sie, verblüfft über ihren eigenen Mut, ihm entgegenstreckte.
»Schöne Frau, Sie sind zu jung, um hier zu wohnen. Besuchen Sie einen Angehörigen?«
»Ja, meinen Vater.«
»Das ist gut. Es ist wichtig, dass ihr Jungen uns Alte nicht uns selbst überlasst. Wie geht es Ihrem Vater?«
Gerdas Mund wurde trocken. Zum Glück mischte sich jetzt ein bestimmt achtzigjähriger alter Mann ein, der sich, auf einen Stock gestützt, durch den Flur geschleppt hatte, und sagte an Magnago gewandt: Er habe sich sein ganzes Leben lang immer gewünscht, ihn einmal leibhaftig, in Fleisch und Blut, vor sich zu sehen.
Magnago deutete auf seinen mageren Brustkorb. »Blut wird da noch drin sein, aber Fleisch …, tut mir leid, davon werden Sie kaum noch was finden …«
Er sagte das wie ein professioneller Komiker, ernst und ohne eine Miene zu verziehen. Sein Publikum honorierte es und brach wieder in lautes Lachen aus.
Da hatte Gerda sich bereits verwirrt entfernt.
Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Javelwasser überlagerte die Ausdünstungen des verfallenden Körpers. Doch die Luft stand schwer im Raum und deutete an, dass der Tod nicht mehr fern war. Hermanns Schultern waren immer noch breit, quadratisch; wegen seiner langen Beine, die seine Tochter von ihm geerbt hatte, stieß er am Fußende des Bettes an. Der Arm, der auf dem Betttuch lag und in den Tropfen für Tropfen eine Infusionslösung lief, war immer noch muskulös. Er schlief.
Gerda stand in der Tür und zögerte einzutreten. Es war ein heller, großer, natürlich unregelmäßig geschnittener Raum. Der Abstand zwischen sich und der Gestalt dort auf dem Bett kam ihr zu groß vor, um ihn überbrücken zu können. So stand sie lange Zeit nur da und blickte ihn aus der Entfernung an. Es kostete sie einige Überwindung, endlich näher zu treten, sich einen Stuhl – in gewagtem Röhrendesign – heranzuziehen und Platz zu nehmen.
Hermann schien sie nicht zu bemerken. Die Fensterbank stand voller Figürchen aus Brotkrumen, ein eigenes Völkchen, das sich im Gegenlicht wie ein eigenes Volk vor dem Himmel abzeichnete. Vom Föhn getrieben, zogen hinter der Scheibe linsenförmige Wolken mit verschwommenen Umrissen durchs Blau. Gerda sprach ihn nicht an, diesen Mann, der früher einmal ihr Vater gewesen war, und versuchte auch nicht auf andere Weise, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Reglos und stumm saß sie da, so als seien auch ihre Gefühle von dem Javelwasser desinfiziert worden.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie dort saß. Nach einer Weile schlug ihr Vater die Augen auf und nahm ihre Gegenwart wahr. Er drehte sich zu ihr um und betrachtete sie mit einem stumpfen Blick, der sich plötzlich aufhellte. Seine Augen glänzten jetzt wie die eines kleinen Jungen.
Sie war es.
Ja, kein Zweifel, sie war es.
Die länglichen Augen. Die hohen Backenknochen. Der weiche Mund, der nur liebe Worte sprach.
Mit einem Seufzer der Erleichterung, der Zufriedenheit und des Trostes senkte Hermann die Augenlider.
»Mamme …«, murmelte er mit geschlossenen Augen.
Wie lange hatte er doch auf sie gewartet. Sein ganzes Leben lang.