Km 295–715

Ein Jahr nach dem Blutbad von Bologna im August 1980, in dem Sommer, als ich die Schule abschloss, war ich mit einem Klassenkameraden unterwegs zu den Tremitiinseln. Er gefiel mir nicht sonderlich, ich ihm umgekehrt aber schon, und deswegen hatte er seine Eltern, reiche Bozener Geschäftsleute, auch dazu überredet, mir ebenfalls die Reise und den Aufenthalt auf dem Campingplatz zu spendieren. Bis dahin hatte ich das Meer nur in Cesenatico gesehen, an einem Strand vor quadratischen Betonklötzen, die im Faschismus als Ferienkolonie errichtet worden waren: Denn das einzige Reiseunternehmen, bei dem meine Mutter buchen konnte, war die Caritas. So waren Ferien am Meer für mich mit dem säuerlichen Geruch von Tomatensoße verbunden, den herben Ausdünstungen zu vieler in einem Schlafsaal zusammengedrängter Kinder, mit Sand, den die älteren Jungen den Kleinen in die Augen warfen, mit Übergriffen von Erziehern, die durch permanente Überlastung böse geworden waren.

Die Zeiten eines Eurostars mit Reservierungspflicht lagen damals noch in weiter Ferne, und unser Waggon sah aus, als wäre er mit Kriegsvertriebenen vollgestopft. Wie Kleider aus überfüllten Schränken, deren Türen nicht mehr richtig schließen, quollen die Jugendlichen aus den Abteilen. Sie hockten auf den Klappsitzen im Gang, mit anderen auf dem Schoß, auf dem Fußboden, auf den Stufen vor den Zugtüren, in den Toiletten (vor allem jene, die ohne Fahrkarte unterwegs waren, und das waren nicht wenige). Ich und der Junge, der mir den Urlaub bezahlte, saßen eingezwängt zwischen schweren, schlecht gepackten Rucksäcken aus grobem, dickem Gewebe mit Aluminiumgestellen, die das Gewicht gleichmäßiger auf dem Rücken verteilen sollten, tatsächlich aber nur in die Rippen stachen. Wir rochen nach Fußschweiß, Haschisch, Kaugummi mit Erdbeergeschmack und vor allem Rauch: Ständig hatten wir eine Zigarette zwischen den Fingern, was damals noch möglich war. In Bologna hielt unser Zug auf Gleis eins, und da sah ich, unmittelbar vor meinem Fenster, die zerstörte Wand mit dem Glas davor, die auch heute noch als Mahnmal an den Anschlag erinnert, sowie die Uhr, die die Tatzeit festhält: 10.25 Uhr.

Ich war im Alto Adige der Bomben und Attentate groß geworden und war auch schon alt genug, mir einen Reim auf den Tod von Onkel Peter machen zu können. Aber nicht einmal ich, das Kind eines Landstrichs, der Terroristen hervorgebracht hat, konnte damals – und kann es heute immer noch nicht – das ganze Ausmaß dieses Massakers von Bologna begreifen. Fünfundachtzig Tote, Hunderte von Verletzten: Dieses Blutbad gehörte zu einer anderen Kategorie des Grauens. Als der Zug wieder anfuhr, versuchte ich, mit meinem Reisegefährten darüber zu reden. Er antwortete nicht, ließ sich nicht darauf ein und wechselte bei erstbester Gelegenheit das Thema, sodass ich mit meiner Bestürzung allein zurechtkommen musste. Ich summierte diese Abgestumpftheit zu den anderen bereits zahlreichen Gründen, weshalb er meiner Liebe nicht wert war – dass er mir den Urlaub spendiert hatte, trat da für mich in den Hintergrund –, und brachte die Ferien damit zu, mich vor seinen Augen von anderen Jungen anmachen zu lassen. Am Lagerfeuer abends am Strand fummelte ich mit anderen Rucksackreisenden herum oder mit jungen Einheimischen von der Insel und suchte dabei immer wieder seinen Blick. Und ich fand ihn, jedes Mal: ein verwirrter, erregter, seltsam schuldbewusster Blick. Mein Klassenkamerad protestierte nicht, bei keiner Gelegenheit, sondern bezahlte mir weiter den ganzen Urlaub bis zum letzten Tag. Erst viele Jahre später, als ich ihn schon lange aus den Augen verloren hatte, erfuhr ich von gemeinsamen Bekannten, dass unter den Toten von Bologna auch eine Tante von ihm war, eine Frau aus dem Passeiertal. Er habe sie sehr gemocht, wurde mir erzählt, und bei ihrer Beerdigung geweint.

