1961–1963
Als beim Oberkommando der italienischen Streitkräfte die Nachricht einging, dass Gerda eine Stelle in einem großen Meraner Hotel antreten würde, beschloss man, unverzüglich ein Kontingent von rund tausend Soldaten nach Südtirol zu entsenden. Das Militär requirierte Gerdas Hotel, ebenso wie die beiden anderen großen Häuser des traditionsreichen Kurortes und quartierte in allen Zimmern Soldaten ein. Als die neue, blutjunge »Matratze« im Hotel eintraf, um dort die Arbeit aufzunehmen, warteten bereits über hundert italienische Gebirgsjäger auf sie. Durch den Dienstboteneingang sahen die Soldaten sie eintreten, diese voll erblühte Sechzehnjährige im Sonntagsdirndl, deren Finger den Griff ihres Koffers so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Da strahlten die Männer und empfanden Dankbarkeit gegenüber ihren Generälen: Nun endlich begriffen sie auch, wieso man sie hierher beordert hatte, ins Land dieser crucchi, die man nicht verstand, es sei denn, sie fluchten.
Nein, so war es nicht.
Der Grund für die Entsendung all dieser Soldaten war leider nicht Gerda. Es ging um Hochspannungsmasten. Dreiundvierzig, die alle gleichzeitig in die Luft flogen in der »Feuernacht«, eine spektakuläre Aktion, perfekt organisiert, gewissenhaft, geduldig. Mit einem Wort: deutsch.
Zu den Anschlägen bekannte sich der im Untergrund operierende Befreiungsausschuss Südtirol (BAS). Ihr Ziel, so erklärten die Mitglieder in einem Flugblatt, sei nicht die administrative Autonomie, wie sie Silvius Magnago, der schlaksige, charismatische Redner in den Ruinen von Sigmundskron, und seine Südtiroler Volkspartei anstrebten. Diesen, wie sie sagten, von Politkarrieristen ausgehandelten Kompromiss lehnten sie ab. Stattdessen erklärten sie, dass allein das »Volk« bestimmen könne, zu wem es gehören wolle: zum italienischen Staat, der seit vierzig Jahren Südtirol wie eine Kolonie besetzt halte, oder zu Österreich, jener Mutter, der man sie durch eine historische Schandtat entrissen habe. Sie verlangten ein Referendum, um in freier Selbstbestimmung über ihr Schicksal zu entscheiden, in der Überzeugung, dass es ein klares Votum für eine Rückkehr zum Mutterland Österreich geben würde. Fünfzehn Jahre waren seit dem Untergang der faschistischen Herrschaft vergangen, fünfzehn Jahre, in denen das christdemokratische Italien gezaudert und das Problem verdrängt hatte, vielleicht in der Hoffnung, es würde sich irgendwann einmal von selbst erledigen. Da hatten die Attentäter zugeschlagen.
Für ihre spektakulärste Aktion wählten sie jene Juninacht, in der die Südtiroler traditionell überall auf den Bergen Feuer entzünden, um an den Mut und den Zusammenhalt zu erinnern, mit dem das Volk einst – angeführt von Andreas Hofer, seitdem ein Nationalheld – den Vormarsch der napoleonischen Truppen aufgehalten hat. Indem sie in dieser besonderen Nacht rund fünfzig Strommasten in die Luft sprengten, sandten die Attentäter eine unmissverständliche Botschaft aus: Die Südtiroler fühlten sich nicht als Italiener, seien keine Italiener und würden auch nie Italiener werden.
Aus den Tageszeitungen erfuhren die Leser in Rom, Mailand, Palermo oder Turin von der Existenz einer Südtiroler Frage, von der bis dahin noch niemand gehört hatte.
Dieser erste Sommer im Hotel war also nicht nur für Gerda eine Feuertaufe. So wie das ganze übrige Südtirol auch, das nun plötzlich Kriegsgebiet war, befand sich Meran in einem Belagerungszustand. Straßensperren, Ausgangssperren, Ringfahndungen. Insgesamt fünfzehntausend Einsatzkräfte – Polizisten, Soldaten, Carabinieri, Angehörige der Finanzpolizei – wurden aufgeboten mit ihren Mannschaftswagen, Motorrädern, auch Hunden. Die wenigsten waren Berufssoldaten, es überwogen junge Wehrpflichtige. Mit großen Seesäcken, Schiffchen auf dem Kopf, das Fernglas um den Hals rückten sie an, Sizilianer mit arabischen Gesichtszügen, Bergamasker mit Segelohren, Toskaner mit etruskisch hellen Augen. Und alle schauten sie auf Gerda.
Und sie schaute zurück. Manche Soldaten kamen ihr gar nicht so anders als die Jungen in der Kleinstadt vor, in der sie aufgewachsen war, als ihre Cousins und Schulkameraden. Die Alpini aus dem Friaul zum Beispiel bewegten sich mit diesem etwas steifen Gang, wie er für Leute typisch sein mochte, die aus Gegenden mit Felsen, Wäldern und Bergen stammen: Ihr Vater Hermann ging genauso und Peter auch. Und manche Mienen, zusammengekniffene Lippen in Gesichtern mit kindlich strahlenden Augen, wirkten ebenfalls vertraut auf sie: Auch hier in den Bergen machten die Menschen, wenn die Emotionen überhandnahmen, den Mund fest zu, während der Blick offen blieb, so, als flehe man darum, vom Schweigen erlöst zu werden. Andere, südländischere Körperhaltungen waren neu für sie. Dieses sanfte, fast feminine Sich-in-den-Hüften-Wiegen, die blitzartigen Bewegungen aus dem Handgelenk, eine Art zu lächeln, die nichts, vor allem sich selbst nicht, ernst nahm, all das gab es nicht bei den Männern, die sie kannte. Sie hatte auch noch nie zuvor gesehen, dass zwei Männer so selbstverständlich, fast körperlich aufeinander eingestimmt, Seite an Seite gingen wie manche paarweise patrouillierenden süditalienischen Soldaten. Und dann erst ihre Komplimente! Bis an die Zähne bewaffnet und sicher nicht ohne Angst, leisteten diese jungen Soldaten ihren Wehrdienst in einem Gebiet ab, wo ein Frontalangriff auf den Staat erwartet wurde. Und dennoch waren sie noch locker oder auch unbedarft genug, um zu einem blonden Mädchen im Dirndl, einer »Deutschen« also, »Sei bellissima!«, du bist wunderschön, zu sagen und sie damit, trotz der Umstände, zum Lächeln zu bringen. Sie hatten Samtaugen und lange Wimpern wie kleine Mädchen, und trotz ihrer Uniformen und Waffen schafften sie es einfach nicht, sich ständig martialisch zu geben.
Aber es gab auch andere. In einem Hotel, nicht weit von dem entfernt, wo Gerda arbeitete, hatte sich ein ganzes Bataillon des neuen Einsatzkommandos (Celere) einquartiert, das Innenminister Scelba aufgebaut hatte. Die Komplimente dieser Soldaten machten Gerda Angst. Es waren Männer, die auf die Einheimischen herabschauten mit einem Blick, der sagte: Wir sind da, um die Dinge wieder gerade zu richten, die seit dem Ende des Faschismus aus dem Ruder gelaufen sind. Für sie waren alle Südtiroler Terroristen, schon allein weil sie deutsch sprachen. Für sie war Alto Adige italienisch, und wer Italien nicht mochte, sollte doch abhauen.
Die meisten Polizisten und Soldaten in Meran aber waren einfach junge Männer, denen mehr daran lag, gut zu essen und mit einem Mädchen zu schlafen, als zu schießen. Eines Tages sah Gerda an einer Straßensperre, wie ein Kameramann den Einsatz der Streitkräfte im Dienste der Nation fürs Fernsehen festhielt. Als der junge Soldat, auf den er das Objektiv gerichtet hatte, merkte, dass er gefilmt wurde, unterbrach er die Kontrolle des Wagens neben ihm, hob die Hand, in der er seine halb automatische MP hielt, zur Kamera und winkte. Diese Geste war für Gerda wie eine Offenbarung.
