1963–1964
Herr Neumann und Frau Mayer hatten eine klare Abmachung. Sie würde ihm keine Steine in den Weg legen, wenn ihm so viel daran lag, diese Hilfsköchin wieder aufzunehmen, die sich ein Problem eingehandelt hatte – ein Problem, das mittlerweile zwei Monate alt war und dicke rosafarbene Wangen hatte und die hellen Augen der Mutter. Seit vielen Jahren schon verwöhnte der Chefkoch ihre geschätzten Gäste mit Tiroler Spezialitäten, vielleicht nicht übermäßig fantasievoll, aber immer perfekt zubereitet, und sorgte so dafür, dass sie im Jahr darauf zurückkehrten. Daher wollte sie ihm jetzt auch nicht seinen Wunsch abschlagen.
Frau Mayer war eine Frau um die fünfzig, die man als »klassische arische Schönheit« hätte bezeichnen können (und die seinerzeit auch tatsächlich so bezeichnet wurde): schlanke Figur, Turnerinnenbeine, ein zwar nicht üppiger, aber durch den Dirndlausschnitt gefällig zur Geltung gebrachter Busen und ein dicker blonder Zopf, den sie um den Kopf geschlungen trug und dem nie, da waren sich alle sicher, auch nur ein einziges Haar entwischte. Da sie während des Faschismus zur Schule gegangen war, sprach sie ein gutes, fast gewählt klingendes Italienisch. Doch erst wenn sie mit ihren Gästen Hochdeutsch sprach, kam ihre Vorliebe für gute Umgangsformen voll zum Ausdruck. Aus Frau Mayers Mund waren den Personalpronomen »Sie« und »Ihnen« die Großbuchstaben, mit denen sie geschrieben wurden, überdeutlich anzuhören.
Alles an ihr wirkte kontrolliert. Nur eines nicht: Der Blick ihrer schönen blaugrünen Augen ließ erahnen, dass sie, anstatt Tag für Tag lächelnd ihre Gäste zu hofieren, ebenso ein Leben voller Ausschweifungen und Leidenschaft hätte führen können. Mit etwas Fantasie konnte man sich Frau Mayer auch als Vamp in einem Kabarett vorstellen, der die Männer an den Rand des Selbstmords treibt, als Kriegerin eines Barbarenvolkes mit Drachenblut am Dolch oder als wahrsagende Poetin mit einem guten Draht zu den Mächten der Unterwelt.
Vielleicht hatte gerade diese Neigung zum Exzessivem, die ihr Blick verriet, Frau Mayer dazu bewogen, auf eine eigene Familie zu verzichten und nur einem Gott zu dienen: dem Wohlergehen ihrer Gäste. Trotz ihrer zahlreichen Angestellten im Zimmerservice, im Speisesaal und in der Küche entging ihr kein Detail im Hotelbetrieb. Das korrekte Aufschütteln der Gänsedaunenkissen in den Zimmern mit den Birkenholzbetten, die Lieferung der Säcke mit dem Sägemehl, das auf dem Küchenfußboden verteilt wurde, die Tischdekorationen im Speisesaal, bestehend aus Trockenblumen und geflochtenem Stroh, oder die Wartung des Heizkessels – all diese Dinge durften nicht ohne ihre Zustimmung erledigt werden. Selbst die Auswahl der Musikstücke, die die Kapelle an lauen Sommerabenden auf der Terrasse zum Besten gab, erfolgte ihrem Geschmack entsprechend, der auf einem simplen Grundsatz basierte: ans Herz gehende Liebeslieder und nichts anderes. Wer einsam und melancholisch gestimmt war, durfte sich verstanden und aufgehoben fühlen in dieser Atmosphäre; wer in netter Begleitung war, nahm mitfühlend Anteil am Schicksal der weniger Glücklichen, und alle sprachen sie, zum Wohle des Hauses, großzügig den Getränken zu.
Das einzige Detail, das sich immer mal wieder ihrer Kontrolle entzog, war der Tod. Fast alle Gäste reisten nach Meran wegen der Thermalbäder und Heilwässer, um hier die verschiedensten Gebrechen zu kurieren. Entsprechend waren die meisten bereits im fortgeschritten Alter, was leider zur Folge hatte, dass ab und zu jemand von ihnen starb. Und manche Gäste waren, zum Leidwesen von Frau Mayer, sogar so rücksichtslos, dies auf ihrem Zimmer zu tun.
Auch hier dachte Frau Mayer natürlich nicht an sich selbst, sondern an ihre Gäste – die lebenden, genauer gesagt. Für die war es höchst unerfreulich, gerade in einer Zeit, da sie eine Besserung der eigenen Gebrechen erhofften, mit ansehen zu müssen, wie die Leiche eines Gleichaltrigen abtransportiert wurde. Aus diesem Grund hatte Frau Mayer mit einem lokalen Bestattungsinstitut einen Spezialservice vereinbart: Nicht in herkömmlichen Särgen, sondern in eintürigen Schränken aus schönem Nussholz wurden die Toten aus dem Haus getragen, wodurch der ganze Vorgang nicht mehr wie eine Leichenüberführung, sondern wie ein Umzug aussah.
Damit war der einzige Hotelgast, dessen Erholung gestört wurde, lediglich jener, Friede seiner Seele, dem sie ohnehin nichts mehr nützte.
Die Familie Mayer besaß das Hotel seit den Zeiten, da der österreichische Adel in diesem südländischen Vorposten von Felix Austria, wo zwei Drittel des Jahres die Sonne schien, seine Brunnenkuren machte. Sogar der Kaiser höchstpersönlich, in Tirol unterwegs, um sich ein Bild von der militärischen Lage im Ersten Weltkrieg zu machen, hatte hier für eine Nacht Quartier bezogen. Und Frau Mayer hegte die vage Erinnerung an eine kaiserliche Hand, die sich, herrlich und unbehandschuht, auf ihre blonden Locken gelegt hatte. Ob es sich um eine echte Erinnerung handelte oder um eine oft gehörte Geschichte mit ihr, dem dreijährigen Mädchen, als Hauptperson? Sie wollte es gar nicht so genau wissen.
Eigentlich war dem Erstgeborenen der Familie das Hotel zugedacht gewesen, während Irmgard, das einzige Mädchen und drittes von sechs Kindern, hätte leer ausgehen sollen. Auf diese Pläne der Familie Mayer hatte die Weltgeschichte jedoch keine große Rücksicht genommen.
Julius, der älteste Bruder, war bereits im ersten Jahr des zweiten großen Weltgemetzels in Montenegro gefallen.
Karl, der zweite, geriet bei El Alamein in Gefangenschaft und verbrachte den Rest des Krieges in einem Gefangenenlager in Texas. Da er sich dort aber, obwohl eigentlich kein großer Freund der nationalsozialistischen Ideen, geweigert hatte, seinen Treueeid gegenüber dem Oberkommando der Wehrmacht zu widerrufen, wie es die Amerikaner als Bedingung für die Freilassung von allen deutschen Offizieren verlangten, kehrte er erst drei Jahre nach Kriegsende, schwer krank, nach Hause zurück. Als Exnazi von seinen Mitbürgern in der Heimat gemieden, besonders von jenen, die selbst die schwarze SS-Uniform getragen hatten, verschied er bald aufgrund »allgemeinen körperlichen Verfalls«, wie der Hausarzt der Familie im Totenschein festhielt.
Anton, der Viertgeborene, war in den dreißiger Jahren als kaum Zwanzigjähriger nach Brasilien aufgebrochen, um dort sein Glück zu machen, und hatte es in Gestalt einer Kaffeeplantage, einer Mulattin, die er zur Frau nahm, vielen Geliebten verschiedenster Herkunft und rund einem Dutzend Kinder auch gefunden. Zurückzukehren, um in der Heimat das Hotel der Familie zu führen – daran verschwendete er keinen Gedanken.
Stefan, der Fünftälteste, war 1919 dreijährig an der Spanischen Grippe gestorben.
Josef, den Letztgeborenen, traf 1943 in Kalitwa an der Don-schleife südwestlich von Stalingrad die Kugel eines russischen Scharfschützen mitten in die Stirn.
Um den gramgebeugten Eltern zu helfen, blieb nur noch eine übrig, und das war sie, die kleine Irmgard. Ihr Treuegelöbnis dem Gott des Hotelwesens gegenüber, das Frau Mayers gesamtes Leben prägte, war also das Resultat dynastischer Schicksalsschläge.