Heute, mitten in der Nacht, steht mein Zug im Bahnhof von Bologna auf Gleis vier, und von meinem Fenster aus kann ich den Riss in der zerstörten Wand nicht sehen.

Unter den von einem matten Mond erhellten Bahnsteigdächern wartet niemand. Die Lautsprecheransage, die über die wenigen ankommenden oder abfahrenden Züge informiert, hört sich wie die Stimme eines einsamen Rufers in der Wüste an: eines unsichtbaren Propheten mit breitem emilianischem Akzent. Seine Einsiedelei: keine mystischen Felsen, sondern Marmorbänke, Getränkeautomaten, Gleise. Die schwach besetzte Gemeinschaft seiner Anhänger: ich, der neapolitanische Liegewagenschaffner und der Lokführer, dessen Gegenwart sich mir seit Stunden nur im Bremsen und Beschleunigen des Zuges offenbart.

Der Prophet schleudert uns seine Warnungen entgegen:

»Nachtzug Intercity 780 Freccia Salentina von Bari nach Mailand Hauptbahnhof fährt vom Gleis …«

»Fernzug 1940 del Sole von Villa San Giovanni nach Turin Porta Nuova …«

Jetzt setzt sich auch mein Zug wieder in Bewegung, während er weiter vor tauben Ohren predigt.

Wir lassen die altmodische Bahnhofsbeleuchtung hinter uns und tauchen wieder in die Nacht ein, ins große Dunkel einer Nacht über dem offenen Land, einer Nacht, die weder Freund noch Feind für uns ist.

Genauso empfand ich es auch, wenn ich Ulli Gesellschaft leistete, der die ganze Nacht Pisten präparierte mit der Schneeraupe Marlene, die er bequemer und persönlicher eingerichtet hatte als ein Brummifahrer seinen Laster: mit den schwarz-weiß gestreiften Sitzbezügen, der Stereoanlage, die im Rhythmus von Queen- oder Clash-Songs mit Dutzenden von Leuchtdioden blinkte – eine technische Neuheit damals in den achtziger Jahren –, und der voll aufgedrehten Heizung, sodass man auch im T-Shirt nicht fror. Draußen der flackernde Winterhimmel und der stürmische Wind, wie er auf zweitausend Metern normal ist. Und wir fuhren die Pisten rauf und runter, um den Schnee zu einer perfekten weißen Samtfläche zu glätten für die Skifahrer, die die »Fabrik« am nächsten Morgen auswerfen würde.

Es war eine solche Nacht, als Ulli mir sagte, dass es ihm keine Angst mehr mache, schwul zu sein. Genau dieses Wort benutzte er: schwul. Nicht »gay« oder »homosexuell«, sondern jenen Ausdruck, mit dem die Alten am Stammtisch im Wirtshaus ihre Vorurteile bekräftigten, jene Bezeichnung, die Ulli hinter seinem Rücken die Klassenkameraden flüstern hörte, die Nachbarskinder, den jüngeren Bruder Sigi, alle, seit er so mit elf keine Lust mehr auf Fußball oder Eishockey hatte, sondern sich lieber mit mir, einem Mädchen, herumtrieb.

Im Jahr zuvor war Ulli in London gewesen, wo seine Homosexualität nichts Besonderes war. Dort behandelte man ihn, als sei seine Veranlagung etwas Alltägliches. Und das hatte ihm gefallen.

Und es war ebenfalls in solch einer Nacht, als ich ihm von meiner Blitzheirat erzählte, in Reno geschlossen und kurze Zeit später auch dort wieder aufgehoben, mit Lesley – oder Wesley. Jedenfalls tat ich so, als könne ich mich schon gar nicht mehr genau daran erinnern, wie er hieß, diese Art Ehemann für zwei Wochen. Natürlich fiel Ulli nicht darauf herein und lachte nur. Irgendwann aber sah er mich dann stumm mit jener sanften Traurigkeit an, die er so häufig zeigte, und meinte:

»Was wohl Vito dazu sagen würde?«

Ich zog laut die Nase hoch. Da war er wieder, dieser Gleichklang zwischen Ulli und mir, der mich jedes Mal aufs Neue überraschte: Auch ich musste im gleichen Moment an Vito denken. Dabei hatten wir ihn seit Jahren schon nicht mehr erwähnt, weder Ulli noch ich. Und meine Mutter schon gar nicht. Was hätte er gesagt zu mir und meiner Blitzheirat, dieser pflichtbewusste Carabiniere aus Süditalien? Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte.