Obwohl also die Touristen in jenem Jahr aus verständlichen Gründen ausblieben, wurde in den großen Hotels die Arbeit nicht knapp. Zentnerweise Spaghetti, Maccheroni und Polenta wurden den ganzen Sommer über täglich in ihren Küchen gekocht und mit Soße verrührt. Durch die Straßen zog der Duft von angeschwitzten Zwiebeln, säuerlich-süßes Tomatenaroma und auch der beißende Geruch rohen Knoblauchs, den selbst die wagemutigsten unten den braven Südtiroler Hausfrauen bislang immer gemieden hatten. Gerdas Ausbildung in der internationalen Hotelküche (tournedos, coq au vin, pâtes feuilletées) wurde verschoben. Stattdessen lernte sie viel über die Geschmacksrichtungen und Aromen des Südens: Einen Teil der jüngsten Generation italienischer Männer hatte es nach Südtirol verschlagen, und die zeigten großen Appetit.
Keiner von den Soldaten aber, die den Zopf, den sich die einheimischen Mädchen um den Kopf schlangen, »Ersatzrad« nannten, keiner der Offiziere, die in den requirierten Hotels mit den von Geranienkaskaden überladenen Balkonen untergebracht waren, niemand von denen wusste, dass einige Wochen zuvor der Kommandant des vierten Armeekorps, General Aldo Beolchini, die Oberkommandierenden der Streitkräfte vor der Gefahr einer beispiellosen Welle der Gewalt gewarnt hatte. Von zuverlässigen Informanten, hatte er seinen Vorgesetzten berichtet, wisse er, dass Anschläge auf die Infrastruktur der Provinz, insbesondere auf Hochspannungsmasten, geplant seien.
Die militärische Führungsspitze aber schenkte der Warnung dieses Generals keinerlei Gehör. Stattdessen versetzte man ihn unverzüglich. Weit weg von Südtirol, das kurz darauf die »Feuernacht« erlebte.
Die perfekte Planung der Anschläge löste in Rom Panik aus. Die Attentäter, so schrieben die Zeitungen, hätten es sich zum Ziel gesetzt, die Einheit Italiens zu zerschlagen. Daher müsse jedes Mittel recht sein, um sie aufzuhalten. Eiskalt wie Killer gingen diese Leute vor, verbreitete man, verschlagen wie Agenten, gewissenlos wie eingefleischte Verbrecher. Kurzum, die Gefahr sei groß.
Kaum einen Monat später hatte man die Drahtzieher des Anschlags gefasst. Vielleicht war man enttäuscht, als man nun feststellte, was diese Attentäter in Wahrheit für Menschen waren, nämlich einfache Leute, kleine Geschäftsinhaber, Automechaniker, Schmiede, Bauern. Außer sonntags und wenn sie schliefen, trugen die Verschwörer stets ihren blauen Bauernschurz, der das Tiroler Arbeitsethos symbolisierte. Ihre Hände waren schwielig und rau vom Umgang mit Holz, Erde oder Motoröl. Ihre Frauen hatten sie beim Tanz auf dem Kirschta gefreit und rasch geheiratet, sodass sie jetzt vielköpfige Familien besaßen. Viele von ihnen oder auch ihre Väter waren zur Zeit der »Option« als »Dableiber« verfolgt worden, weil sie weder ihren Grund und Boden verlassen noch zu Italienern werden wollten. Der eine oder andere war auch in Dachau gewesen, weil er sich der Rekrutierung durch die SS zu entziehen versuchte. Wenig oder gar nichts im Sinn hatten sie mit dem Kommunismus, der ihnen fremd blieb in ihrer bäuerlichen, katholischen Welt. Denn es waren alles gläubige, manche sogar ausgesprochen fromme Leute, die gelobt hatten, keine Menschenleben in Gefahr zu bringen. Als der Straßenarbeiter Giovanni Postal durch einen Sprengsatz zerrissen wurde, der wegen einer defekten Zündschnur zum falschen Zeitpunkt explodierte, weinten viele von ihnen in ihren Häusern: Der Tod eines Unschuldigen war das Schlimmste, was ihnen persönlich, mehr noch als ihrer Sache, passieren konnte.
Über Jahre schon hatten sie sich regelmäßig getroffen und Pläne geschmiedet, aber nicht im Untergrund oder im Schutz ausländischer Konsulate, wie italienische Journalisten ihnen unterstellten, sondern in den holzverkleideten Stuben ihrer Höfe oder in Wirtshäusern. Und seit Jahren bereits hatten sie Sprengstoffe gehortet, die sie über den Brenner oder die alten Schmugglerpfade herbeischafften und auf Heuböden, unter dem Stallmist oder in ihren Werkstätten versteckt hielten. Zur Einübung nahmen sie sich kleinere, symbolische Objekte vor: Die Reiterstatue des Duce vor dem Wasserwerk von Ponte Gardena zum Beispiel, die auch sechzehn Jahre nach Mussolinis Tod noch nicht gestürzt worden war.
Bei der Planung der »Feuernacht« verabredeten sie, dass jeder von ihnen passende Objekte in der Umgebung, die er am besten kannte, also in der Nähe seines Hauses, aussuchen sollte. Und als sie dann den Sprengstoff an den Masten anbrachten, achteten sie nicht nur darauf, dass, wenn sie kippten, kein Mensch zu Schaden kam, sondern dass auch der Obsthain des Nachbarn nicht beschädigt wurde. Diese Männer wussten, was körperliche Arbeit bedeutete, und deswegen war ihnen solch ein demonstrativer Akt auch keinen zerstörten Weinberg, keinen ruinierten Bauern wert.
Anders als die italienischen Journalisten schrieben, waren die Angehörigen dieser ersten Generation von Bombenlegern weder Mitglieder von Geheimdiensten noch ehemalige Soldaten, die sich jetzt, fünfzehn Jahre nach Kriegsende, noch einmal austoben wollten. Sie waren auch keine verbohrten Antikommunisten oder Anhänger Großdeutschlands, ebenso wenig wie Neonazis oder Waffennarren. Diese Leute gab es auch, aber später, ähnlich wie auf der anderen Seite die italienischen Neofaschisten, die Geheimdienste oder den General De Lorenzo, der seine Carabinieri auf Abwege führte. Da kam es zu Anschlägen auf Kasernen und Grenzstationen mit Toten und Verletzten, zu Opfern, die einkalkuliert und beabsichtigt waren. Doch zu diesem Zeitpunkt waren die Bombenleger der ersten Generation, die »Bumser«, wie sie später fast liebevoll genannt wurden – Leute, die darauf bedacht waren, Obsthaine zu schonen –, bereits tot oder in Haft.
Die Bumser waren bodenständige Leute, die im Grunde an das Gute im Menschen glaubten. Das Vorgehen, auf das sie sich geeinigt hatten, war einfach: Würde einer von ihnen verhaftet, sollte er einfach nur schweigen und keinerlei Namen preisgeben. Es würde also reichen, so dachten sie, im Verhör nicht den Mund aufzumachen, und damit wäre ihre Organisation nicht gefährdet. Das schien nicht schwer.
Aber es hatte sich eben keiner von ihnen vorstellen können, wie diese Verhöre abliefen. Niemand machte sich klar, was Schläge, Schlafentzug und Blendung durch Phosphorlampen bedeuteten, niemand wusste vorher, wie man sich fühlte, wenn einem büschelweise die Haare ausgerissen wurden oder die Fingernägel, wenn Zähne ausgeschlagen, brennende Zigaretten auf der Haut ausgedrückt, Salzwasser durch die Nase gespült, die Genitalien mit Stromschlägen traktiert wurden. Niemand von ihnen hatte vorher von dem sogenannten »Kasten« gehört, einer Foltertechnik, von der französischen OAS in Algerien entwickelt und nun von Italienern fleißig und mit immer besseren Ergebnissen angewandt. Niemand von ihnen hätte sich vorher ausmalen können, dass uniformierte Vertreter eines demokratischen, republikanischen Staates sie so herabwürdigen könnten, zu einem nur noch »halb menschlichen, halb bewussten Zustand, in dem man alles zu tun, alles zu sagen bereit ist, wenn das nur endlich aufhörte, was da mit einem angestellt wird, ein Zustand, in dem man nur noch Objekt ist, aber kein Mensch mehr«, wie einer von ihnen nach seiner Freilassung erklärte.
Einigen Inhaftierten gelang es, mit auf Toilettenpapier gekritzelten Nachrichten die Welt draußen darüber zu informieren, dass sie gefoltert wurden. Innenminister Scelba, der die Spezialeinheiten der Polizei aufgebaut hatte, die Gerda in Meran so sehr einschüchterten, war gezwungen, Stellung zu beziehen.