Der einzige Angestellte, der sich Frau Mayers totaler Kontrolle zu entziehen wagte, war Herr Neumann. Immerhin entwarf er tagtäglich die Speisekarte, entschied über die Einkäufe und bezahlte die Lieferanten. Er hatte das uneingeschränkte Regiment in der Küche. Diese Sonderrolle hatten Herr Neumann und Frau Mayer schon bei seiner Anstellung, wenige Jahre nach Kriegsende, vereinbart.
»Ein Chefkoch ist der Chef in der Küche, wie der Name schon sagt. Wie viel ich ausgeben kann, bestimmen Sie, aber was ich einkaufe und was die Gäste auf den Tisch bekommen, ist meine Sache. Sollten die nicht zufrieden sein, können Sie mir kündigen. Aber ich kann nur in einer Küche arbeiten, wo ich das Sagen habe. Also, entweder – oder …«
Frau Mayer hatte sich für das »Entweder« entschieden und es in fast zwanzig Jahren nie bereut.
Und als Herr Neumann sie nun darum bat, seine Hilfsköchin Gerda wieder einstellen zu können, erhob sie keinen Einwand. Gewiss, sie hatte Augen im Kopf und sah, wie schön dieses Mädchen war. Da lag der Verdacht nahe, dass die Hartnäckigkeit, mit der sich Herr Neumann für sie einsetzte, mit Gerdas Reizen zusammenhing. Doch sofort verscheuchte sie diesen Gedanken: Ihr Chefkoch hatte in seiner Küche bislang nur Leute geduldet, die wirklich hart arbeiteten, und Gerda bildete in dieser Hinsicht, außer als ihr Bauch immer häufiger gegen die Arbeitsplatte stieß, keine Ausnahme. Zudem gab es tüchtige Hilfsköchinnen, denen man nicht ständig alles erklären musste, keineswegs wie Sand am Meer. Auch das war zu bedenken. Die Bedingungen waren allerdings ebenfalls klar: Von diesem Baby durfte man nichts sehen und nichts hören. Und dass es unmöglich die Gäste im Speisesaal stören durfte, musste gar nicht erst erwähnt werden. So undenkbar war das.
Am Tag ihrer Rückkehr nach Meran suchte sich Gerda als Erstes in der Speisekammer eine Apfelkiste aus festem Holz und ohne spitze Stellen, legte sie mit Kissen und Handtüchern aus, stellte sie in eine Ecke, wo sie nicht im Weg war, und bettete Eva hinein. Dann nahm sie ihre Arbeit an der Seite von Herrn Neumann wieder auf, als wäre sie niemals fort gewesen.
Noch nicht einmal jetzt, da ausgerechnet Gerda jenes für eine »Matratze« typische Missgeschick widerfahren war, nämlich ein Kind zu bekommen, ohne geheiratet zu werden, ließ jemand, weder die Küchenjungen noch die Hilfsköche, Köche oder Kellner, es ihr gegenüber an Respekt fehlen. Vielleicht lag das auch an dem Baby in der Holzkiste in einer Küchenecke: Evas Gegenwart verlagerte die Aufmerksamkeit von dem üblichen Verhalten einer »Matratze«, das Gegenstand ordinärer Witze war, auf das, wozu dieses Verhalten führen konnte: zu einem rosigen, unwiderstehlich süßen, pausbäckigen Baby. Noch nicht einmal, wenn sich Gerda, was mehrmals täglich geschah, die Schürze aufband und sie, ohne sie abzunehmen, zur Seite schob und sich die Bluse öffnete, um Eva die Brust zu geben, hörte man einen Kommentar. Natürlich schauten alle hin: die Kellner, die an der Durchreiche auftauchten und »Spinatspatzlan, neu« riefen, die Köche, die brieten, rührten, kosteten, und Elmar, der Tellerreste in die Mülltonne kippte. Diese weiße, blau geäderte Rundung mit der braunen, glänzenden Warze, die in dem kleinen Mund verschwand und wieder daraus auftauchte, zog alle Blicke in der Küche auf sich. Während in der plötzlichen Stille nur das kräftige Saugen und Schmatzen des trinkenden Kindes zu vernehmen war, starrten alle andächtig auf diesen Teil von Gerdas Körper, der immer schon sehnsüchtige Fantasien geweckt hatte, sie nun aber, während er seiner eigentlichen Funktion nachkam, verstummen ließ.
Es gab aber auch aufreibende Stunden. Dann trat die Last der Arbeit in der Hektik alltäglicher Verrichtungen wieder deutlich hervor, ähnlich wie der bittere Geschmack von Radicchio, der sich, nachdem er sich eine Weile unter den anderen Zutaten des Salats versteckt hat, unversehens auf der Zunge voll entfaltet.
Bevor sie einschlief in ihrem Bett im Schlafsaal unter dem Dach, den sie mit den anderen weiblichen Angestellten teilte, gab Gerda der Kleinen noch einmal die Brust. Fielen ihr dann die Augen zu, war Eva in die Armbeuge der Mutter gekuschelt, beide eingehüllt in den Geruch von Milch und Windeln. In der Nacht nach ihrem ersten Arbeitstag war Eva schon nach wenigen Stunden wieder aufgewacht und hatte nach der Brust zu suchen begonnen. Noch halb im Schlaf schaffte es Gerda nicht sofort, ihr Nachthemd aufzuknöpfen. Zunächst war es nur ein keuchendes Wimmern, das Eva von sich gab, dann ein Weinen, das immer lauter wurde. Von den Betten der Kolleginnen drangen Unmutsbekundungen zu ihnen herüber, Schnauben, halb Flüche, die erst verstummten, als Eva eine Brustwarze fand und sich beruhigte.
In der nächsten Nacht war Gerda, um allen Protesten zuvorzukommen, sofort zur Stelle, als Eva nach Milch verlangte, doch jetzt begann Eva nach dem Stillen zu weinen. Gerda nahm sie hoch, stand auf und trug sie hin und her durch den Schlafsaal, wobei sie der Kleinen mit der Handfläche sanft auf den Rücken klopfte, wie es ihr die Hebamme »Stern der Güte« beigebracht hatte. Wieder forderten schlaftrunkene Stimmen sie auf, endlich Ruhe zu geben. Aber erst nachdem ein kräftiges, nach geronnener Milch riechendes Bäuerchen Evas Weinen beendete, konnte sich Gerda wieder hinlegen.
Einige Nächte ging das so, und das immer in den düsteren Stunden vor dem Morgengrauen, in denen man, falls man aufgeweckt wird, die Gedanken niederkämpfen muss, um wieder in den Schlaf zu finden, was nicht immer gelingt. Nach einer Woche nahmen die Zimmerkameradinnen Gerda zur Seite und machten ihr nicht unfreundlich, aber unmissverständlich klar: Wollte sie weiter mit ihrer Tochter in der Gemeinschaftsunterkunft übernachten, durfte der Schlaf der anderen nicht mehr gestört werden.
Gerda verstand das. Sie kannte ja die Erschöpfung nach einem langen Arbeitstag, kannte die bleischweren Glieder, die schmerzenden Gelenke, das benebelte Gehirn: Allein der Schlaf konnte, zumindest teilweise, das Wissen, dass es am nächsten Tag wieder von vorn losgehen würde, erträglich machen. Die Proteste waren also gerechtfertigt: Ohne ausreichend geschlafen zu haben, schaffte man es einfach nicht, den ganzen Tag mit dem Arm voller Teller zwischen Küche und Restaurant hin- und herzulaufen oder Dutzende von Zimmern tipptopp aufzuräumen, auch wenn dort Vandalen gehaust hatten, oder die Fußböden von vier Stockwerken plus der im Nebengebäude zu schrubben. Ohne Schlaf konnte man eigentlich auch nicht, so wie Gerda, in dieser überhitzten Küche am Herd stehen, Zutaten zerteilen, verrühren, kochen, aber für diesen Säugling war nun einmal sie verantwortlich – es war ihre Tochter, nicht die der Kolleginnen. Deshalb trafen sie eine Vereinbarung: Bis zum Stillen vor Tagesanbruch konnte Gerda im Zimmer bleiben. Aber danach musste sie hinaus.
Einige Wochen lang verbrachte Gerda die letzten Stunden der Nacht damit, mit ihrem Kind im Arm auf dem Flur hin und her zu wandern. Die Müdigkeit hielt sie wie eine undurchdringliche Mauer gefangen, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihr jemals zu entfliehen. Manchmal schlief sie auch auf ebenjenen Stufen ein, von denen sie sich, Monate zuvor, in der Absicht hinuntergestürzt hatte, kein vaterloses Kind im Arm halten zu müssen. Aber nun war Eva auf der Welt und legte das mit blondem Flaum überzogene Köpfchen in einer Haltung vollkommenen Vertrauens auf ihre Schulter.