Um zu verhindern, dass die Schneeraupe am Steilhang kippte und abstürzte, war Marlenes Schnauze über ein Drahtseil mit einer Winde an der Bergstation verbunden. Im Scheinwerferlicht funkelte es wie eine Perlenkette. Stumm beobachtete ich, wie es sich spannte.

Dann begann ich Ulli zu erzählen, dass ich seinen Bruder Sigi im Sommer an einem Weinausschank beim Altstadtfest getroffen hatte. Zusammen mit einer Bier- und Currywurstfahne hatte sein Mund folgenden Satz von sich gegeben: »Sollte ich eines Tages in der Zeitung lesen, dass dir ein Mann was angetan hat, würde mir das leidtun. Aber überraschen würde es mich nicht.«

Den Blick starr auf den Lichtkegel der Scheinwerfer vor uns im Schnee gerichtet, manövrierte Ulli weiter schweigend seine Marlene. Von brutalen, obszönen Sprüchen des betrunkenen Sigi konnte er ein Lied singen. Oft schon hatten wir zusammen überlegt, wann genau und wodurch dieser kleine Bruder mit den enzianfarbenen Augen, dem er jahrelang die Schuhe zugebunden hatte, nun ja … so geworden war. Dann drehte sich Ulli plötzlich zu mir um, mit weit aufgerissenen Augen, die im matten Licht in der Kabine vor Empörung funkelten.

»Der will dich vögeln. Auch Sigi will dich vögeln!«

»Na wenn schon, überrascht dich das?«

»Ich will dich nicht vögeln.«

»Das zählt nicht, du bist ja schwul.«

Ulli brachte die Schneeraupe zum Stehen, sprang hinaus und schlug die Tür zu. Ich fürchtete, ihn gekränkt zu haben, obwohl er das Wort schwul vorher selbst benutzt hatte. Aber nein. Er bückte sich, um etwas aufzuheben, was er im Schnee entdeckt hatte. Angestrahlt wie ein Rockstar auf der grandiosen Bühne der ihn umgebenden Bergwelt, hob Ulli den Arm, um mir zu zeigen, was er gefunden hatte: dem Anschein nach ein bizarres zweiköpfiges Tier ohne Rumpf, dafür aber mit einem langen, fadenförmigen Schwanz. Erst als er wieder einstieg und mit ihm ein Schwall eiskalter Nachtluft ins Führerhaus wehte, erkannte ich, was es war: ein spitzenbesetzter BH.

Während wir in unserem beheizten Mikrokosmos in der endlosen Weite die Berge hinauf- und hinunterkurvten, rätselten wir, wie der hierhergekommen sein mochte. Wer – und aus welchem Grund – mochte in diesem strengen Dezember, der den Fluss in unserem Städtchen schon hatte einfrieren lassen, den Trieb verspürt haben, sich wie eine Zwiebel zu entblättern, sich all der Schichten einer komplizierten Skiausrüstung zu entledigen, um schließlich auch den Büstenhalter abzustreifen? Und das auch noch auf dieser besonders steilen schwarzen Piste, auf der die Cracks Spezialslalom trainieren?

Die ganze Nacht unterhielten wir uns darüber, ohne eine Erklärung zu finden.

Als ich Carlo kennenlernte, nahm ich mir zum ersten Mal in meinem Leben vor, treu zu sein. Carlo sollte davon natürlich nichts erfahren, aber ich empfand das als Erleichterung und empfinde es auch heute noch so, elf Jahre später. Für mich war das wirklich schon ein Fortschritt.

Jetzt sind wir zwischen Bologna und Florenz. Die Dunkelheit draußen hat nichts mehr von der befreienden Weite des Nachthimmels, sondern ist schwarz, beklemmend und laut: Wir durchfahren die Tunnel des Apennins, wir tauchen ein und wieder auf so wie ich in meine Gedanken.

Was hätte Vito zu meinem Verhalten gesagt? Wäre er da gewesen, hätte er gesagt …

Aber das war er nicht.

Ob er manchmal an mich denken musste? An meine Mutter mit Sicherheit. Aber warum hat er nicht sie angerufen, sondern mich? Und jetzt bin ich es, die zu ihm eilt.

Carlo weiß nichts von Vito. Ich habe ihm nie von ihm erzählt.

Mir dessen bewusst zu werden funktioniert wie die Dämme, die Ulli und ich als Kinder gebaut haben. Es stoppt den Fluss meiner Gedanken, ähnlich wie wir, wenn auch nur kurz, damals den Lauf des Baches anhielten.