»Auf der ganzen Welt schlagen Polizisten schon mal zu«, antwortete er.
Die Verschwörer redeten. Alle. Innerhalb nicht einmal eines Monats war das Netz der Feuernachtsattentäter zerschlagen. Zwei von ihnen starben noch während der Haft an Verletzungen durch die Folter. In einem Prozess, der einige Zeit später wegen dieser Misshandlungen stattfand, wurden alle angeklagten Carabinieri freigesprochen.
In einer Schlagzeile, die über die ganze erste Seite ging, hieß es am 23. Juni 1961 in der Tageszeitung ALTO ADIGE:
BOLZANO IST FESTER
BESTANDTEIL DER REPUBLIK ITALIEN, UND ALLE SOLLTEN SICH ENDLICH
DIESER TATSACHE BEWUSST WERDEN.
»Die Bomben vertreiben uns die Touristen.«
Das sagten die Leute in der Kleinstadt, als Gerda zum Ende der Saison wieder heimkehrte.
Unterdessen hatte es Peter geschafft, das Mädchen, das er verehrte, zu heiraten. Leni, so dunkelhaarig und zierlich wie Johanna, aber lebenslustiger als diese, wohnte nun im Haus der Familie Huber und erwartete ein Kind. Auch die Schwester Annemarie hatte einige Jahre zuvor geheiratet und war zu ihrem Mann nach Vorarlberg gezogen. Seit jenem Tag hatten ihre Eltern sie nicht mehr gesehen. Dabei wäre ein Besuch bei ihr nur ein Ausflug gewesen.
»Die Bomben vertreiben uns die Touristen.« Das meinten vor allem die Mitglieder eines neu gegründeten Konsortiums unter dem Vorsitzenden Paul Staggl.
Der ärmste von Hermanns ehemaligen Klassenkameraden, der sich ihm und Sepp Schwingshackl jeden Morgen auf dem Schulweg angeschlossen hatte, war jetzt ein Mann mit rötlichen Haaren, mit hellen, an ein Reptil erinnernden Lidern, rauer Stimme und der breitbeinigen Haltung eines Menschen, dem nur die eigenen Fähigkeiten zum Erfolg verholfen haben. Aus dem steilen, im ewigen Schatten liegenden Grund und Boden, der die Familie über Generationen zu einem Leben in Armut gezwungen hatte, war eine Goldgrube geworden. Ende der zwanziger Jahre schon, während Hermann als Belohnung für sein Mittun bei den Faschisten das Lasterfahren lernen durfte, hatte der junge Staggl auf seinem Land eine primitive Zugvorrichtung mit Seil und Laufrolle installiert. Die abenteuerlustigen Skifahrer, die mit überlangen Skiern und Robbenfellen ausgerüstet zu den Almweiden oberhalb des Städtchens aufstiegen, hielten sich daran fest und wurden, mit einer ordentlichen Zeit- und Kraftersparnis, den Hang noch weiter hinaufgezogen. Anfangs wurde das Zugseil von dem kräftigen Lastpferd seines Vaters in Gang gehalten, doch bald schon verdiente Paul genug, um sich von dem Geld einen Generator leisten zu können.
Als sein Vater starb, damals in den unruhigen dreißiger Jahren, in denen Hermann zunächst Faschist und dann Nationalsozialist wurde, hatte Paul seine Mutter und seine beiden noch unverheirateten Schwestern von der Idee überzeugt, einige Zimmer auf ihrem Hof an eben jene Skifahrer zu vermieten, die seinen primitiven Skilift nutzten. Was konnte es Herrlicheres geben für die deutschen Skitouristen, als in aller Frühe aufzuwachen und gleich die Piste vor der Tür liegen zu haben, und das auch noch auf der schöneren, dem Süden zugewandten Seite der Alpen? Nicht lange, und das Geschäft lief so gut, dass Paul in die Erweiterung des Gebäudes neben dem Stall investieren konnte. Die sensationellste Neuerung aber war die Einrichtung einer echten Toilette, und das nicht auf dem Hof, sondern, ein unerhörter Luxus, im Haus selbst, sodass man in kalten Winternächten nicht mehr ins Freie hinausmusste. Zum Einweihungsfest lud Paul die gesamte Nachbarschaft ein und zeigte sich äußerst großzügig: Nicht nur demonstrierte er seinen Gästen das unbefleckte Wasserklosètt, sondern bestand auch darauf, dass sie es persönlich ausprobierten. Um dafür zu sorgen, dass diese einmalige Gelegenheit auch von allen, Erwachsenen wie Kindern, ausgiebig genutzt wurde, ließ er von der Mutter und den Schwestern Berge von Zwetschgnknödeln zubereiten, die bekanntlich die Verdauung besonders wirksam anregen.
Wieder und wieder wurde die Toilette von den Nachbarn getestet. Keinen Augenblick stand die Spülung still. Und so wurde es ein denkwürdiges Fest, von dem man sich noch Jahre später erzählte.
Zur Zeit der »Option« hatte sich Paul Staggl bedeckt gehalten, hatte es vermieden, gefährliche Positionen zu vertreten, und sich, wie es die Behörden wünschten, für den Umzug entschieden. Aber als gewiefter Geschäftsmann, der er war, bedachte er bereits, dass sich durch den bevorstehenden Krieg alle angekündigten Maßnahmen hinauszögern, wenn nicht sogar zum Stillstand kommen könnten. Auch die Aussiedlungen. Seine Vorhersagen sollten sich bewahrheiten: Die Einzigen, die zum geplanten Zeitpunkt aufbrachen, waren Hungerleider, die nichts zu verlieren hatten, oder eben solche Fanatiker wie Hermann. Schließlich meinte es das Schicksal gut mit Paul: Seine Grundstücke an den Steilhängen blieben von den Bombardierungen durch die Alliierten verschont, während unten im Tal viele Häuser zerstört wurden.
Und so kam es, dass schon wenige Jahre nach Kriegsende anstelle des alten Hofes mit den steilen Wiesen, auf denen sich die Staggls über Generationen den Buckel krummgeschuftet hatten, ein großes Hotel entstand, dessen Zimmer einen weiten Blick auf die Gletscherwelt boten, was bald eine internationale Gästeschar anlockte. Paul hatte drei weitere Lifte auf benachbarten Wiesen errichtet. Auch wer niemals bereit gewesen wäre, Schweiß und Anstrengung des langen Aufstiegs für den kurzen Rausch der Abfahrt in Kauf zu nehmen, konnte nun Ski fahren. Jeden Winter strömten die Touristen in immer größerer Zahl herbei.
Zu Beginn der sechziger Jahre zählte Paul Staggl noch nicht zu den reichsten Männern der Stadt, aber er war entschlossen, dies zu ändern. Für Anschläge und Bomben war in seinen Plänen nun wirklich kein Platz. Zur »Südtirolfrage«, die Peter und die anderen zornigen jungen Leute so leidenschaftlich erregte, weigerte sich Paul Stellung zu beziehen: Italiener, Deutsche oder Österreicher waren für ihn alle gleich, solange sie nur mit ihrem Geld die Kassen der Hoteliers füllten. Geld, das hatte Paul Staggl vor den meisten seiner Landsleute begriffen, stank nicht nur nicht, sondern kannte auch keine Volksgruppen. Geld, denaro, l’argent, the dough, la plata besaß keinerlei »Sprachgruppenzugehörigkeit« und würde sie auch niemals haben.
Paul hatte die Erstgeborene einer wohlhabenden Familie von Textilfabrikanten geheiratet. Seine vier Töchter waren in der Schweiz erzogen worden, fernab von diesem Tal mit seiner kargen, bäuerlichen Lebensweise. Schließlich galt es ihren Sinn für das Unwesentliche zu verfeinern, damit sie später auch Zugang zu den gutbürgerlichen Kreisen erhielten. Die Rechnung ging auf, und mittlerweile verkehrte Paul nur noch in der besten Gesellschaft des Städtchens. Kurz vor dem Krieg war ihm endlich auch ein männlicher Erbe geboren worden, ohne den der rasante Aufbau seines Vermögens aus dem Nichts heraus nur ein flüchtiger Erfolg gewesen wäre.
