Km 850–903

Ich stelle mir zwei Reisende vor. Sie kommen von weit her, vielleicht von einem anderen Erdteil. Wie die Inder im Nebenabteil, die unablässig in ihre Handys reden, oder die amerikanischen Mädchen. Einer dieser beiden Reisenden betrachtet jenes Italien, das rechts am Fenster entlangzieht, der andere richtet seine Augen auf das Italien zu ihrer Linken.

Es sind zwei verschiedene Welten. Rechts des Zuges ragt, wie ein mythischer Walfischkopf, das Kap von Gaeta aus dem Mittelmeer hervor. Oliven- und Zitronenhaine, gelbe, pinkfarbene und rote Felder fallen zum glitzernden Wasser hin ab. Farben, die von Üppigkeit und Fülle, vom guten Leben künden. Links dagegen, in Richtung Landesinnere, ziehen schroffe, grimmig abweisende Bergketten entlang. Obwohl um einiges niedriger, wirken sie ähnlich einschüchternd wie unsere Gletscherriesen. Sogar das Klima ist unterschiedlich. In der Ebene und über dem Meer strahlt das junge Licht des Frühlings; die Gipfel im Hinterland sind dagegen von schweren, dunklen Wolken eingehüllt.

Was für ein sonniges, fruchtbares, lebensfrohes Land, sagt der erste Reisende.

Wie trostlos, karg, menschenfeindlich …, sagt der zweite.

Würden die beiden erzählen, was sie gesehen haben, würde niemand für möglich halten, dass sie denselben Landstrich Italiens durchfahren haben.

Auf der vier-, höchstens fünfstündigen Strecke zwischen dem Brenner und Bologna findet man fast immer einen Bistro- oder Speisewagen. Im Zug von Rom bis ganz hinunter nach Reggio Calabria sollte man das umso eher erwarten. Aber dem ist nicht so.

»Ja, den gab’s früher auch, aber der Service wurde eingestellt«, erklärte mir der Snackverkäufer, der, vom Rattern seines Wagens angekündigt, in der Tür unseres Abteils aufgetaucht ist. Er hat Wasser und Erfrischungsgetränke dabei, Salzgebäck und eingeschweißte Snacks. Den Grund, weshalb es in diesem Zug nichts als Junkfood zu essen gibt, hat man mir bereits in der Schule beigebracht. Er trägt einen pompösen Namen: das sogenannte Süditalienproblem.

Die beiden Amerikanerinnen versorgen sich mit Chips.

»Und für Sie, Signorina, was darf ich Ihnen geben?«

»Die da.« Ich deute auf eine Schachtel Schokoladenplätzchen.

»Zwei Euro zehn. Haben Sie es vielleicht passend, Signora?«

Ich zähle ihm das Kleingeld auf den Cent genau in die Hand.

»Danke, gute Weiterfahrt, Signorina.«

Signorina, Signora, Signorina. Daran bin ich gewöhnt: Die Einschätzung meines Alters durch Fremde schwankt wie eine Seilbahngondel im Sturm. Ich lächele dann nur, als seien beide Anreden zutreffend.

Dieser Snackverkäufer ist ein hübscher Junge, auf fast schon übertriebene Weise südländisch: offenes Lächeln, zusammengewachsene Augenbrauen, schmale Hüften wie ein Tänzer. Die Strategie der Bahngesellschaft Trenitalia ist klar: Wenn man schon die Speisewagen streicht, müssen wenigstens die Snackverkäufer etwas hermachen. Schade, aber die Bewegungen seiner Hände lassen keinen Zweifel zu, dass er homosexuell ist. Was für ein Verlust, denke ich.

Nicht für alle, entgegnet Ulli. Gerade so, als säße er neben mir, in diesem Zug auf dem Weg nach Süden.

Als Kind habe ich mich gefragt, warum Ulli mich nie anfasste. Alle Jungs in unserem Alter taten es, hatten es zumindest schon mal versucht oder hofften den Mut zu finden, es zu tun. Nur er nicht. Nie. Weil wir zusammen aufgewachsen waren? Weil wir verwandt waren? Ach was! Das Betatschen junger Cousinen ist ja ein bewährter Übergangsritus, ein fast schon gesellschaftlich geforderter Entwicklungsschritt. Das war es also nicht. Aber was dann? Ich hatte keine Ahnung.