Trotzdem hatte Gerda sich noch nie so alleingelassen gefühlt wie in dieser Zeit.
Es kam vor, dass sie tagsüber, während sie an der Arbeitsplatte stand, plötzlich einnickte. Einmal übermannte sie der Schlaf in der Gefrierkammer. Da hatte sie sich den schweren Mantel aus grober Wolle übergezogen und dem Müdigkeitsanfall nicht widerstehen können. Zwischen den reifüberzogenen Rindervierteln und Zickleinhälften sank sie zu Boden, und wäre Herr Neumann nicht kurz darauf selbst dort aufgetaucht, um einen Truthahnbraten auszusuchen, wäre sie wohl erfroren.
An diesem Tag bot Nina, die Kellnerin aus Egna, ihr an, sich während der »Zimmerstunde« um Eva zu kümmern.
»Ein paar Stunden Schlaf würden dir nicht schaden«, sagte sie, indem sie das Baby auf den Arm nahm.
Gerda blickte in diese Augen, die sie aus nächster Nähe mitfühlend ansahen, und spürte, wie eine tiefe Dankbarkeit in ihr aufkam und immer stärker wurde, wie der Wind vor einem Schneesturm, und brach in Tränen aus. Erst als sie schon im Bett lag, konnte sie sich beruhigen, und der Schlaf, den sie gewaltsam verdrängt hatte, packte sie jäh und überwältigte sie.
Seit ihm von einer russischen Granate das Bein zerfetzt worden war, hatte Silvius Magnago keine Nacht mehr gut geschlafen. Der Phantomschmerz, der einem vorgaukelt, das fehlende Körperteil sei noch da, war seit zwanzig Jahren sein dauernder Begleiter. Nur diesem unsichtbaren Gefährten konnte er alle Facetten seines Wesens offenbaren, seine Kraft, seine Wut, seine Zähigkeit und seine Verzweiflung, seinen Groll gegenüber den Gesunden, die nicht wussten, was ein Leben mit dem ständigen Schmerz im Fleisch bedeutete, aber auch seine Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seit Magnago aber diese Fetzen von rauem, im Bozener Gefängnis entwendeten Toilettenpapier zugespielt worden waren, kamen ihm die Schmerzen im Bein geradezu harmlos vor, verglichen mit dem, was ihn jetzt so quälte: das Wissen, nichts getan zu haben für diese Leute, die in ihm ihre letzte Hoffnung gesehen hatten.
Die Kleider, die man den Ehefrauen der Tatverdächtigen der »Feuernacht« einige Zeit nach deren Festnahme ausgehändigt hatte, waren voller Blut, Erbrochenem und Exkrementen gewesen. Die »Bumser« vom Befreiungsausschuss Südtirol waren im Grunde einfache Leute. Trotz allem hatten sie darauf vertraut, dass man ihnen schon helfen würde, wenn man erst in der Welt draußen von der unmenschlichen Behandlung erführe, die sie im Bozener Gefängnis erdulden mussten. Und so hatten sie nichts unversucht gelassen, um Berichte über die Folterungen, denen sie unterzogen wurden, aus der Haft zu schmuggeln. Einige Zettel wurden abgefangen und ihre Absender bestraft, doch andere schafften es, die Zensur zu überwinden. Der Adressat ihres Hilferufs war natürlich er, Silvius Magnago, die einflussreichste politische Stimme Südtirols.
Es war gegen Ende des Jahres 1961, als Magnago diese traurigen Klopapierzettel erhielt. Und er, der sich mit körperlichen Schmerzen sehr gut auskannte, hatte das alles gespürt, als widerführe es ihm selbst: die Krämpfe in den über Stunden hochgebundenen Armen, das Reißen des von Fausthieben traktierten Gewebes, das unheimliche Krachen von Knochen, die unter Schlägen barsten, der Brechreiz und das fassungslose Entsetzen derer, die gezwungen wurden, ihre eigenen Exkremente zu schlucken, die platzende Lunge, wenn der Kopf unter Wasser gehalten wurde, das Wahnsinnigwerden durch Schlafentzug.
Er hatte kaum geatmet, während er die Mitteilungen las, hatte geweint, in der Stille seines mit hellem Holz vertäfelten Arbeitszimmers, das auf die Prachtstraße Bozens hinausging. Dabei hatte er wieder die Geschehnisse vor Augen gehabt, denen er im Krieg als junger Gebirgsjägerleutnant beiwohnen musste, jene Bilder, die er so gern vergessen hätte. Er hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet, auf den Gewürzstrauch, den er so mochte. Jetzt war er kahl, die gelben Blüten, die mit ihrem Vanilleduft den Frühling ankündigten, waren noch nicht gesprossen. Noch nicht einmal sie spendeten ihm also Trost.
Die Südtiroler Volkspartei, der er vorstand, konnte es sich nicht leisten, auch nur entfernt mit den »Bumsern« in Zusammenhang gebracht zu werden. Zu steinig war der Weg zu einer echten Autonomie Südtirols. Man musste alles einkalkulieren, die endlosen Zeitspannen politischer Prozesse, all die Beratungen und Konferenzen, das Wechselbad der Versprechungen und Drohungen vonseiten eines Staates, der zu lange geglaubt hatte, das Problem aus der Welt zu schaffen, indem er es einfach negierte. Erst jetzt, da diese Provinz zu einem Pulverfass geworden war, sann die italienische Regierung über mögliche Lösungen nach.
Magnago hatte damit begonnen, ein feines, hochempfindliches Netz aus Kompromissen und Verhandlungslösungen zu knüpfen, um jene Autonomie (Los von Trient) zu erreichen, die allein einen Ausweg aus der Sackgasse wies und das schlimmste Szenario verhindern konnte: einen Bürgerkrieg der beiden Volksgruppen. Dabei wusste er sehr genau, dass sein ausgeprägter Südtiroler Akzent, mit dem er sein ansonsten tadelloses Italienisch sprach, seine Gesprächspartner in Rom von vornherein zu der Überzeugung veranlasste, dass er sie hassen müsse. Er wusste auch, welches Maß an Diplomatie, an Geduld und bewusstem Überhören so mancher Bemerkung notwendig war, um auch nur den eigenen Ausgangspunkt für Verhandlungen deutlich zu machen: Die Südtiroler hassten die Italiener nicht, was sie hassten, war die Kolonisierung, die sie durch den italienischen Staat erlitten hatten. Somit war klar, dass sie sich keinesfalls auf das Risiko einlassen durften, mit jenen Leuten verwechselt zu werden, die, um ihr Anliegen durchzusetzen, auf Sprengstoff zurückgegriffen hatten, auch wenn damit nur Symbole des Staates getroffen werden sollten.
Doch es gab einen weiteren Grund für seine Bestürzung angesichts dieser Zettel, die buchstäblich mit dem Blut gefolterter Männer geschrieben worden waren, und der hatte nichts mit politischen Zwängen zu tun. Während seines Studiums an der Universität Bologna, wo er auch sein Juraexamen ablegte, war Magnago zu der Überzeugung gelangt, dass der Dialog, die Suche nach Kompromissen, die harte, aber aufrichtige Diskussion selbst sehr weit auseinanderliegender Positionen, jeglicher Form von Gewalt vorzuziehen sei. Wer auf Argumente verzichtete und sich auf zerstörerische Aktionen gegen Sachen oder Menschen einließ, so seine Überzeugung, setzt sich ins Unrecht, egal, wie gerecht sein Anliegen auch sein mochte: Dies war das einzige politische Credo des Silvius Magnago. Von einer der großen Ideologien dieses kriegerischen 20. Jahrhunderts hatte er selbst sich daher nie blenden lassen. Nicht lange vor Beginn des letzten großen Völkerschlachtens war er erwachsen geworden und hatte genau beobachten können, wohin es führte, wenn die Politik der Gewalt den Vortritt ließ: Die ganze Welt hatte in Flammen gestanden. Sein eigener amputierter Leib und die Schmerzen, welche die Wunde ständig ausstrahlte, machten es ihm zur Pflicht, immer und überall für die Unversehrtheit des Menschen einzustehen. Und damit waren nicht nur die Bewohner seines »Heimatlands« gemeint, die ihn beauftragt hatten, sie zu repräsentieren; sondern auch seine Gegner, die trägen Politiker in Rom, ja, selbst jene bornierten, kleingeistigen Beamten in den Behörden, die ihre Macht ausnutzten und seine Landsleute schikanierten. Seine Pflicht sah er darin, den politischen Kampf von physischer Zerstörung zu trennen, selbst wenn es nur um Hochspannungsmasten ging.