Zur Zeit der Feuernacht war dieser Sohn, Hannes Staggl, gerade mal zwanzig. Vom Vater hatte er die keltische Hautfarbe, die fast durchscheinenden Augenlider und die grellen fuchsroten Haare. Was ihm allerdings fehlte, war dessen festes, bodenständiges Auftreten, sein freundliches, doch entschlossenes Lächeln, der eiserne Wille, den man hinter seinen verbindlichen Umgangsformen erahnte, kurzum all jene Eigenschaften, die Paul den Aufstieg ermöglicht hatten.
In seinem cremefarbenen 190er Mercedes raste Hannes durch die Straßen der Kleinstadt mit einer Eitelkeit, die auch etwas von Verzweiflung hatte. Hektisch wechselte er die Gänge, verschreckte mit kühnen Richtungswechseln das Mädchen, immer ein anderes, das neben ihm saß, berauschte sich an der Geschwindigkeit. Im Gesicht den peitschenden Fahrtwind, dazu die sinnlichen Klänge der »Negermusik«, die der tragbare Plattenspieler als Untermalung seiner waghalsigen Fahrweise ausspuckte, kam er sich wie in einem Hollywoodfilm vor. Doch die Staatsstraße durchs Tal war nicht die Route 66 und er nicht Rock Hudson. Und er raste auch nicht einem großartigen Schicksal, sondern höchstens Bozen zu. Und vor allen Dingen war nicht er es gewesen, sondern sein Vater, dem der spektakuläre Ausbruch aus dem düstersten aller Kerker, dem der Armut, gelungen war.
Es kam höchst selten vor, dass Paul Staggl seinem früheren Klassenkameraden Hermann Huber begegnete. Wenn sie sich zufällig irgendwo in dem Städtchen über den Weg liefen, hielten sie sich beide an eine stillschweigende Übereinkunft, das heißt, sie wurden von einem jähen Interesse für das Schaufenster eines Geschäftes gepackt, bückten sich plötzlich, um die Schuhriemen zuzuschnüren, verspürten den unaufschiebbaren Drang, einen Knopfverschluss zu prüfen. Niemand hätte die ausgebliebene Begrüßung zwischen den beiden Unhöflichkeit oder Verlegenheit zuschreiben können, noch viel weniger Pauls Dünkel oder Hermanns Neid. Nur einer Reihe zufälliger Umstände wegen, die unbedeutend sein mochten, aber doch objektiv gegeben waren, verfehlten sich ihre Blicke, sodass keiner von beiden die Verantwortung dafür übernehmen musste. Seit Jahrzehnten ging das schon so, und es gab keinen Grund, etwas daran zu ändern. Daher war es auch nicht ungewöhnlich, dass ihre Kinder sich nie kennengelernt hatten.
Eines Tages jedoch, auf der Rückfahrt von einer Spritztour, noch gelangweilter als gewöhnlich von der Bereitwilligkeit, mit der die Mädchen zu ihm in den cremefarbenen Mercedes stiegen, erblickte Hannes Gerda.
Er wusste nicht, dass sie die Tochter eines alten Schulkameraden seines Vaters war. Wusste nicht, dass sie als Kind die Sommer auf der Almhütte und die Winter als Dienstmagd verbracht hatte. Wusste nicht, dass sie seit einem Jahr nur noch die wenigen Monate in ihrem Städtchen wohnte, in denen die Hotels geschlossen waren, also zwischen Allerheiligen und Sankt Nikolaus und dann einige Wochen zwischen Ostern und Pfingsten. Das wusste er alles nicht, als er sie sah, und fragte sich lediglich: Wieso ist die mir nie aufgefallen? Wo hat sie sich versteckt seit ihrer Geburt, diese schöne Blonde mit den länglichen Augen, den Lippen wie Tulpen, dem ausgreifenden, doch weichen Gang, der ganz anders war, als er ihn von den Frauen im Tal kannte, die zwar auch lange, muskulöse Beine hatten, sich aber so kantig wie Männer bewegten. Wo hatte es bisher gesteckt, dieses junge Mädchen mit dem ausgereiften Körper, den vollen Brüsten, selbst den Ohren einer erwachsenen Frau?
In einem engen grünen Mantel, der ein wenig abgetragen und zu kurz wirkte – sie hatte das Stück von ihrer verheirateten Schwester vermacht bekommen, die viel kleiner war als sie –, lief Gerda die Straße entlang. Darunter schauten ihre schlanken Beine hervor, ihre Füße in den flachen, bequemen Schuhen eines hart arbeitenden Mädchens, die schmalen Fesseln, die sich beim Gehen nur ganz leicht und schaukelnd bewegten. Das Begehren stieg mit solcher Macht in Hannes’ Leisten auf, dass er mit voller Kraft aufs Bremspedal trat und der Wagen quietschend stehen blieb.
»He, was ist denn los!?«, rief das dunkelhaarige Mädchen an seiner Seite, das sich den Kopf am Armaturenbrett gestoßen hatte.
Er blickte sie an, plötzlich überrascht, sie neben sich zu sehen auf dem karmesinfarbenen Ledersitz in seinem Sportwagen. Es war ein hübsches Mädchen, und das unter dem Kinn zusammengebundene Kopftuch brachte ihr klares Profil und ihre glatte Haut vorteilhaft zur Geltung. Mit ihren feingliedrigen Fingern rieb sie sich die angestoßene Stirn, während sich ihre jungen Brüste unter der Lederjacke hoben und senkten. Doch es interessierte Hannes nicht mehr. Seit er Gerda die Straße hatte entlanglaufen sehen, interessierte ihn von der anderen nicht einmal mehr der Name.
Wer war das bloß?
Seit einem Jahr war Gerda eine »Matratze«.
»Matratzen« waren Mädchen, die nicht geliebt wurden, die verwaist waren, unehelich, allein. Gerda war weder Waise noch unehelich. Sie war eine »Matratze«, weil ihr Vater Hermann sie hatte ziehen lassen.
Die »Matratzen« standen ganz unten in der Küchenhierarchie, zusammen mit den Küchenjungen, waren aber noch weniger wert, weil jene, selbst betrunken und arm, immerhin noch männlich waren. Sie, die »Matratzen«, waren hingegen Frauen. Und auch wenn sie Hilfsköchinnen oder sogar, was höchst selten vorkam, Köchinnen wurden, blieben sie doch »Matratzen«, denn eine Frau in der Küche war bekanntermaßen nur dann eine anständige Frau, wenn es sich um die Küche ihres Zuhauses handelte. Die Küchen, in denen sich die »Matratzen« abrackerten, waren aber die der großen Hotels, riesige Räume voller Rauch und Dampf, die nichts gemein hatten mit einem heimischen Herd, mit einer gemütlichen, behüteten Atmosphäre, wo die Kinder über ihren Hausaufgaben saßen und die Hausfrau Kleider stopfte, während die Suppe auf dem Herd vor sich hin köchelte. Die Küchen, in denen die »Matratzen« kochten, waren von Lärm und Hitze erfüllte Höhlen, in denen man schrie, fluchte und schwitzte, durchtränkt von beißenden Gerüchen und klebrigen Dämpfen, sodass Abstumpfung die einzige Möglichkeit war, den Aufenthalt durchzustehen.
Alle nannten sie »Matratzen«: die Küchenjungen, die Köche, die Chefköche, die in der Küche das Sagen hatten, und sogar, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand, die Hoteldirektoren. Wie ihr Name schon sage, seien sie nur für eines zu gebrauchen, hieß es – mit dem Unterschied, dass man auf ihren Namensvettern auch noch schlafen könne.
Theoretisch fiel Gerda also in diese Rubrik. Doch niemand hätte es über sich gebracht, ihr vulgäre Ausdrücke an den Kopf zu werfen, nicht einmal der besoffenste Küchenjunge. Sie hatte lange Beine, feste, runde Brüste und vor allem herrliche Augen, die sie niemals niederschlug. Das Begehren, das ihr Anblick auslöste, war zu stark. Die Männer hätten sich bis ins Innerste ertappt gefühlt, wenn sie ihr mit den gleichen derben Anspielungen wie den anderen Mädchen gekommen wären. Auch mit denen würden sie gern schlafen; tatsächlich aber fanden die Köche und vor allem diese armen Teufel von Küchenjungen, denen sogar das Geld für die Nutten an der Provinzstraße fehlte, selten, sehr selten, fast nie Gelegenheit dazu. Aber mit Gerda hätten sie es gern richtig gemacht. Bei ihr wollten sie die Zunge durch die Vertiefung zwischen ihren Brüsten gleiten lassen, mit den Fingern an Körperstellen eindringen, die man sich gar nicht vorstellen durfte, denn sonst lief man Gefahr, sich die Fingerkuppe abzusäbeln, weil die Hand das Fleischmesser nicht mehr richtig halten konnte und das Blut aus dem Kopf in untere Körperregionen strömte. Bei ihr wollten sie – und das hätten sie den anderen Männern in der Küche wirklich niemals gestehen können – das Lächeln sehen, das im Moment größter Lust über ihr Gesicht glitt. Nein, gegenüber Gerda vulgäre Bemerkungen zu machen war unmöglich.
