Km 1397
Gabriele hat mich abgeholt und zur Wohnung seiner Eltern gebracht. Seine Mutter macht uns auf. Sie reicht mir nur bis zu den Schultern, hat kurze graue Haare, die früher wohl einmal gelockt waren, und einen korpulenten Körper. Aber auch grüne, strahlende Augen und eine schöne, melodische Stimme.
»Schön, dass Sie endlich da sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange mein Mann schon auf Sie wartet.«
Verlegenheit? Eifersucht? Nicht die Spur. Stattdessen beugt sie sich zu mir vor und fährt leiser fort.
»Seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich werde so tun, als wüsste ich nicht, wer Sie sind. Er soll nicht denken, dass er mir vielleicht wehtut.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber sie braucht meine Worte nicht, um fortzufahren. »Wenn Sie noch einen Moment Geduld haben …, ich muss das Wohnzimmer noch fertig machen, hier bei uns geht es gemächlich zu, ich bin ja auch kein junges Mädchen mehr.«
Und damit verschwindet sie hinter einer Tür mit einer Mattglasscheibe, der einzigen Lichtquelle in dem Flur mit den dunklen Steinfliesen.
Es riecht nach Tomatensoße.
»Möchtest du einen Espresso?«, fragt mich Gabriele.
»Ja, danke.«
»Ich mach ihn dir in der Küche.«
Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Bitte, lass mich nicht allein.«
Er nickt und scheint nicht überrascht zu sein. Er legt seine Hand auf meine, während ich ihm einen dankbaren Blick zuwerfe.
An den Flurwänden hängen verschiedene Urkunden. Gabriele bemerkt, dass ich sie anschaue, und schaltet das Licht ein.
Die Auszeichnungen sind alle Vito Anania verliehen worden.
BRONZENE VERDIENSTMEDAILLE FÜR
LANGJÄHRIGEN MILITÄRDIENST
SILBERNE VERDIENSTMEDAILLE FÜR
LANGJÄHRIGEN MILITÄRDIENST
GOLDENE VERDIENSTMEDAILLE FÜR
LANGJÄHRIGEN MILITÄRDIENST
GOLDENES KREUZ FÜR DAS DIENSTJUBILÄUM
RITTER DER REPUBLIK ITALIEN
MAURITIUS-MEDAILLE
Aufgehängt ist auch eine »feierliche Belobigung« mit ausführlicher »Begründung«.
Ich fange an zu lesen.
Im Einsatzkommando arbeitete er erfolgreich seinem Vorgesetzten zu, dessen schwierige, riskante Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität zur Festnahme von zwanzig wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gesuchten Straftätern führten, die für acht Fälle von Schutzgelderpressungen, siebzehn Sprengstoffanschläge, sieben schwere Sachbeschädigungen und weitere kleinere Delikte verantwortlich zeichneten, und von denen zwei festgenommen werden konnten, während sie mittels Leitung den Ablauf der Übergabe einer beträchtlichen Geldsumme diktierten.
»Was ist denn mit ›mittels Leitung‹ gemeint?«, frage ich Gabriele.
»Am Telefon.« Seine Augen lachen ein wenig, doch sein Mund bleibt ernst.
Durch die Glastür kommt Vitos Frau zurück. Sie hat sich eine Jacke übergezogen und hängt sich jetzt eine Tasche über die Schulter. Zu ihrem Sohn sagt sie: »Ich nutze die Gelegenheit, solange ihr hier seid, und gehe einkaufen.«
Mir erklärt sie, als würde ich schon dazugehören: »Wir können ihn nicht mehr allein lassen.«
Und dabei lächelt sie mich so herzlich an, dass ich nicht anders kann, als das Lächeln zu erwidern.
»Sie ist da.«
Gabriele öffnet die Tür, lässt mich eintreten und geht dann in die Küche, glaube ich jedenfalls, denn ich nehme sonst gar nichts mehr wahr.
Vito liegt auf dem Sofa, in einem Meer von Kissen, mit einer kurzen Decke über den auf einem Puff ruhenden Beinen.
»Eva …«
Wie alt er geworden ist. Und wie krank er aussieht. Nur die Augen sind noch so, wie ich sie in Erinnerung habe, alles Übrige ist zum Sterben bereit.
»Endlich bist du da.«
Ich schaffe es noch nicht einmal, seinen Namen zu sagen. Er bedeutet mir, näher zu kommen. Ich durchquere den Raum, während er mich betrachtet und sein Blick nicht ablässt von mir.
»Wie schön du bist.«
Noch nie im Leben war ich mir so bewusst, wie sehr ich meiner Mutter ähnele.
Was sagt man in solch einer Situation? Was sagt man, wenn man einen Menschen wiedersieht, der mehr als dreißig Jahre zuvor … Ich weiß es nicht. Deshalb frage ich nur:
»Wie geht’s dir?«
»Na ja, du siehst ja selbst …«
»Hast du starke Schmerzen?«
»Nachts schon …«
Mit der flachen Hand klopft er ein paarmal sanft aufs Sofa, eine Einladung, als wolle er mich zum Tanzen auffordern.