Er hatte die Zettel sorgfältig zusammengefaltet in einen Umschlag gesteckt und an einem Ort deponiert, der nur ihm bekannt war. Später erfuhr die Öffentlichkeit zwar von den Folterungen im Bozener Gefängnis, aber es war nicht Silvius Magnago, der sie bekannt gemacht hatte.
In den zwei Jahren, die seither vergangen waren, waren zwei Männer des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) durch Misshandlungen in der Haft oder später an deren Folgen gestorben. Andere hatten bleibende Schäden davongetragen. Die Folter prägte ihren Körpern das untilgbare Zeichen des Leidens ein, so wie es der Krieg mit dem Gebirgsjägerleutnant Magnago getan hatte. Es gab zwar einen Prozess gegen die Carabinieri, die für die Misshandlungen verantwortlich waren, doch in dessen Verlauf behaupteten deren Verteidiger, die Häftlinge hätten sich die Verletzungen selbst zugefügt (obwohl sie von Dutzenden ärztlicher Gutachten, die den Prozessakten beilagen, dokumentiert wurden), und zwar mit dem alleinigen Ziel, Italien in Misskredit zu bringen. Das Gericht schloss sich dieser Auffassung an: Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Unter dem Jubel ihrer Angehörigen verließen sie nach der Urteilsverkündigung den Gerichtssaal als freie Männer. Zusätzlich erhielten sie eine offizielle Belobigung ihres Vorgesetzten, des Carabinierigenerals De Lorenzo. Ihre Opfer aber, die Häftlinge, die sie zu gebrochenen Gestalten erniedrigt und entwürdigt hatten, wurden mit Handschellen in die Haftanstalt zurückgebracht.
Silvius Magnago äußerte sich nie dazu, wie viel ihm die Entscheidung abverlangt hatte, nicht auf den verzweifelten Hilferuf der Häftlinge zu reagieren. Er verriet auch nicht, ob deren Martyrium seinen ohnehin schon knappen Nachtschlaf um neue Albträume bereichert hatte.
Der Leib. Sich für die Unversehrtheit des Leibes einzusetzen. Bei diesen Männern war es ihm nicht möglich gewesen.
Im Herbst 1963 lächelte ein weiß gekleidetes junges Mädchen mit einem Blumenstrauß im Arm von den Plakaten herunter, mit denen die Mailänder Straßen gepflastert waren. Ein Art Gerda im mediterranen Stil: mit vollen Brüsten, weichen Lippen, hohen Wangenknochen, aber schwarzen Haaren und dunklem Teint. Auf diese Weise gedachte die Democrazia Cristiana sich ein neues, jüngeres Image zuzulegen, eine Aufgabe, mit der die christdemokratische Partei den Amerikaner Ernest Dichter betraut hatte, den Vater der Motivforschung hinsichtlich des Kaufverhaltens, der auch eine berühmt gewordene Werbekampagne für kalifornische Trockenpflaumen kreierte. Von ihm stammte der Slogan, der unter dem schönen Mädchen prangte:
DIE
CHRISTDEMOKRATISCHE PARTEI IST AUCH ZWANZIG
GEWORDEN!
Zwischen Domodossola und Syrakus, zwischen Udine und Bari ergänzten überall auf der italienischen Halbinsel unbekannte Hände mit Pinsel und Farbe den Slogan:
… UND ES IST ZEIT, SIE FLACHZULEGEN!
Das war von Mr. Dichter so nicht geplant gewesen.
Die Anregung, mit der Christdemokratischen Partei das zu tun, was jeder Mann in Italien gern mit deren Altersgenossinnen aus Fleisch und Blut angestellt hätte, wurde von vielen beherzigt: Bei den Parlamentswahlen 1963 erhielt die Kommunistische Partei zum ersten Mal in ihrer Geschichte mehr als ein Viertel der Stimmen. Die Alleinherrschaft der DC war gebrochen.
Unter der Führung Aldo Moros konstituierte sich die erste Mitte-links-Regierung der Republik Italien. Einige Tage nach der Stimmenauszählung wurde der Sitz der Christdemokraten an der Piazza del Gesù mit einer großen Kiste Trockenpflaumen beliefert.
Dort lachte niemand. Das politische Gleichgewicht, wie es sich nach der Konferenz von Jalta etabliert hatte, war durch den Wahlausgang ins Wanken geraten. Die Geheimdienste beiderseits des Atlantiks waren sich einig, dass nun neue Saiten aufgezogen werden mussten. Damit gewann Gladio neue Bedeutung, jene paramilitärische Geheimorganisation, welche die CIA schon in den fünfziger Jahren in Italien aufgebaut hatte, um den Vormarsch der Linken zu stoppen. Nun wurde der sogenannte Piano Solo, der Plan einer Alleinregierung, entwickelt, der drei Ziele verfolgte: erstens einen militärischen Staatsstreich gegen die neue Mitte-links-Regierung; zweitens die Einsetzung einer »Regierung der öffentlichen Sicherheit« unter der Führung von Generälen und rechten Parlamentsabgeordneten und drittens die Ermordung des Ministerpräsidenten Aldo Moro.
Der Piano Solo wurde nie realisiert, aber zumindest das letzte der drei Ziele erreicht, wenn auch erst fünfzehn Jahre später und durch die Hand Dritter. Das neue Spiel der Geheimdienste hatte begonnen. Es war so schmutzig und brutal, wie man es noch nie erlebt hatte. Und Italien standen blutige Jahre bevor.
Am 9. Dezember 1963, vier Tage nach der Vereidigung der Regierung Moro, begann im Mailänder Justizpalast der größte politische Prozess seit Ende des Krieges, der Prozess gegen die Attentäter der »Feuernacht«. Angeklagt waren einundneunzig Personen, dreiundzwanzig wurden noch mit Haftbefehl gesucht.
Bis zu diesem Zeitpunkt wussten die meisten Italiener nichts von Südtirol. Kaum jemand war sich darüber im Klaren, dass es dort oben ganz im Norden eine entlegene Ecke gab, wo die Leute Deutsch sprachen. Erst jetzt, durch den Pressewirbel um den Mailänder Prozess, begann man etwas von der Existenz und dem Charakter dieser Grenzprovinz zu begreifen.
An einem kalten Januarmorgen, ungefähr einen Monat nach Prozessbeginn, eröffnete das Schwurgericht seine Sitzung vor einem Publikum, das an diesem Tag sehr viel bunter als gewöhnlich aussah. In den Bankreihen hinter den nächsten Angehörigen der Angeklagten saßen Dutzende Männer in Lederhosen, mit roten Westen, Lodenjacken und Filzhüten mit Federschmuck auf dem Kopf: die Tiroler Schützen.
Unter ihnen war auch Peter Huber mit fast all seinen Schützenbrüdern, die Jäger waren wie er, sowie die Ehefrauen der Angeklagten, die regelmäßig die Kosten und Mühen der langen Anfahrt im sogenannten »Tränenbus« auf sich nahmen. Auch die Schützen hatten einen Bus gemietet, um in großer Zahl am Mailänder Prozess teilzunehmen. Doch sie konnten nur wenigen Sitzungen beiwohnen, vielleicht zwei oder drei, denn sie alle hatten Familien und ihre Arbeit, die zu Hause auf sie warteten. Aber es war ihnen wichtig, den »Helden des BAS« jene Unterstützung zu zeigen, die Silvius Magnago ihnen verweigert hatte.
Die Attentäter der Feuernacht selbst enttäuschten weiterhin die Erwartungen all jener, die in ihnen außerordentliche Figuren, seien es Helden oder Mörder, sehen wollten. Sepp Kerschbaumer, der Kopf der Gruppe und Inhaber eines kleinen Geschäfts in Frangart vor den Toren Bozens, war von der Folter gezeichnet. Er war ein schmächtiger Mann mit einem eingefallenen Gesicht, einem ungewöhnlichen Haarschnitt nach der Mode der zwanziger Jahre und dem melancholischen Blick eines Menschen, der sich in der Welt der Ideale heimischer fühlt als in der Geschäftswelt, in der er jedoch sein tägliches Brot zu verdienen gezwungen ist: So war es auch eher seine Frau, die ihn dazu drängte, armen Schuldnern nachzulaufen, denen er selbst, der mehrmals täglich das Vaterunser betete, die Schulden ohne Weiteres erlassen hätte. Sein mit Intelligenz gepaarter idealistischer Eifer und die innere Überzeugung, mit der er die mehr menschlichen als politisch-historischen Gründe erläuterte, die zu den Aktionen des BAS geführt hatten, nötigten den Mailänder Richtern ehrlichen Respekt ab. Was Kerschbaumer schilderte, war für jedermann zu verstehen. Er erzählte, wie demütigend es sei, wenn man auf einer Behörde nicht verstanden werde und kein Formular ausfüllen könne, weil man die Amtssprache nicht beherrsche; er berichtete von Ärzten in Krankenhäusern, die von ihren deutschsprachigen Patienten verlangten, dass sie sich, egal wie krank oder schwer verletzt sie waren, auf Italienisch ausdrückten; er legte dar, wie schwierig es für Südtiroler sei, außerhalb ihres Hofes Arbeit zu finden. Die italienischen Besucher hörten Kerschbaumer gebannt und voller Verständnis zu.