Was dachte Gerda über die Gelüste, die sie weckte, die sie schon als kleines Mädchen bei den Burschen und Männern ihrer Umgebung erzeugt hatte? Schon als sie damals neben Simon und Michl, ihren Cousins, im Heu auf der Alm schlief, waren ihr die kurzen, unterdrückten Atemzüge aufgefallen, die seltsamen rhythmischen Schwankungen der Holzbretter, worauf erstickte, fast vorwurfsvoll klingende Stöhnlaute folgten und dann eine jähe, peinliche Stille. Was da vor sich ging, verstand sie nicht so richtig, spürte aber, dass es mit ihr zu tun hatte. Von klein auf war sie daran gewöhnt, Blicke auf sich zu ziehen, vor allem im Sommer, wenn die leichten Kleider ihre Körperformen nachzeichneten. John Gallagher aus Leeds, United Kingdom, war nur der Anfang gewesen. Sie hatte sie zu erkennen gelernt, diese zugleich hingerissenen und verwirrten, vulgären und anbetenden Blicke, aber sie glitten über ihren Körper hinweg, ohne sich einzukerben. Gerda selbst blieb davon unberührt. Nur den Männern, die ihr Anblick erregte, setzte diese Begierde zu – so wie Ätznatron zwar die Finger der Küchenhilfen angriff, die es verwenden mussten, nicht jedoch die Backformen, die damit gescheuert wurden.
Tatsächlich fühlte sich Gerda schon früh für etwas bestimmt, was noch keine klaren Konturen angenommen hatte, was sie aber, dessen war sie sich sicher, genau erkennen und von diesen Blicken würde unterscheiden können, wenn es eines Tages in ihr Leben trat. Dieses vage Etwas erklang in ihr wie ein tiefes Sehnen, wenn sie bestimmte Lieder hörte, wenn mit der Schneeschmelze der erste Harzduft die noch winterliche Luft durchzog oder in der Mitte ihres Monatszyklus, wenn ihre Brüste fester wurden und sich auch zwischen ihren Beinen die Sehnsucht regte. Es war etwas, was sie wie ein Schild vor allen vulgären Bemerkungen schützte. Und so starrten die Männer sie nur an, hingerissen und erschüttert, wie ein Naturereignis, das sich ihrer Kontrolle entzog, und begehrten sie eben dadurch noch stärker als zuvor. Aber nur von Weitem.
Gerda war also die erste »Matratze« in der Geschichte des Südtiroler Hotelwesens, die von den Männern respektiert wurde. Sie war nicht die letzte und auch nicht die einzige. Von einem bestimmten Moment an, ungefähr zu der Zeit, als Mina vom Bildschirm verschwand, wurden sie auch nicht mehr »Matratzen« genannt. Aber sie war die Erste.
Gerda begann, wie es sich gehörte, auf der untersten Stufe der Hierarchie: als Tellerwäscherin.
Wenn sie morgens gegen halb sieben in die Küche kam, war noch niemand da. Als Anfängerin war es ihre Aufgabe, jeden Morgen den mit Diesel betriebenen Brenner anzuzünden, der die Herdflammen versorgte. Sie erledigte das flink und mit Geschick, schließlich war sie es ja von Kindesbeinen an gewohnt, noch halb verschlafen mit Feuer und Brennmaterialien zu hantieren. Der Brenner brauchte länger als eine Stunde, bis er sich richtig aufgeheizt hatte, und um acht musste alles fertig sein, um den Gästen den Kaffee – von neapolitanischem Espresso wusste man zu jener Zeit in Südtirol noch nichts – mit heißer Milch zu servieren. Während er auf Touren kam, stieß der Brenner dichten, beißenden, klebrigen Rauch aus. Eine schwarze Wolke zog durch die noch leere Küche und dehnte sich immer mehr aus, bis es Gerda irgendwann die Kehle zuschnürte. Jene herrliche Luft, deretwegen die Gäste hier logierten, jener nach Nadelbäumen und Heu duftende Wohlgeruch, schien in dieser Küche Welten entfernt. Wenn der Brenner endlich richtig zog, kam Leben in die Küche, die Köche tauchten auf, die Hilfsköche und die anderen Küchenjungen ebenso, und Gerda begann ihren Arbeitstag an dem marmornen Spülbecken. Spülmaschinen waren noch unbekannt, und alles, von den kolossalen Brätern bis zum kleinsten Teelöffelchen, wurde von Hand gespült.
Manchmal waren die Pfannen und Backformen so verkrustet, dass man länger als eine halbe Stunde daran herumkratzen und -scheuern musste, und wenn der Arbeitstag vorüber war, schmerzten Gerdas Arme und Schultern so sehr, dass sie sich die Schürze nur noch mit lahmen Bewegungen wie eine alte Frau abbinden konnte. Noch schlimmer war die Seife. Die wurde in der Küche selbst hergestellt, indem man auf einer Herdflamme, etwas abseits von den anderen Töpfen, einen Kessel mit Ätznatron und Schweineschmalz zum Kochen brachte. Das Ergebnis war eine Art klebrige Creme, die Gerda dann wie Polenta auf einem großen Brett verteilte. Sobald die Masse kalt und fest geworden war, wurde sie in rechteckige Stücke geschnitten. Diese Natronseife griff die Haut an, und nach einem Monat waren Gerdas Fingerspitzen so wund wie rohes Fleisch. Doch mit Handschuhen galt man als »empfindlich«, ein Schimpfwort, fast schlimmer noch als »Matratze«.
Wurde der Filter des Rauchfangs nicht alle sieben Tage gesäubert, begann das geronnene Fett, in die Speisen zu tropfen. Einmal wöchentlich, am Freitag, kochten die Küchenhilfen ihn in einem Bottich mit Natronlauge aus und scheuerten auch die Kacheln in der gesamten Küche. An diesem Tag fiel für Gerda die »Zimmerstunde« aus, jene Ruhepause im Schlafsaal zwischen der Mittags- und der Abendschicht.
Gerdas letzte Aufgabe des Tages bestand darin, das hölzerne Hackbrett, auf dem sich Fisch- und Fleischreste abgesetzt hatten, zu sterilisieren. Spätabends, wenn die Küche schon geschlossen war, besprenkelte sie das Brett mit Alkohol, hielt ein Streichholz daran und ließ eine Stichflamme auflodern. So begann und endete Gerdas Arbeitstag mit Feuer.
Der Chefkoch, Herr Neumann, war ein beleibter, rotgesichtiger Mann mit ravioligroß geschwollenen Lidern und einem kleinen rosafarbenen Kindermund. Kochlöffel oder Gabeln benutzte er praktisch nie. Für den Geschmack einer Speise komme es zu fünfzig Prozent auf die Konsistenz an, und ein Koch, der seine Zutaten nicht berühre, habe keine Ahnung, was er zubereite. Für alles nahm er die bloßen Hände und tauchte seine überraschend feingliedrigen Finger in die Pfannen und Kasserollen. Noch nicht einmal zum Abschmecken der Soßen griff er zu einem Kochlöffel, sondern steckte kurzerhand einen Finger hinein und leckte ihn ab, geschwind wie ein naschendes Kind, das nicht erwischt werden will. Und er verbrannte sich nie.
Wenn dann die hungrigen Gäste die fast zweihundert Plätze im Saal besetzten, hagelte es in kurzen Abständen eine Bestellung nach der anderen. Mit den raumgreifenden Schritten von Schlittschuhläufern flogen die Kellner heran und lasen laut rufend von den Blöcken ab, was sie sich notiert hatten, bevor sie den Zettel neben der Durchreiche ablegten.
»Gerstensuppe, neu!«
»Filet au poivre, neu!«
»Lammrippen aux herbes, neu!«
»Rollade, neu!«
Mit schwungvollen Armbewegungen sammelten sie die Teller ein, die die Köche in der Durchreiche bereitgestellt hatten, stapelten sich bis zu sechs auf einmal auf die Arme und glitten über den Marmorfußboden in Richtung Speisesaal davon.