»Komm, setz dich zu mir, erzähl mir von dir … Ich will alles wissen.«
So, jetzt ist es so weit, denke ich, jetzt fragt er mich, ob ich verheiratet bin, ob ich Kinder habe …
»Was machst du beruflich? Ich bin sicher, du bist sehr erfolgreich. Was hast du denn studiert?«
Es ist genau die Stimme, mit der er mir von den Abenteuern der Tigerjungen in Malaysia vorgelesen hat, nur schwächer.
Ich schüttele den Kopf.
»Ich habe gar nicht fertig studiert. Ich organisiere Events.«
»Events?«
Ich erzähle ihm, dass ich in Jura eingeschrieben war und mich auf Arbeitsrecht spezialisieren wollte, aber im zweiten Semester eine Stelle in einem PR-Büro fand und zu keiner Prüfung mehr erschienen bin. Dass ich mich dann irgendwann selbstständig gemacht habe und heute eben alle möglichen exklusiven Veranstaltungen organisiere. Ja, verdienen würde ich gut, erzähle ich weiter, und dass ich mir ein schönes Haus gekauft hätte. Und meine Mutter sei froh, dass ich keine Sklavenarbeit verrichten müsse, wie sie das nenne.
Vito lässt mich erzählen und verzichtet auf jeden Kommentar. Er bemängelt nicht, dass ich mein Studium nicht abgeschlossen habe, kein Wort davon, dass er vielleicht enttäuscht über mich sei. Und er sagt auch nicht: Wäre ich da gewesen, hätte ich dich unterstützt, damit du dich anders entscheidest. Er nickt nur bedächtig, als bedenke er den Lauf der Dinge, der nicht mehr zu ändern ist. Aber ich glaube schon, dass ihn meine Antwort enttäuscht hat.
Auch von meiner Mutter will er nicht wissen, ob sie geheiratet hat. Er fragt nur, wie es ihr geht. Ich erzähle es ihm.
»Weiß sie, dass du hier bist?«
»Ich habe es ihr heute Morgen gesagt, bevor ich hierherkam. Aber wahrscheinlich nicht so, wie es gut gewesen wäre.«
Er nickt wieder auf diese bedächtige, langsame Art. Was er auch nicht sagt: Grüß sie bitte von mir.
Dann fragt er mich nach den Leuten, die er gekannt hat. Es wird immer leichter, miteinander zu reden. Ich erzähle ihm von allen. Zuletzt von dem Menschen, bei dem es mir am schwersten fällt. Vitos Blick verschleiert sich, und eine Weile bringt er nichts anderes heraus als diesen Namen:
»Ulli …«
Lange schweigen wir, und es ist ein fast zärtlicher Moment, wie wir so still beisammensitzen, verbunden durch die Erinnerung an den kleinen Jungen mit den Rehaugen.
Dann fragt er mich nach dem Nanga Parbat. Er erinnert sich tatsächlich an den Namen für unser Versteck! Die Enkel von Sepp und Maria hätten den alten Stall mit dem Heuboden abreißen lassen, erzähle ich, und durch einen neuen ersetzt, der wie ein Laboratorium aussehe. Ich erwähne auch Sigi und seinen Sohn Bruno, der wie sein Vater den Schützen beigetreten sei und sich bei den Paraden den Dreispitz aus dem 19. Jahrhundert auf die Dreadlocks setze. Wie selbstverständlich ist es doch, sich mit Vito zu unterhalten. Auch er erzählt mir von sich und seiner Familie. Aber irgendwann merke ich, dass er angestrengt wirkt. Ich will ihn darauf aufmerksam machen, aber er kommt mir zuvor.
»Du siehst müde aus«, sagt er mir.
Ich nicke. »Ich habe nicht mehr richtig geschlafen seit …, ja, ich weiß es selbst nicht so genau …«
Er legt sich ein kleines Kissen auf die Decke über seinen Beinen, schaut mich an und klopft zweimal leicht mit der flachen Hand darauf. Wieder eine liebevolle Einladung. Als wäre ich eine Katze oder ein Hündchen. Oder seine kleine Tochter.
Ich ziehe die Schuhe aus, lege den Kopf in seinen Schoß, nehme die Beine hoch und mache es mir bequem. Er nimmt mich in den Arm und rückt mir mit der freien Hand das Kissen unter dem Kopf zurecht.
»Ich habe das Band gehört«, sage ich leise, den Blick zur Decke gerichtet.
»Hat Gabriele es dir gegeben?«
Ich bewege ein wenig den Kopf auf und ab. »Ich wünschte, ich hätte es bekommen, als du es mir geschickt hast.«
»Hauptsache, du hast es.«
Der Bauch, auf dem mein Kopf liegt, hallt wie eine Trommel von seiner Stimme wider. Ich schließe die Augen und seufze tief.
»Aber jetzt ist es zu spät.«
»Es ist nicht zu spät. Es ist nur später.«
Der Schlaf überfällt mich: Er war mir die ganze Zeit nahe, aber ich habe ihn nicht bemerkt, bis er mich hinterrücks packte. Ich bekomme noch mit, wie Gabriele mit einer Tasse Kaffee das Zimmer betritt und Vito zu ihm sagt:
»Den trinkt Eva später. Jetzt schläft sie.«