Um die Benachteiligungen zu belegen, denen die Südtiroler ausgesetzt waren, berichtete einer der Angeklagten in einer anderen Sitzung: »Seit mehr als sechs Jahren wartet meine Schwiegermutter auf ihre Rente.«
Es gab Gelächter im Saal, beifälliges Gemurmel und Rufe aus dem Publikum, die von unverkennbarer Sympathie getragen waren:
»Meine Mutter auch.«
»Und mich lassen sie auch mit der Rente hängen.«
Es dauerte eine Weile, bis die Ruhe im Saal wiederhergestellt war.
Durch die Sitzungen im Mailänder Gericht lernten die Italiener die Südtiroler kennen, die tüchtigen Automechaniker, Bauern und kleinen Handwerker vom BAS, aber auch Südtirol allgemein; umgekehrt lernten die Südtiroler endlich jenen langen Stiefel kennen, der, ob sie es wollten oder nicht, längst Teil ihrer Heimat war. Auch in Lecce oder Rom, in Novara und selbst in Mailand, erkannten die Südtiroler jetzt, ging der italienische Staat mit seinen Bürgern nachlässig um: Nicht jede Schwerfälligkeit und Umständlichkeit war das Resultat einer absichtlichen Diskriminierung. Sie war nicht persönlich gegen die Südtiroler gerichtet, diese dickfellige Ineffizienz der italienischen Bürokratie.
Wenn Peter die Menschen in dem überfüllten Gerichtssaal betrachtete, fand er nicht mehr jene Italiener vor, die er zehn Jahre zuvor am Bozener Bahnhof hatte eintreffen sehen. Er sah nicht mehr die hageren Gesichter von Menschen, die der Armut zu entfliehen versuchte, mit von Hunger, von Hoffnung und Angst geweiteten Augen, mit dreckigen Fingernägeln, Männer, die am Abend, bevor sie zu den großen Fabriken in Norditalien aufbrachen, ein letztes Mal die Ziegen in den Stall getrieben hatten. Dies waren Italiener, für die die Städte, in denen sie wohnten, tatsächlich ihr Zuhause waren. Darunter hübsche Mailänder Mädchen mit zu Bienennestern toupierten Haaren, junge Männer mit dicken schwarzen Brillen und mit Notizbüchern auf dem Schoß; Hausfrauen mit geschwollenen Fußgelenken und mit wachem Blick, die täglich die Preise auf dem Markt verglichen und viel mit ihren Freundinnen lachten; Metallarbeiter, die nach der Nachtschicht noch ins Gericht gekommen waren, um sich mal diese Bauern aus dem Land der crucchi anzuschauen, die bei ihren Aktionen gegen »die da oben« beachtliche organisatorische Fähigkeiten bewiesen hatten und vielleicht auch der Arbeiterbewegung noch etwas beibringen konnten.
Neben diesen modernen Wirtschaftswunderitalienern saß nun die Schützenkompanie in ihrer Tracht aus dem vorigen Jahrhundert. Peter trug eine Auerhahnfeder am Hut, eine Weste mit verflochtenen Bändern nach der Art Andreas Hofers, der einst das napoleonische Heer zurückgeschlagen hatte, und an den Füßen Lackschuhe mit silbernen Spangen sowie Kniestrümpfe aus weißer Schurwolle. Vielleicht lag es ja auch an dieser unpassenden Kleidung, dass der Mailänder Prozess ihn persönlich ganz anders beeinflusste als die Mehrheit der Südtiroler. Für ihn reichten die symbolischen Anschläge gegen Hochspannungsmasten, wie sie die »Bumser« dort vorn auf der Anklagebank verübt hatten, nicht mehr aus. Es war Zeit, so glaubte er, zu härteren Maßnahmen zu greifen.
Als Peter aus Mailand heimkehrte, von wo aus er, wie so oft, kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, fand er seine Frau nicht mehr vor: Leni war zu ihren Eltern zurückgegangen. Seit zwei Monaten war sie schwanger mit ihrem zweiten Kind, doch in diesem Haus, das ihr so leer und verlassen vorkam, wollte sie nicht länger bleiben.
Mit jeder Woche, die ins Land ging, schlief Eva ein wenig länger durch und weinte nachts nicht mehr. Tagsüber lag sie in ihrer Kiste und betrachtete mit großen Augen die Dampfwolken, die von den Töpfen aufstiegen, die rote Tomatensoße, die in Kasserollen gegossen wurde, die langen, hüpfenden Beine von Hubert, der mit einer Hand die Schlutzkrapfen abgoss und mit der anderen Salbei in Butter bräunte. Evas Augen, die so blau und länglich wie die ihrer Mutter waren, aber ohne deren stolzen Ausdruck, schienen um Zuneigung zu bitten. Gerda hatten die Blicke der anderen nie etwas über sich selbst verraten; Eva hingegen schienen sie zu sagen, wer sie war.
Die Kollegen gaben ihr ein Stückchen Möhre, Fenchel oder Parmesan in die Hand und beobachteten dann lachend, mit welchem Ernst sie daran leckte und saugte, mit ihren zahnlosen Kiefern daran knabberte, wie sie mit dem Gesichtsausdruck einer akribischen Naturwissenschaftlerin deren Konsistenz ertastete, wie sie die Stirn kräuselte und wie sich ihr Gesicht verzog, wenn ihre Zunge entdeckte, dass der gelbe Halbmond, den sie ihr in die Hand gegeben hatten, ein Zitronenscheibchen war. Wie stolze Eltern suchten die Küchenangestellten einander mit Blicken, um sich gemeinsam an den unwiderstehlich süßen Taten des Säuglings zu erfreuen. In den Monaten, da Eva so friedlich ihre Apfelkiste bewohnte, gab es fast kein Geschrei und keine Beschimpfungen mehr zwischen Kellnern und Köchen.
Gerda hatte ihr Lachen wiedergefunden. Für sie war die Zeit, da sie vor Müdigkeit im Stehen einschlief, vorbei. Ihre vollen Lippen öffneten sich, und dahinter blitzten ihre weißen Zähne auf. Es war dieses Lachen, das den Männern, die sie umgaben, den Köchen und Kellnern oder dem Küchenjungen Elmar, durch und durch ging. Und Herr Neumann musste sich sogar, wenn Gerda lachte, mit der Schürze die Stirn abtupfen, um sein Gesicht zu verbergen.
Gerda hatte sich verändert: Jetzt bemerkte sie die Blicke der Männer. Und sie tat nicht so, als missfielen sie ihr.
Bald war die Obstkiste für Eva zu klein. Elmar half Gerda, eine Art Laufstall zu bauen, indem er verschiedene Kisten zusammennagelte. Den stellten sie unter den Arbeitstisch für die Süßspeisen, gut geschützt vor heißen Fettspritzern und außer Reichweite von Spülmitteln oder Fleischmessern. Manchmal rieselte ihr Mehl oder Zucker auf den Kopf, und alle lachten über das süße Baby mit dem Greisenhaar. Ja, die Letze, die Kleine, war ein braves Schneckile, die alles daransetzte, niemanden zu stören. Sie saß in ihrem Ställchen und schaute sich zaghaft um, als frage sie in die Runde: Ich bin doch nicht im Weg, oder? Nein, das war sie nicht, und niemand versagte ihr das Lächeln, aber es war auch klar, dass sie nicht bis in alle Ewigkeit dortbleiben konnte.
»Was machst du denn, wenn sie zu laufen anfängt?«, fragte Nina eines Abends Gerda in dem Schlafsaal unter dem Dach.