Ullis Pubertät kam spät und dauerte lang. Als seine Stimme endlich dunkler zu werden begann, starrten mir die anderen Jungen längst häufiger in den Ausschnitt als in die Augen. Während die Gleichaltrigen bereits mit lässiger Ungeniertheit ihre Sehnsucht nach sexuellen Kontakten überspielten, hatte er noch kein einziges Haar am Leib. Dann, eines Tages, da war er schon fast zwanzig, erzählte mir Ulli, dass er mit einer Frau zusammen gewesen sei. Einer altbewährten Tradition folgend, hatte er sich für seine sexuelle Initiation eine Touristin aus Deutschland ausgesucht.

»Hübsch?«, fragte ich.

»Erfahren«, antwortete er, und ich verstand, dass ich nichts zu befürchten hatte.

Er erzählte davon wie von einer erledigten Aufgabe, einem Ziel, das erreicht worden war. Eigentlich nichts Ungewöhnliches: Alle Jungs redeten so über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Doch ein Mädchen zu finden, das alles zuließ und an dem sie sich wenigstens beim ersten Mal unsicher und unbeholfen festklammern konnten, war für sie bloß der Einstieg, um es dann immer und immer wieder zu tun. Ulli hingegen wirkte wie ein Bergsteiger, der den Everest bestiegen hat: Nachdem der Gipfel nun mal erreicht war, gab es kein Verlangen mehr, es noch einmal zu versuchen.

Als er mir von seiner ersten Nacht mit einem Mann erzählte, war das völlig anders. Da waren seine Augen aufgerissen vor Schreck und Begeisterung, von der Ungeheuerlichkeit dieser Entdeckung.

»Das bin ich«, sagte er zu mir, als habe er endlich nach langer Suche seinen eigenen Namen gefunden. Von diesem deutschen Mädchen, der ersten und letzten Frau für ihn, hatte er dagegen gar nicht mehr gesprochen.

Erst viele Jahre später, nachdem er sich hatte anhören müssen (von Männern, niemals von Frauen, auch den verklemmtesten nicht), Hitler hätte mit Leuten wie ihm kurzen Prozess gemacht, nachdem seine Mutter ihm versichert hatte, sie habe ihn natürlich immer noch lieb, er brauche doch nur zu einem Arzt zu gehen, heute könne man doch alles heilen und seine Krankheit bestimmt auch, Jahre nachdem er in London gewesen war und in Berlin, wo er sich, wie er erzählte, wie ein Mann unter vielen gefühlte habe, wie ein ganz normaler Homosexueller, und auch nachdem ich ihm schon viele Male mein Bett zur Verfügung gestellt hatte, damit er und seine Freunde nicht wie läufige Kater durch die Wälder streifen mussten, erst nachdem all das passiert war, erzählte er mir, gestand er mir, dass er, um in das blonde Mädchen eindringen zu können, die Augen hatte schließen und sich vorstellen müssen, dass sie ein Mann sei.

Wie immer in solchen Augenblicken saßen wir zusammen in Marlenes warmem Führerhaus. Es war wenig Schnee gefallen, und Schneekanonen, um auch in den wärmsten Wintern die Pisten mit einem geschlossenen Weiß zu überziehen, gab es noch nicht. Wie jede Nacht kämpfte Ulli gegen die braunen Flecken, die sich wie Melanome auf der Haut des Berges ausbreiteten, indem er den Schnee zusammenschaufelte, neu verteilte, von den Pistenrändern weiter in die Mitte schob. Er hatte mir immer alles erzählt, oder zumindest kam es mir so vor: von den Bahnhofstoiletten, von seinem Wehrdienst in Venetien (»Glaub ja nicht, dass alle Soldaten hinter Frauen her sind, erst recht nicht die Offiziere«), von Begegnungen in Stadtparks, von fast gesichtslosen Körpern, von fast körperlosen Genitalien. Doch dass er sich heimlich einer Fantasie hatte bedienen müssen, um diese einzige Frau in seinem Leben nehmen zu können, dafür schämte er sich so sehr, dass er es mir jahrelang verschwiegen hatte. Weil ich das nicht verstehen konnte, bat ich ihn, es mir zu erklären.