Streiten hörte man die Köche nie, zumindest nicht in den Stoßzeiten; zu sehr waren sie damit beschäftigt zu rühren, abzuschmecken, zu garnieren und sich nicht zu verbrennen. Einigen sah man die Hektik an, Hubert zum Beispiel, der sich ruckartig wie ein nervöser Vogel bewegte. Er war für die Vorspeisen und die gekochten Beilagen verantwortlich und tanzte rastlos vor den Herdflammen auf Beinen, die so dürr waren, dass sie jeden Moment wie Spaghetti durchzubrechen drohten. Herr Neumann dagegen erledigte seine Aufgaben genauso flink, aber ruhig. Manchmal überschnitten sich die Laufwege der Köche, und mit weit ausholenden, eleganten Bewegungen verhinderten sie, dass die glühende Pfanne des einen gegen den Rücken des anderen stieß. Es war ein Tanz, wild und fieberhaft, jedoch angetrieben von kühler Konzentration.
Die hin und her rauschenden Kellner und Kellnerlehrlinge allerdings empfanden jedes Warten, jeden Aufenthalt, auch wenn er nur Sekunden dauerte, im Fegefeuer zwischen der verrauchten Küche und dem Saal voller ungeduldiger Gäste als eine Behinderung ihrer Arbeit, an der sie irgendjemandem die Schuld geben mussten. Dass sie die Köche beschimpften und umgekehrt, kam häufig vor.
Schnell und in endloser Zahl, wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe bei Gewitter, erschienen und verschwanden die fertigen Teller auf der Ablage in der Durchreiche. Die Zettel mit den erledigten Bestellungen wurden von Herrn Neumann auf einem langen Stift seitlich der Öffnung in der Wand aufgespießt. Sogar in den hektischsten Momenten gelang es ihm, begleitet von einem angestrengten, aber zufriedenen Grunzen, zwanzig Zettel auf einmal zu lochen. Wehe dem, der es gewagt hätte, ihm diese Aufgabe streitig zu machen: Nur der Chefkoch durfte darüber entscheiden, ob eine Bestellung korrekt erledigt, ausgeliefert und damit abzuhaken war. Einmal geschah es, dass ein junger, gerade eingestellter Ladiner einen Bestellzettel für einen bereits servierten Teller auf der Theke der Durchreiche liegen sah und in dem Glauben, er sei dort vergessen worden, es wagte, ihn auf den Dorn zu spießen. Herr Neumann sagte keinen Ton, packte nur das Handgelenk des Hilfskochs und knallte dessen geöffnete Handfläche auf die Platte. Dann griff er nach dem Zettelspießer und stach mit den kräftigen, raschen und treffsicheren Schlägen, mit denen er sonst Schnitzel klopfte, die Metallspitze je einmal in die vier Zwischenräume zwischen den Fingern. »Und beim nächsten Mal drücke ich dir die Finger zusammen«, sagte er.
Seit diesem Tag wurden die erledigten Bestellzettel von niemandem mehr angerührt.
Die Kellner leerten die zurückgebrachten Teller in einen Mülleimer neben der Tür und ordneten sie in ein Gitter für die Tellerwäscher ein. Gerda wusste immer, wer den Teller, den sie gerade spülte, im Saal abgeräumt hatte. Bei den männlichen Kellnern musste man schon froh sein, wenn sie die größeren Reste, Hühner- oder Kotelettknochen etwa, beseitigten, denn oft genug machten sie sich noch nicht einmal diese Mühe. Sie ließen die Teller, die sie in das Gitter stapelten, voller Essensreste, mit der klaren Botschaft, dass ihre Arbeit, das Bedienen der Gäste, etwas Feineres sei. Das Dreckwegräumen sollten andere besorgen. Die Kellnerinnen kippten dagegen die Abfälle in den Mülleimer, strichen sorgfältig mit dem Besteck noch einmal über die Teller, und wenn sie Zeit hatten, gossen sie sogar die Soßenreste weg, sodass das Geschirr, das Gerda von ihnen bekam, sehr leicht zu spülen war. Bei manchen Tellern hätte es fast schon gereicht, einmal mit dem Lappen drüberzuwischen und ihn zurückzustellen. Etwa bei den Tellern, die Nina zurückbrachte, eine vielleicht dreißigjährige Kellnerin aus Egna. Die ersten Male hatte sich Gerda noch bei ihr bedankt, aber Nina hatte sie einen Moment lang angesehen mit ihren dunklen, ein wenig zu nahe beieinanderstehenden Augen, vier fertige Teller für den Speisesaal auf den Unterarmen balancierend, die geschwollenen Füße in orthopädischen Schuhen. »Lass es«, sagte sie nur. Mit anderen Worten: Solche Floskeln kann man sich hier sparen, durch diese Tür hier gehe ich mehr als hundertmal am Tag; wenn ich mich da für jeden fertigen Teller bei den Köchen bedanken müsste, na, dann gute Nacht.
Gerda bedankte sich nicht mehr. Aber Ninas Teller waren und blieben die saubersten.
Um elf Uhr aß das Personal zu Mittag, während die letzten Grundzubereitungen auf dem Herd standen und noch ein wenig Zeit blieb, bis die ersten Gäste eintrafen. Gerda und ihre Kollegen saßen in einem düsteren Raum im Kellergeschoss unter der Küche gleich neben den Speisekammern, die Kellner auf der einen, das Küchenpersonal auf der anderen Seite. Es war Herr Neumann, der für sie kochte. Dass seine Leute ordentlich aßen, war ihm wichtig, und so ließ er sich immer wieder neue Gerichte aus Resten einfallen. Kalte Bratenstücke verarbeitete er zu Frikadellen mit Soße; aus übrig gebliebenem Kochfleisch, in hauchdünne Scheibchen geschnitten und mit Salzkartoffeln, Zwiebeln und Lorbeer in der Pfanne gewendet, bereitete er köstlich duftende Greastl; er gab geriebenen Käse und Béchamelsoße über kalt gewordene Maccheroni al ragù und schob das Ganze in den Backofen; Restegemüse und eine Handvoll Schnittlauch ließ er mit Reis in Brühe ziehen und zauberte so ein cremiges Risotto. Aber er selbst setzte sich nicht zum Essen zu ihnen: Ein Chefkoch ließ seine Küche nie allein.
Gerda aß hastig, praktisch im Stehen, drei Bissen auf einmal, und lief dann rasch wieder hinauf. Sie hatte keine Freude am Essen, und das nicht nur, weil einem der Appetit vergehen konnte, wenn man ständig von Nahrungsgerüchen umgeben war. Nein, auch später in Rente, als Kochen nicht mehr ihr Beruf war, aß sie ohne Leidenschaft – diesen Zug übernahm Eva von ihr. Doch es hatte einen anderen Grund, dass Gerda so rasch ihren Teller leerte: Sie wollte die freie Zeit nutzen, um Herrn Neumann bei der Arbeit zuzuschauen.
Dem Küchenchef war aufgefallen, wie aufmerksam die Neue die Zubereitung der Gerichte in allen Phasen verfolgte. Erklären ließ sie sich nie etwas, doch wenn sie mal, was selten vorkam, ein wenig Zeit hatte, stand sie da und beobachtete mit ihren länglichen hellblauen Augen, was an den verschiedenen Arbeitstischen vor sich ging. Bei den Salaten und Vorspeisen, den Suppen und Nudelgerichten, den süßen Nachspeisen und sogar, welch unglaubliche Dreistigkeit, am Arbeitstisch für die Fleischgänge, dem Königreich von Herrn Neumann. Irgendwann wollte er wissen, ob dieses wohlgeformte Mädchen, dessen Gang für ein ruhiges Zusammenarbeiten in der Küche eigentlich zu aufreizend war, beim Zusehen nur Zeit vertrödelte, die sie besser auf das Spülen von Tellern und Gläsern verwenden sollte, oder ob sie tatsächlich etwas dabei lernte. Und so kam es, dass Herr Neumann, gegen alle Gepflogenheiten, Gerda schon nach einem Jahr zur Hilfsköchin ernannte. Halblaut grummelte Hubert ein paar unmissverständliche Anspielungen auf die wahren Gründe dieser Beförderung, fand aber nicht den Mut, diese auch vor ihr, geschweige denn dem Chef, zu wiederholen.