Nach einem Tag in ihrem Stall unter der Süßspeisentheke robbte Eva jetzt, den von Windeln geblähten Popo wie eine Fahne in die Höhe gereckt, sich mit Armen und Beinen abstoßend durch das Zimmer. Irgendwann hatte sie eines der Betten vor der hinteren Wand erreicht. Mit den Händchen klammerte sie sich am Gitter des Kopfendes fest und versuchte, sich aufzurichten und hinzustellen. Als sie es geschafft hatte, ließ sie ein triumphierendes Glucksen vernehmen, während sie den Blick ihrer Mutter suchte, um mit ihr diesen Sieg zu teilen. Sie fand ihn nicht: Gerda hatte den Kopf sinken lassen und starrte zu Boden. Auf Ninas Frage wusste sie keine Antwort.
Alle fürchteten den Tag, da man Eva aus der Küche vertreiben würde, aber niemand wunderte sich, als es dann geschah. Köche, Küchenjungen und Hilfsköche saßen in dem düsteren Raum neben der Speisekammer beim Mittagessen zusammen, das Herr Neumann wie gewohnt für sie zubereitet hatte, während Gerda in der Küche geblieben war, um Eva ein Fläschchen aufzuwärmen. Als sie zur Theke mit den Süßspeisen trat, sah sie, dass ein Brett des Laufstalls sich verschoben hatte. Und Eva war nicht mehr da. Aufgeschreckt begann Gerda, mit dem warmen Fläschchen in der Hand, suchend in der Küche auf und ab zu laufen. Auf der Fleischtheke lagen direkt an der Kante schwere, scharfe Messer, die bloß darauf warteten, wie ein Henkersbeil herunterzufallen. Der Backofen war eingeschaltet, und seine Griffe glühten genau auf der Höhe von Kleinkinderhänden. Und in dem Eimer mit Schmutzwasser neben der Spüle hätte auch ein größeres Kind als Eva ertrinken können. Gerda fand ihre Tochter weder zerteilt noch verbrannt oder ertrunken, doch jedes Mal machte die erste Erleichterung schnell wieder Panik Platz: Ihre Tochter war fort. Sie rannte aus der Küche.
In den mehr als zwei Jahren, die sie bereits in dem Hotel arbeitete, war Gerda nur ein einziges Mal durch die Schwingtür gegangen, die zwischen dem Reich von Herrn Neumann und dem Speisesaal lag. Am Morgen ihres ersten Arbeitstages hatte Frau Mayer ihr, bevor die Gäste zum Frühstück herunterkamen, den Saal gezeigt, die Bogenfenster mit dem Panoramablick auf die Berge, die Tische mit den Blumenarrangements auf den weißen Leinentüchern, die Kronleuchter aus Muranoglas, und ihr dann klar und deutlich gesagt: In diesem Raum habe sie nichts verloren.
Jetzt blieb Gerda auf der Schwelle stehen. Die ersten Gäste nahmen gerade ihre Plätze ein, Paare, Männer ohne Begleitung, ältere Leute. Sachlich galant rückten die Herren den Damen den Stuhl zurecht, die sich niederließen und gnädig den Ausblick genossen, als handele es sich um ihr Eigentum. Der Kontrast zwischen diesen unbeschwerten Gesten und der Angst, die ihr selbst die Brust einschnürte, war so groß, dass Gerda wie betäubt dastand. Nein, von diesen Leuten suchte niemand eine Tochter, deren Vater nichts mit ihr zu tun haben wollte und die nun zu groß geworden war, um stundenlang in einem Ställchen aus Obstkisten auszuharren, sodass sie nicht mehr wusste, wohin mit ihr. Aber die Arbeit in dieser Küche war ja das Einzige auf der Welt, was ihr noch geblieben war, und wenn sie die auch noch verlöre, würde sie auf der Straße landen wie all die anderen verzweifelten Mädchen aus dem Heim, die keinen Herrn Neumann hatten, der sie trotz allem abgeholt hatte.
Da erblickte Gerda ihre Tochter.
Entschlossen krabbelte Eva auf ein bestimmtes Ziel zu, und zwar die Beine eines Mannes in mittleren Jahren, der allein an einem Tisch vor den breiten Panoramafenstern saß. In ihrem rundlichen Gesicht stand ein zufriedenes Lächeln, das der Welt verkündete: Mich entzückend zu finden ist unvermeidlich, denn ich bin es.
Gerda huschte durch den Saal und sammelte mit einer Hand die Tochter vom Boden auf. Enttäuscht ob der Vereitelung ihres Planes, fing Eva an zu schreien und streckte fuchtelnd die Arme zu dem Herrn am Tisch aus. Dieser starrte verblüfft, aber nicht verärgert Gerda mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Er war nicht der Einzige. Alle Männer im Saal blickten sie an. Ihre prallen Brüste, die aus der Schürze drängten, die blonden Haarsträhnen, die keck unter ihrer Hilfsköchinnenmütze hervorschauten, ihre von der Aufregung geröteten Wangen, der Mund, der wie gemacht schien für unsagbare Wonnen, die schlanken Beine, von denen ihr zu kurzer Arbeitskittel nur wenig verdeckte, und dann noch dieses rosige kleine Mädchen auf dem Arm, das sie jünger und gleichzeitig weiblicher wirken ließ: Da konnten selbst die Damen nicht anders als fasziniert hinzuschauen, auch wenn sie bemüht waren, sich auf die Flecken auf Gerdas Schürze zu konzentrieren, auf die Sägespäne, die an ihren Holzklappern klebten, auf den Schweiß, der auf ihrer Oberlippe schimmerte. Doch nichts änderte etwas an der Tatsache, dass diesen Raum gerade eine Frau betreten hatte, die sehr viel schöner war als alle anderen hier.
»… sie haben unser Abkommen gebrochen.«
Wie eine germanische Göttin, durch einen Zauber herbeigerufen, war Frau Mayer neben ihr aufgetaucht. Ihre Stimme klang ruhig, mehr enttäuscht als verärgert. Dem »sie« allerdings, mit dem sie Gerda angesprochen hatte, war der Großbuchstabe abhandengekommen. Damit war alles gesagt.
Zwei Tage. Mehr hatte Herr Neumann nicht für Gerda herausschlagen können. Zwei Tage Zeit, um für Eva eine Unterbringung zu finden. War die Suche bis dahin erfolglos, wäre Frau Mayer gezwungen, ihr zu kündigen.
Der Bus, der Gerda von Bozen in ihren Heimatort brachte, war lange unterwegs, und so hatte Gerda genügend Zeit, sich Gedanken zu machen. Bei wem konnte sie ihre Tochter lassen? Nach der Beerdigung ihrer Mutter hatte ihr die Schwester Annemarie mit Schülerinnenschrift einen Brief geschrieben. Darin machte sie Gerda für Johannas Tod verantwortlich, brachte mit unbarmherzigen Adjektiven zum Ausdruck, was sie über die Schwester dachte, und schloss den Brief mit dem Wunsch, sie nicht mehr wiederzusehen. Der ließ sich leicht erfüllen. Seit Annemarie nach Vorarlberg gezogen war, hatten sich die beiden nur noch zweimal getroffen: auf Peters Hochzeit und bei Ullis Taufe.
Als der Bus aber nach drei Stunden Fahrt schnaubend am Busbahnhof der Kleinstadt hielt, hatte Gerda immer noch keine Ahnung, was sie machen sollte. Verwirrt, ohne klares Ziel, ging sie, mit Eva auf dem Arm, einfach los, und so nahmen ihre Füße wie von selbst jenen Weg, der ihr am vertrautesten war. Nach einer halben Stunde war sie bei einer Häusergruppe im Schatten der mittelalterlichen Burg, einige Kilometer vom Zentrum entfernt, angelangt: in Schanghai.
Das Haus mit dem grauen Kies-Zement-Verputz stand so da wie immer in dieser düsteren, feuchten Ecke. Die Tür war verschlossen. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf. Es war Tag, und durch die dreckigen Fensterscheiben konnte man unmöglich erkennen, ob jemand daheim war. So stand Gerda auf dem Vorplatz, auf den ihr Vater vor – wie ihr vorkam – undenkbar langer Zeit in hohem Bogen ihren Koffer geschleudert hatte. Sie betrachtete den Laternenpfahl, gegen den er geknallt war, und da kam ihr plötzlich eine Idee, wen sie vielleicht fragen könnte.
Sie lief los, sehr schnell, denn zum Glück hatte sie nicht viel dabei, neben Eva nur eine kleine Tragetasche, in der Strampelanzüge und Windeln zum Wechseln waren. Immer schneller lief sie. In nicht einmal einer halben Stunde war sie am Ziel, ein wenig keuchend von der Anstrengung des Anstiegs.