Ulli war damit beschäftigt, die große Schaufel vor Marlenes Schnauze auf und ab zu manövrieren. In seinen Augen glänzte der Widerschein des Schnees, der im Scheinwerferlicht funkelte.

»Du hast ja keine Ahnung, wie vielen Frauen dies Nacht für Nacht passiert. Ich schon, ich kenne ihre Ehemänner.«

Mit dem Hebel neben dem Steuer blockierte er die schneegefüllte Schaufel auf halber Höhe. Dann drehte er sich zu mir um und schaute mich an. Er hatte immer noch diese Rehaugen wie als kleiner Junge; seine Wimpern waren fast zu lang für einen erwachsenen Mann:

»Nein, Eva. Das hat keine Frau verdient.«

Und er streichelte mir übers Gesicht. Ganz kurz, sanft, beschützend.

Frage: Wenn ein Mann, der Männer liebt, auch eine Frau lieben könnte, würde sich diese Frau dann endlich geliebt fühlen?

Eine sinnlose Frage. Ulli ist tot, und die Antwort werde ich niemals erfahren.

Die Ebene hat sich verbreitert. Nun ist mehr Raum zwischen dem Meer und den Bergketten. Die Extreme haben sich ein wenig angenähert; die Erde in der Ebene ist weniger rot, nicht mehr ganz so schamlos fruchtbar; die Berge im Hintergrund wirken weniger schroff und karg. Wir fahren durch einen winzigen Bahnhof, ein blaues Schild huscht draußen am Fenster vorbei, ich lese es rasch, bevor es verschwunden ist: MINTURNO SCAURI.

Dann hält der Zug kreischend vor einer Fabrikhalle, die wie ein Raumschiff aus der Landschaft ragt. Eine Schrift in riesigen Lettern: MANULI FILM. Genau vor meinem Fenster erläutert ein Schild das Geschäftsfeld des Unternehmens und die Einsatzbereiche seiner Folien. Der Zug steht noch, und ich habe Zeit, es zu lesen.

PRODUKTE: Mineralwasser, Erfrischungsgetränke, Kakao, Kaffee, Tees, Kräutertees, Fleisch und Fleischprodukte, Reinigungsmittel, Tabakwaren, Druckerzeugnisse, Frischnudeln, Trockennudeln, Reis, Fertiggerichte, Backwaren, Süßwaren, Fischprodukte, Gemüse- und Obstwaren, Tiefkühlprodukte, Parfümeriewaren, Soßen, Würzmittel, Gewürze, Salz, Softdrinks.

VERPACKUNGEN: Bag in box, Plastikflaschen, Flowpack-Taschen, Tragetüten, Kissentaschen, Aufkleber (als Hülle, Dekoration oder Verschluss), mehrschichtige und koextrudierte Kunststofffolien, einschichtige Kunststofffolien, hitzebeständige Folien, Einwickelfolien, Klebebänder.

Kein Zweifel, die Liste ist vollständig. Schade nur, dass die Lagerhalle der Firma MANULI FILM völlig leer ist, dass sich Unkraut durch den aufgerissenen Zementfußboden gekämpft hat, dass Fenster hier wohl niemals eingebaut wurden. Auf dem ungepflasterten Boden hinter dem Schild liegt ein Hund mit weißlichem Fell.

Als der Zug mit lautem Quietschen wieder anfährt, lässt er sich nicht stören und bleibt ruhig in der Sonne liegen.

Kurz hinter Sessa Aurunca unterbrechen die beiden Chips knabbernden Amerikanerinnen ihre Lektüre und schauen hinaus. Es ist wahrscheinlich keine Absicht, aber genau in diesem Moment fahren wir in einen Tunnel ein, und so bietet sich ihren Blicken eine der großen Sehenswürdigkeiten Italiens, ein Schatz, um den uns die ganze Welt beneidet: der weiße Streifen an der Tunnelwand, der in Zickzacklinie neben uns herrast.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
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