Spritzend und krachend, fast wie Trommelschläge, ließen wir die schwersten Steine, die wir finden konnten, ins Wasser plumpsen: blutwurstfarbenen Porphyr, graugrünen Granit, lachsfarben gestreiften, hellen Dolomit, wie Katzenaugen funkelnden Schiefer. Irgendwann schmerzten uns die Arme von der Anstrengung, und unsere stundenlang im Wasser aufgeweichten Hände, runzelig und weiß, sahen wie blinde Kreaturen der Unterwelt aus. Hatten wir es dann geschafft, den Bach zu stauen, nahm das Wasser seltsame Wege, grub Furchen in die smaragdgrünen Moospolster am Ufer, bildete unvermutet kleine Sumpflöcher im Gras, begann in Wirbeln zu rotieren durch den plötzlichen Widerstand von Felsblöcken, die wir bis zu diesem Moment gar nicht als Teil des Bachbetts, sondern des Unterholzes angesehen hatten. Es blieb aber unerheblich, wie hoch die Steinbarriere war, die wir dem Wasser entgegensetzten, und mit welchen Mengen aus Schlamm und Rinde wir alle Lücken verstopften: Zum Schluss fand das Wasser immer wieder in sein altes Bett zurück.

Ich habe Carlo nie von Vito erzählt.

Dieses Nie wirkt wie eine in den Fluss meiner Gedanken gestürzte Felswand. Einen Moment lang kommen sie zum Stillstand, und wenn sie dann wieder zu strömen beginnen, haben sie ihr Wesen verändert, bewegen sich nun irgendwo zwischen Träumen und Wachen, sind etwas anderes geworden, wie das verborgene Wasser eines Sumpfes etwas anderes ist als das rasch dahinziehende, munter sprudelnde eine Wildbachs.

In diesem halb bewussten Traum sehe ich mich als Kind wieder. Ich bin dabei einzuschlafen, in dem möblierten Zimmer, wo ich damals mit meiner Mutter außerhalb der Saison wohnte. Ein Eurostar hält neben dem Bett, das wir uns teilen. Einige Passagiere betrachten mich durchs Zugfenster mit dem Blick von Menschen, die schon sehr lange auf das vorbeiziehende Panorama geschaut haben: ein sachlicher Blick, aber doch nicht unbeeindruckt von den Landschaften, die ihnen seit Stunden entfliehen. Andere lesen Zeitung und heben nicht einmal den Blick. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass es alles Männer sind und ihr Blick auf meine Mutter Gerda als junge Frau gerichtet ist. Sie liegt neben mir auf der Seite, einen Ellbogen auf die Matratze gestützt, den Kopf in einer Handfläche, während ein Busen voll und schwer aus dem Unterkleid hervorquillt. Sie ist wunderschön, so schön, wie ich es niemals sein werde. Ein Pfiff ertönt, und der Schnellzug setzt sich in Bewegung, durchquert unser Zimmer, als ob es ein Bahnhof wäre. Ein Mann beugt sich am Fenster vor, um unser Bett so lange wie möglich im Auge zu behalten. Meine Mutter legt einen Finger an die Lippen und murmelt sanft, an den Zug gewandt:

»Pst, Eva schläft …«

»Nein, nein«, mischt sich da fröhlich Vitos melodiöse Stimme ein, »sie ist noch wach, meine kleine Sisiduzza. Er ist neben mir aufgetaucht, und seine Augen lachen und haben mich lieb. Um leichter einschlafen zu können, nehme ich seine Hand und drücke sie fest. Doch der Eurostar rast am Kopfende meines Bettes vorüber und weckt mich mit lautem Rattern …

Ein hartnäckiges, metallisches Klacken weckt mich auf. Das Leiterchen, das mir der Liegewagenschaffner als Diebstahlsicherung zu verwenden gezeigt hat, schlägt gegen die Klinke neben meinem Kopf.

»In zwanzig Minuten erreichen wir Rom«, ruft eine Männerstimme auf dem Gang.

An den Bahnhof in Florenz habe ich keine Erinnerung, ich muss also doch irgendwo im Apennin eingeschlafen sein. Meine Augen sind geschwollen und meine Hände steif nach dem brüsken Erwachen. Lange fuhrwerke und klappere ich herum, bevor ich mich aus der Gefangenschaft durch die Leiter befreien kann. Kaum habe ich die Tür ein wenig geöffnet, zieht mir schon der Duft frisch gebrühten Espressos entgegen. Mit schuldbewusster Miene reicht mir der Schlafwagenschaffner ein Plastiktässchen.