Es war Spätsommer, und die steilen Wiesen, auf denen sich die Hubers über Generationen den Buckel krummgeschuftet hatten, warteten darauf, nun zum zweiten und letzten Mal im Jahr gemäht zu werden. Etwas entfernt sah man die Männer vom Hof mit Sensen bei der Arbeit. Die Kühe waren noch nicht von der Alm zurückgekehrt, und in den Ställen standen nur die Muttertiere mit ihren neugeborenen Kälbern. Die Luft roch nach Heu und Rauch, nach Mist und frisch gebackenem Brot. Auf dem Türsturz waren etwas verwaschen die mit Kreide geschriebenen Buchstaben C, M und B und dazwischen die Zahlen 19 und 64 zu lesen. Auch hier hatten Kinder nach Neujahr als die drei Weisen aus dem Morgenland, Caspar, Melchior und Balthasar, verkleidet den Bewohnern für ein paar Münzen Glück und Gesundheit für das Jahr 1964 gewünscht. Gerda klopfte an. Ihr Onkel Hans, Hermanns älterer Bruder und Alleinerbe des Hofes, war einige Jahre zuvor gestorben. Ihr öffnete nun die junge Frau von Michl, dem ältesten der Cousins, mit denen Gerda als Kind die Sommer auf der Alm verbracht hatte.
Gerda deutete auf Eva. Und erklärte ihre Not.
Die junge Frau, kaum älter als Gerda, blickte sie aufmerksam an. Sowohl ihr Mann Michl als auch der Schwager Simon (der jetzt in der Schweiz lebte) hatten die Cousine nur selten erwähnt, aber wenn, dann mit einem Leuchten in den Augen, das sie, die Ehefrau, in Verlegenheit brachte. Außerdem war Gerda noch nicht einmal auf der Beerdigung der eigenen Mutter gewesen, und schließlich hatte sich herumgesprochen, dass sie schwanger war. Nein, auch ohne sie zu kennen, konnte die junge Ehefrau nicht behaupten, dass ihr diese Gerda sympathisch gewesen wäre.
Während sie noch so dastanden, kam, schweißnass von der Arbeit, der jüngste Bruder ihres Mannes vom Feld zurück, jener Sebastian, Wastl gerufen, mit dem Gerda und die älteren Brüder damals im Heu wie mit einer Puppe gespielt hatten. Er war zu einem gut aussehenden vierzehnjährigen Jungen herangewachsen, groß und stark, mit einer geraden Nase, das dunkelblonde Haar zu einem Igel geschnitten, und fröhlich blickenden Augen. Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte er die Cousine. Und als sie ihm erklärt hatte, worum es ging, sagte er zu ihr: »Du kannst sie hierlassen, die Letze.«
Michls Frau bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
»Das sagt du so. Aber willst du etwa auf das Kind aufpassen?«
Nun traf auch ihr Mann ein. Michls Augen erstrahlten, als er Gerda sah, seine Arme begannen sich zu öffnen, doch dann blickte er kurz, von plötzlicher Scham erfüllt, zu seiner Frau und hielt in der Bewegung inne. Schwer und voller Anspielungen hing die nicht erfolgte Umarmung in der Luft, während der argwöhnische Blick der jungen Ehefrau auf Michl ruhte. Wastl erklärte dem älteren Bruder Gerdas Lage, seine Schwägerin biss sich auf die Lippen, und dann begann die Auseinandersetzung. Gerda beobachtete ihre Münder, folgte aber bald schon nicht mehr ihren Worten – es schien ihr, als unterhielten sie sich in einer fremden Sprache. Sie hatte verstanden. Irgendwann erklärte Michls Frau, sie habe in der Küche zu tun, das Essen stehe auf dem Herd, und verschwand im Haus. Michl fragte Gerda, ob sie nicht hereinkommen wolle, doch sie lehnte ab. So warf er ihr nur noch einen schuldbewussten, traurigen Blick zu und folgte seiner Frau.
Auch Wastl ging ins Haus, kam aber gleich darauf schon wieder zurück mit einem Glas Milch für die Kleine und ein wenig Brot, Speck und Käse für Gerda. Er blieb bei ihnen stehen, während Eva in kleinen Schlückchen die Milch trank, den Blick ihrer himmelblauen Augen auf die Hennen gerichtet, die zwischen Haus und Stall herumscharrten. Gerda bedankte sich und verstaute die Essenssachen in ihrer Tasche. Noch einmal umarmte Wastl die Cousine, die so schön war und so tief in der Patsche saß, streichelte der braven Kleinen kurz über die Wange und kehrte ins Haus zurück, wo das Abendessen auf ihn wartete.
Obwohl der Weg zurück ins Städtchen bergab führte, brauchte Gerda länger als für den Hinweg. Ihre Beine waren schwer, und das nicht vor Erschöpfung. Die Sonne stand tief, bald würde sie hinter den Gipfeln der Berge untergehen, die das Tal umstanden. Als sie die Ortsmitte erreichte, waren die Geschäfte bereits geschlossen, die Straßen menschenleer. Es war die Tageszeit, da die Erde schon dunkel, der Himmel aber noch erhellt ist – wenn die Mütter ihre Kinder, die draußen gespielt haben, hereinrufen und das Essen auf dem Tisch steht und alle, die kein Zuhause haben, die Sehnsucht danach noch stärker spüren als zuvor.
Gerda schlug die Richtung zum Ursulinenkloster ein. Vor dem Tor neben der Freitreppe angekommen, zog sie an dem Draht, der an einer Glocke befestigt war. Kurz darauf erschien eine klein gewachsene alte Nonne. Ohne lange Fragen zu stellen, ließ sie Gerda herein. Wenn in der Dämmerung ein Mädchen ohne Begleitung nur mit einem Säugling auf dem Arm vor der Tür stand, erübrigten sich alle Erklärungen.
Die Nonnen versorgten sie mit einer Tasse Fleischbrühe und machten ihr dann ein Angebot: Sie würden das Kind bei sich aufnehmen, es erziehen und in ihrer Schule unterrichten und später einen Beruf lernen lassen. Sie selbst dürfe ihre Tochter besuchen und auch mal mitnehmen und mit ihr spazieren gehen. Gerda schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie sich nicht klar genug ausgedrückt: Als ihre Tochter zur Welt kam, habe sie Eva nicht zur Adoption freigegeben, und das werde sie auch jetzt nicht tun. Außerhalb der Saison arbeite sie ja nicht, da würde sie sich ein möbliertes Zimmer nehmen, denn diese zwei Monate im Jahr könne, ja wolle sie Eva bei sich haben. Das sei unmöglich, entgegneten ihr die Nonnen. Entweder bleibe das Kind ganz bei ihnen oder überhaupt nicht. Eine andere Lösung gebe es nicht.
Übernachten durfte sie auf einer Pritsche in einem Raum hinter der Küche. Dort lag sie nun, den Blick starr zu der hohen, unverputzten Decke gerichtet. Keine vierundzwanzig Stunden hatte sie mehr, dann musste sie wieder im Hotel sein, und zwar ohne Eva, sonst würde sie ihre Arbeit verlieren. Doch bald wurde die Müdigkeit stärker als ihre Sorgen: Sie kauerte sich auf der Seite zusammen, barg Eva in der Vertiefung zwischen Brust und Armbeuge, verhakte ihre Füße, indem sie den rechten großen Zeh zwischen den linken großen Zeh und den daneben steckte, und schlief ein.
Vor Tagesanbruch schon verließ Gerda das Kloster. Sanft schaukelte das Köpfchen der noch schlummernden Eva in ihren Armen.
Noch im Morgenmantel, den kleinen Sigi im Arm, öffnete Leni die Tür. Ulli stand neben ihr, eine Hand aufs Bein der Mutter gelegt, als wolle er dafür sorgen, dass zumindest dieser Elternteil nicht spurlos verschwinden würde, wie er es von dem Vater gewohnt war. Aus braunen Augen mit endlos langen Wimpern schaute er zu Eva auf und betrachtete sie – aufmerksam, aber nicht abweisend.