Die Arbeit als Hilfsköchin war immer noch sehr hart, vor allem im Sommer, wenn es in der Küche verrauchter als sonst und heißer als im tropischen Regenwald war. Allen lief der Schweiß in Strömen übers Gesicht, nicht nur den Übergewichtigen wie Herrn Neumann, sondern auch so schlanken, hageren Typen wie Hubert. Bei diesem Koch, der für die ersten Gänge und die gekochten Beilagen zuständig war, sah man am unteren Ende seiner langen Arme immer eine Art Metallfortsatz, eine Pfanne oder eine Kasserolle, deren Inhalt er beim Schwenken gerne in die Höhe warf, ohne dass er jemals außerhalb des Pfannenrandes gelandet wäre: Penne in Hirschfleischsoße, in Butter sautierte Kartoffeln, in Öl mit Knoblauch und Petersilie geschmorte Pilze. Über sein Gesicht, das zu früh faltig geworden war, rann der Schweiß, und manchmal tropfte er sogar von seinem Kinn. Oft wusste auch Gerda nicht mehr, ob es sich bei dieser Flüssigkeit, in die sie gebadet war, um eigene Ausdünstungen handelte oder um Küchendampf, der auf ihrer Haut kondensierte. Längs der Schläfen, an den Nasenrändern oder hinter den Ohren grub der Schweiß tiefe Rinnen in die Haut, wie es die Wildbäche im Kalkgestein der Dolomiten taten. Jeden Abend nach dem Duschen cremte Gerda die wunden Stellen an Kopf und Hals mit Nivea ein, doch wenn die Saison vorüber war, waren die Stellen offen wie rohes Fleisch. Um das Brennen des Schweißes auf der wunden Haut zu betäuben, gab es nur ein Mittel: rauchen. Bald hatte Gerda wie die anderen in jeder Pause eine Zigarette zwischen den Fingern.
Knetmaschinen, Schneidegeräte, Mixer gab es noch nicht. Was es gab, waren allein die Arme der Küchenhilfen und Hilfsköche. Bis um Mitternacht war Gerda jetzt damit beschäftigt, die Zutaten vorzubereiten, die die Köche am nächsten Tag weiterverarbeiten würden. Sie schälte und zerteilte verschiedenste Gemüse, die dann in den Schubladen unter dem Arbeitstisch für die gekochten Beilagen aufbewahrt wurden, rollte den Teig für die Tagliatelle aus, bereitete die Biskuitböden für die Torten und den Blätterteig für die Spezialität des Hauses zu, den Apfelstrudel, ohne den Ferien in Südtirol undenkbar waren. Jeden Abend galt es zentnerweise Äpfel zu schälen und zu zerkleinern, mit Zitrone zu beträufeln und unter einem feuchten Tuch bereitzustellen, damit der zuständige Konditor sie in der Küche am nächsten Morgen in den Teig geben und backen konnte. Außerdem hatte Gerda abends die länglichen, hellgrünen und purpurn gestreiften Rhabarberstücke mit Zucker vermischt in den bereits erloschenen, aber noch warmen Ofen zu schieben. Am nächsten Morgen waren sie zu Kompott geworden und konnten – mit Sahne, Gelatine und weiterem Zucker gemixt und in Puddingformen erkaltet – serviert werden.
Außerdem musste Gerda die Eier zubereiten. Das Eiweiß für die Baisers schlug sie in großen Kupferschüsseln zu Eischnee, Eigelb verrührte sie mit Zucker und Milch in Keramikschüsseln für den Kuchenteig. Häufig waren mehr als fünfzig Eier aufzuschlagen, und an manchen Abenden war ihr rechter Arm so lahm geworden, dass sie sich zum Aufbinden der Schürze von Elmar helfen lassen musste.
Alle Küchenjungen in den Restaurants und in den großen Hotels der Gegend waren Trinker. Obwohl er erst sechzehn Jahre alt war, bildete Elmar da keine Ausnahme. Doch ohne diese Hilfskräfte wäre der Betrieb in den Küchen nach ein paar Stunden zum Erliegen gekommen. In der Regel waren sie die jüngsten Söhne der ärmsten Bauern und hatten vor der Wahl gestanden, entweder als Knechte auf einem Hof reicherer Bauern vor Kälte oder in einer großen Hotelküche vor Hitze zu sterben. Elmar war die Entscheidung leichtgefallen: Kälte hatte er bereits genug durchlitten, so wie sein Vater auch und sein Großvater und alle Vorfahren gar zu vieler Generationen. Außerdem war ihm alles lieber als die Einsamkeit der Höfe seines Tals, des Val Martello. Da Herr Neumann nun Gerda zur Hilfsköchin befördert hatte, stand dieser Bursche mit dem extrem langen Gesicht und den zu großen Ohren auf der alleruntersten Stufe der Küchenhierarchie. Er war es, der noch die gusseiserne Platte unter dem Grillrost zu reinigen hatte, wenn die anderen schon schliefen.
Bat Gerda ihn nach Feierabend wieder mal, ihr die Schürze aufzubinden, konnte er seine aufgerissenen und mit Brandblasen übersäten Finger kaum ruhig halten, und später dann, auf seiner metallenen Pritsche, hielt ihn die Erinnerung daran, wie nahe er der Vertiefung oberhalb ihres Hinterteils gewesen war, noch stundenlang wach.
»Die feine Küche wird nicht in der Küche gemacht, sondern auf dem Markt und in der Speisekammer«, pflegte Herr Neumann zu sagen. Die Kunst, Lebensmittel auszuwählen, zu lagern und haltbar zu machen, war die Grundlage für alles Weitere. Unter seiner Anleitung lernte Gerda, immer das Beste zu finden und zu verarbeiten.
Fisch wurde freitagmorgens bei Tagesanbruch in mit Eis gefüllten Holzkisten aus Chioggia an der Lagune von Venedig geliefert: triglie, code di rospo, branzini, vongole, fasolari, wie Herr Neumann die Meerbarben, Anglerfische, Seebarsche oder Muscheln nannte. Auch bei Obst und Gemüse blieb er bei den italienischen Namen, vor allem bei den Salaten: radicchio, lattuga, valeriana, rucola, portaluca, crescione statt Rauke, Kopfsalat, Kresse, Portulak und so weiter. Beim Fleisch hingegen sprach er deutsch, da hieß es: Rinderfilet, Lammrippen, Eisbein. Und auch bei den Kuchen, bei Mohnstrudel und Rollade, bei Linzertorte und Spitzbuben. Diese kulinarische Zweisprachigkeit hatte sich eingespielt, wurde vom gesamten Personal übernommen und von niemandem infrage gestellt. Die einzige Ausnahme von der Regel, fast eine unfreiwillige Hommage an italienische und deutsche Vorurteile, waren Kartoffeln, die, obwohl ein Gemüse oder zumindest ein Knollengewächs, niemand italienisch patate nannte, die dann aber, wenn sie frittiert wurden, die Südtiroler Volksgruppenspannungen überwanden und als Pommes frites internationalen Status erlangten.
Es gab zwei große Kühlkammern, eine für Milchprodukte und die andere fürs Fleisch. Letztere war tatsächlich so groß wie ein Wohnzimmer, allerdings nicht mit Möbeln, sondern mit Stangen und Haken eingerichtet, an denen Rinderviertel hingen, halbe Kälber und ganze Hühner und Truthähne. Draußen vor der massiven Holztür war ein Kleiderhaken angebracht, an dem zwei dicke Mäntel hingen. Als Herr Neumann Gerda zum ersten Mal zur Gefrierkammer mitnahm, griff er sich einen davon und schlüpfte hinein. Sie blickte ihn fragend an.
»Da drinnen ist es kälter als im Januar auf dem Ortler. Warst du da schon mal?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber du willst doch nicht so jung sterben. Also zieh dir den Mantel über, bevor du da so verschwitzt hineingehst.«
Als die Sommersaison beendet war, kehrte Gerda für einige Zeit nach Hause zurück. Niemand stellte ihr Fragen. Weder ihr Vater noch ihre Mutter wollten wissen, worin ihre Arbeit bestand, ob sie genug aß und schlief oder wie sie sich mit dem übrigen Personal verstand.