»Tut mir leid, der ist sicher zu kalt geworden. Aber ich mache Euch auch gern einen neuen …«

»Nein, nein, machen Sie sich keine Umstände …«, antworte ich, während ich den Kaffee entgegennehme.

Ich bekomme noch ein Tütchen Zucker und das weiße Plastikstäbchen zum Umrühren.

»Danke …«

Mit einem Schluck kippe ich den Espresso hinunter und wische mir mit dem Handgelenk über die Lippen. »Genauso macht es deine Mutter auch«, hat Ulli einmal zu mir gesagt, und ich nahm mir vor, mir die Lippen fortan wie alle Leute nur noch mit den Fingern sauber zu wischen, aber das fällt mir immer erst ein, wenn es bereits zu spät ist. Mit einer Hand noch vor dem Mund schaue ich den neapolitanischen Liegewagenschaffner wie durch einen arabischen Schleier an.

Er betrachtet mich mit ernster Miene. Er hat eine etwas niedrige Stirn, doch sein wellenförmig geschwungener Mund erinnert an das Meer im Süden. Dynamisch ragt sein Nacken aus dem himmelblauen Hemd der italienischen Eisenbahn hervor, er hat breite Schultern, wie ich es mag, und die zupackenden Hände eines Mannes, der sich auf Motoren, auf häusliche Reparaturarbeiten und auf Frauenkörper versteht. Ich bin um einiges größer als er. Noch hat keiner von uns beiden den Blick vom anderen abgewandt. Seine Augen wirken verschleiert, wie von einer plötzlichen Traurigkeit getrübt. Oder ist es Begehren? Meine Atemzüge werden jetzt tiefer, die seinen auch.

Und ich erwische mich bei dem Gedanken: Seit elf Jahren bin ich jetzt treu, aber nicht Carlo, sondern seiner Frau. Warum sollte ich sie nicht mit einem so zuvorkommenden Liegewagenschaffner betrügen, der die Situation nicht ausgenutzt hat und bereit ist, mir einen neuen Espresso zu machen, weil der erste kalt geworden ist?

»Danke …«, sage ich, indem ich ihm die leere Tasse reiche. Er nimmt sie entgegen, darauf bedacht, meine Finger nicht zu berühren.

»Ich werde mich dann ein wenig zurechtmachen«, sage ich und mache Anstalten, wieder im Abteil zu verschwinden.

»Das habt Ihr doch gar nicht nötig«, antwortet er und deutet mit seinem schönen Perlenfischermund ein Lächeln an.

»Danke«, sage ich nun schon zum dritten Mal und schließe die Tür hinter mir.

Unser Zug rollt mittlerweile neben der Autobahn entlang, das heißt, wir haben deren Verzweigung bei Fiano Romano schon passiert. In Kürze wird er den Stadtring schneiden, und dann sind wir in Rom.

Als wir am Bahnhof Roma Tiburtina eintreffen, ist es halb sieben Uhr morgens, aber noch nicht lange hell: Wir haben schon Sommerzeit, da wird es erst spät Tag. Eine Frau mittleren Alters beobachtet, wie unser Zug jetzt am Gleis hält. Ihr Lidschatten schimmert silbern unter den zu Kommas gezupften Augenbrauen. Unter ihrem offenen tresterfarbenen Mantel trägt sie ein für ihr Alter zu kurzes Schlauchkleid und Schuhe aus goldfarbenem Leder. Sie sieht aus wie nach einer Nacht, die ihre Erwartungen nicht erfüllt hat. Hinter ihr, an einer Mauer, erinnert eine Steintafel an die römischen Juden, die 1943 zusammengetrieben und von hier aus in verplombten Zügen deportiert wurden. Auf ihrem Leidensweg nach Auschwitz transportierten die Nazis sie über jene Gleise nach Norditalien hinauf, über die mein Zug gerade gefahren ist.

Der Liegewagenschaffner reicht mir den Koffer herunter, bevor er selbst mit einem jungenhaften Satz vom Trittbrett springt. Als er mir die Hand gibt, wirkt er wieder erwachsen und formgewandt.

»Ich heiße Nino.«

»Und ich Eva«, antworte ich und schüttele seine Hand.

»Ein schöner Namen, fast so schön wie Ihr …«

Den Trolley hinter mir herziehend, entferne ich mich gut gelaunt: Nichts beflügelt die Schritte einer Frau mehr als ein Kompliment. Auch meine Mutter weiß das sehr genau.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
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