Gerda tat Leni leid, weil man sie aus dem Haus gejagt hatte, dessen bedrückender Atmosphäre sie allerdings selbst entflohen war. Und so bezweifelte sie, dass es für die Schwägerin besser wäre, wieder bei diesem Vater mit dem verschlossenen Herzen zu leben. Sie selbst war tief verunsichert und enttäuscht. Seit drei Monaten schon hatte sie ihren Mann nicht mehr gesehen und wusste nicht, wo er war und was er trieb. Zwar erzählte man sich seltsame, erschreckende Dinge über ihn, aber sie glaubte nicht daran, denn sie wusste ja: Die Leute übertrieben immer. Der Vorsitzende von Peters Schützenkompanie war bei ihr gewesen und hatte ihr klarzumachen versucht, dass Opfer für die »Heimat«, so hart sie auch sein mochten, immer ihren Preis wert seien. Leni gefiel nicht, was er ihr da erzählte, wusste aber nicht, was sie erwidern sollte. Bis vor einiger Zeit hatte Peter ihr immer noch, wenn er verschwand, etwas Geld dagelassen. Jetzt nicht mehr.
Einige Monate zuvor hatte ein großes englisches Unternehmen am Rande des Städtchens eine Fabrik für Maschinenbauteile eröffnet, die größte ausländische Industrieanlage, die man je in Südtirol gesehen hatte. Fast fünfhundert Arbeitskräfte wurden gebraucht, eine immense Zahl, gemessen an der Einwohnerzahl des Ortes. Und da es in der Kleinstadt nur wenige Italiener gab, die darüber hinaus größtenteils Beamte waren, würden nun endlich auch die alteingesessenen Südtiroler Arbeit bekommen. Leni teilte die Begeisterung, die das ganze Tal erfasst hatte. Die schlechten Zeiten für ihre Familie würden ein Ende haben, denn jetzt bot sich Peter die Möglichkeit, das zu tun, was er immer wollte: in einer Fabrik arbeiten. Doch als sie ihm den Zettel mit der Firmenanschrift und den Bewerbungsfristen zeigte, warf ihr Mann noch nicht einmal einen Blick darauf. Es war dieser Tag gewesen, an dem er wieder loszog. Und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Jetzt sei sie, erzählte sie Gerda, mit ihren beiden Söhnen wieder ganz von ihren Eltern abhängig, als wäre sie gar keine verheiratete Frau, sondern nur eine ledige Mutter.
Sie brach ab und warf Gerda einen verlegenen Blick zu, die aber nur kurz die Augen zusammenkniff und mit den Achseln zuckte, als wolle sie »schon gut« sagen.
Leni wohnte wieder an ebenjenem Berghang, wenn auch tiefer im Tal, wo sowohl der alte Hof der Familie Huber, den Gerda am Vortag aufgesucht hatte, als auch Paul Staggls Viersternehotel lagen. In nächster Nähe gab es noch einen weiteren Hof, der von Lenis Haus über einen kurzen Schotterweg zu erreichen war. Dort sah man auf der Schwelle unter dem Holzbogen ein Mädchen stehen. Sie stand dort, seit Gerda mit Eva im Arm aufgetaucht war, hatte sich seitdem nicht vom Fleck gerührt und starrte in einem fort herüber.
Keine zwei Stunden mehr, dann würde ihr Bus nach Bozen abfahren. Wollte Gerda, so wie sie es Herrn Neumann versprochen hatte, abends im Hotel zurück sein, durfte sie ihn nicht verpassen. Ruhig, als hätte sie noch alle Zeit der Welt, verabschiedete sich Gerda von Leni und trat auf das Nachbarhaus zu.
Das Mädchen in der Tür trug ein verschossenes, zu langes Kleid, das sie gewiss von einer der größeren Schwestern geerbt hatte; wie helle, dürre Äste ragten ihre nackten Beine aus den schwarzen Gummistiefeln hervor, ihre dünnen Zöpfe waren nachlässig geflochten und rahmten ein spitzes Gesicht mit fast weißen Wimpern ein. Gerda fragte sie, ob jemand im Haus sei. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie seien alle beim Heumachen, nur sie sei dageblieben, um ihrem kleinen Bruder eine Gerstensuppe zu kochen. Ruthi heiße sie, erzählte sie weiter, und sie sei neun Jahre alt. Dann fragte sie, ob sie mal das Baby halten dürfe, und Gerda nickte. Friedlich, mit einem verwunderten Lächeln im Gesicht, glitt Eva von einem Händepaar zum anderen hinüber.
Ei, ei, ei, du, du du, machte Ruthi und verzog dabei sanft das Gesicht, was Eva zu gefallen schien. Dann stellte sie die Kleine auf die Füße und hielt sie wie eine aufmerksame Mutter, also nicht an den Handgelenken, sondern an den Unterarmen. Von Ruthi geführt, lief Eva ein paar Schritte, drehte sich um und blickte das Mädchen stolz an, das ihr mit einem erstaunten Lächeln zeigte, wie sehr sie Evas Leistung bewunderte.
Gerda betrachtete ihre Tochter im sicheren Griff dieser erfahrenen Kinderhände. Sie sah auf zu der Wiese hinter dem Hof, wo in der Ferne, kaum größer als etwas dunklere Punkte auf einer grünen Fläche, die Bauern mit ihren Sensen bei der Arbeit waren. Dann suchte sie Ruthis Blick.
Gerda saß schon im Bus auf dem Rückweg nach Meran, als Ruthis Großeltern, Eltern und größere Geschwister bemerkten, dass sich ihre vielköpfige Familie noch um ein Kleinkind von nicht einmal einem Jahr vergrößert hatte. Aus dem Nachbarhof rief man Leni herbei, und die erklärte ihnen, wer diese blonde junge Frau war, die Eva wie eine Puppe zurückgelassen hatte. Ruthis Vater drohte, seine Tochter den Gürtel spüren zu lassen, aber der Großvater ließ es nicht zu.
Sepp Schwingshackl war noch keine sechzig, aber seine Hände zitterten merklich, er hörte nicht mehr gut, und eine raue, weißliche Narbe teilte seine Augenbrauen, ein Andenken an Hermann Huber, als der ihm dreißig Jahre zuvor die Seele aus dem Leib geprügelt hatte. Allerdings besaß er auch den offenen Blick eines Menschen, der mit sich im Reinen ist, und das sanfte Lächeln eines Alten, der viel gesehen hat und sich mit Kindern auskennt. Eva auf Ruthis Arm blickte sich ängstlich um. Aber selbst jetzt weinte sie nicht, als sei sie sich darüber im Klaren: Wer auch immer diese Fremden waren – ob sie sich um sie kümmern würden, musste sich erst noch herausstellen. Behutsam hob Sepp sie jetzt der Enkelin aus dem Arm und nahm sie auf den Schoß.
»Gott hat sie uns gebracht, und wir werden sie bei uns aufnehmen«, erklärte er.
Nein, das war nicht Gott, sondern die Nutte von Tochter eines bösen Mannes, dachte sein Sohn, behielt es aber für sich.
Nein, das war nicht Gott, sondern eine schöne Frau wie meine Schwester Eloise, aber noch schöner, dachte Ruthi, behielt es aber für sich.
Es war Gott, also meine Mama, aber wo ist sie nur, dachte Eva. Aber da sie noch nicht sprechen konnte, behielt sie es für sich. Hätte sie es gekonnt, würde sie hinzugefügt haben: »Ich werde nicht mehr schlafen, bis sie wieder da ist.«
Müdigkeit und Verwirrung sorgten jedoch dafür, dass ihr langsam die Augen zufielen. Der kleine, flauschige Leib entspannte sich auf Sepps harten Knochen, seinem nach Holz, Seife und Schweiß riechenden Leib. Eva war eingeschlafen.
So begann der Rhythmus, der über Jahre ihr Leben bestimmen sollte: zehn Monate im Jahr bei der Familie Schwingshackl und außerhalb der Saison zwei Monate mit der Mutter in einem möblierten Zimmer.
Währenddessen saß Gerda im Bus und weinte. Sie weinte auf der Fahrt durch das ganze Tal, dessen Hauptort ihr Städtchen war, sie weinte, als der Bus auf die Staatsstraße einbog, und weinte auch noch, als sie in Bozen eintrafen. Dort stieg sie weinend in einen anderen Bus um und lief später weinend vom Busbahnhof bis zu ihrem Hotel in Meran. Als sie den Schlafsaal betrat, den sie mit den anderen weiblichen Angestellten teilte, lief ein Radio. Schlagartig wurde Gerda sich einiger Dinge bewusst.
Sie hatte kein Kind mehr, auf das sie den ganzen Tag aufpassen musste.
Sie hatte keinen guten Ruf mehr, der zu schützen war.
Sie war noch nicht mal zwanzig.
Mit einem Male verspürte sie Lust, zu der Swingmusik die Hüften und Arme zu schwingen und so wie Mina jedem offen ins Gesicht zu schauen, der etwas daran auszusetzen hatte.