War Hermann nicht mit seinem Laster unterwegs, um Holz zu liefern, verbrachte er seine Zeit am Stammtisch im Wirtshaus und ließ sich dort auf den Arm nehmen von den Gästen, die der Wein gesprächig gemacht hatte, während er nur noch tiefer in Schweigsamkeit versank. Johanna hatte es nicht nur aufgegeben, mit ihrem Mann zu reden, sondern auch, ihm ins Gesicht zu schauen. Als sie es die letzten Male versucht hatte, waren seine Augen so kalt geworden, als habe sie sich eine unverzeihliche Beleidigung erlaubt, und ihr war klar geworden: Als Beleidigung betrachtete er die Zuneigung, die sie sich trotz allem noch für diesen Mann zu empfinden herausnahm, mit dem sie seit dreißig Jahren das Ehebett teilte.
Leni, Peters Frau, hatte ein Kind zur Welt gebracht. An der verschimmelten Wand des feuchten Hauses in Schanghai hing die hölzerne Zielscheibe, auf die sein Name gemalt war, Ulrich, durchsiebt von den Schüssen, die Peter und seine Schützenbrüder zur Feier der Taufe darauf abgefeuert hatten. Als sei für ihn die Geburt seines ältesten Sohnes etwas Ähnliches wie eine erfolgreiche Jagd gewesen, hatte er die Scheibe unter seinen Trophäen eingereiht: Köpfe von Hirschen mit ihren verzweigten Geweihen, von Steinböcken, die wie nahe Verwandte von Einhörnern aussahen, ein echter Adler, der mit gespreizten Flügeln an die Wand genagelt war.
Hin und wieder verschwand Peter für einige Tage, ohne seiner Frau oder seinen Eltern Bescheid zu geben, und wenn er heimkehrte, verlor er kein Wort darüber, wo er gewesen war. Und dann kam sich Leni mehr noch als sonst, zusammen mit dem kleinen Ulli, wie eine Geisel in diesem düsteren Haus vor. Als sie eines Nachts wieder allein mit dem Kleinen im Arm in dem Ehebett aus Tannenholz schlief, träumte sie von dem schrecklichen Tag, als sie sich als Kind während eines Gewitters im Wald verirrt hatte. Im Traum schlug ein Blitz nur wenige Meter vor ihren Füßen ein und ließ die Erde erbeben. Da fuhr Leni aus dem Schlaf hoch und schlug die Augen auf. Gerade hatte sich Peter, noch in Kleidern, neben sie aufs Bett geworfen. Seine Haare, seine Haut, die Kleider, alles strömte einen schwefligen Geruch wie von einem Blitzeinschlag aus. Wie immer schaffte es Leni auch jetzt nicht, ihn zu fragen, wo er sich herumgetrieben hatte, denn im nächsten Augenblick war ihr Mann schon eingeschlafen. Dafür war Ulli aufgewacht. Da Leni ihn nicht sogleich wieder beruhigen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzustehen. Über eine Stunde wanderte sie mit dem weinenden Kind im Arm auf den Holzdielen der mittlerweile kalten Stube hin und her. Irgendwann zog sie, schon steif vor Kälte, den Mantel über, den ihr Mann, bevor er sich aufs Bett warf, auf dem Stuhl abgelegt hatte. Die freie Hand steckte sie in die Tasche, und als sie ihre Finger wieder hervorzog, waren sie mit einem feinen, leicht fettigen, brotpapierfarbenen Pulver überzogen, das nach Schwefel roch. Leni konnte es so genau nicht wissen, aber es war Donarit.
Sie nahm sich fest vor, mit ihm darüber zu reden, doch nicht einmal eine Stunde nachdem Ulli endlich entkräftet eingeschlafen war und sie mit ihm, ging Peter schon wieder aus dem Haus. Deshalb verriet Leni also Johanna von diesem seltsamen Pulver und dem Schwefelgeruch, den das Haar und die Kleider ihres Mannes verströmten. Die Schwiegermutter hörte ihr zu, sagte aber kein Wort. Sie erzählte Leni nicht, wie sie vor vielen Jahren Spuren roter Lackfarbe am Mantel ihres Sohnes entdeckt hatte, und zwar in jener Nacht, als der steinerne »Wastl« von Unbekannten beschmiert worden war. Sie blickte auch nicht zu Leni auf, sondern blieb vor dem Küchenherd knien und fuhr fort, die emaillierten Klappen und stählernen Griffe mit Wasser und Ammoniak zu schrubben. Als Leni erkannte, dass sie keine Antwort erhalten würde, verließ sie, mit Ulli im Arm, Küche und Hof.
Erst in diesem Moment drehte sich Johanna zu der Stelle auf dem Fußboden um, wo gerade noch die Füße ihrer Schwiegertochter gestanden hatten. Da durchfuhr ein jäher Schmerz ihren linken Arm, dessen Hand kurz zuvor noch die Ofenklappe festgehalten hatte, um sie besser wienern zu können. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und eine Übelkeit überkam sie zusammen mit einem Gefühl drohender Gefahr. Nein, sie durfte sich von dem, was die Schwiegertochter ihr gerade erzählte hatte, nicht so erschrecken lassen. Im Grunde war doch nichts passiert, was nicht wiedergutzumachen wäre.
Tatsächlich aber nahm die Katastrophe bereits ihren Lauf, allerdings im Innern ihres Körpers, im Hin-und-her-Strömen von arteriellem und venösem Blut, das seit ihrer Geburt mit leisem, regelmäßigem Schwappen Organe und Gewebe versorgte. Schon seit einiger Zeit war ihre linke Kranzader, ohne dass sie davon wissen konnte, teilweise verstopft, sodass der ungehinderte Blutfluss zur vorderen Herzscheidewand gestört war. Johanna war sich dessen nicht bewusst, aber wie sie da so auf dem mit Spülwasser besprenkelten Holzboden kniete, erlitt sie einen leichten Herzinfarkt.
Nach den Monaten in der Großküche mit ihrem Lärm, der Hitze und all den Gerüchen kam Gerda, wenn sie wieder daheim war, das Schweigen im Haus ihrer Eltern so verhärtet wie der getrocknete Schlamm nach einer Überschwemmung vor. Jedes nicht unbedingt notwendige Wort, jeder Ausruf, jede Bemerkung, jede Frage, jedes Adverb und Adjektiv wurden darunter begraben. Geblieben waren nur Verben in Imperativform (nimm, bring, geh, wasch, iss) oder Bezeichnungen für bestimmte Dinge: Tello für den Teller, der anzureichen war, um die Suppe hineinzugeben; Foiozoig für die abendliche Pfeife des Vaters; Holz, das neben dem Küchenherd aufgestapelt werden musste. Diese verbliebenen Wörter ragten so aus der Stille hervor wie manche Dinge nach einem Erdrutsch, der ein ganzes Dorf unter sich begraben hat, aus der Schlammschicht hervorschauen, alltägliche Gegenstände jenes Lebens, das gerade fortgerissen wurde: eine Stuhllehne, ein Topf ohne Henkel, ein Schuh.
Als er Gerda zum ersten Mal ansprach, sagte Hannes:
»Wo warschn bis iatz?«
Wo sie bis jetzt gesteckt habe, wie das sein könne, dass er sie bis dahin noch nie irgendwo in den Straßen ihres Städtchens getroffen habe. Sie erzählte ihm, dass sie seit nunmehr einem Jahr die meiste Zeit in Meran verbringe und dort in einer Küche arbeite. Während sie redete, entdeckte Gerda in Hannes’ Augen jenen Ausdruck wehrloser Verblüffung, den auch der Blick ihres Vaters damals gezeigt hatte, als er sie mit Mamme ansprach.
Und als sie es sah, wurde ihr plötzlich klar: Das war es, worauf sie unbewusst seit Jahren gewartet hatte.
Die Seilbahn, die viele Dutzend Skifahrer auf den Berg hinaufbringen und der Kleinstadt und ihren Bewohnern die Pforten des Wohlstands öffnen würde, war mittlerweile vom Konsortium fertiggestellt worden. Der Wald, der den Nordhang des Berges bedeckte, jenen Hang, den Paul Staggls Vorfahren verflucht hatten, weil er so steil war und im Schatten lag, dieser Wald mit seinen Lärchen, Zirbelkiefern und Rottannen war zur Hälfte verschwunden. Nun überzogen den Nordhang die geschwungenen Bänder der Skipisten sowie die fast gerade Linie, welche die Masten der neuen Anlage bildeten. In wenigen Wochen sollte die Einweihung stattfinden. Das Rot der Gondel für dreißig Passagiere würde sich vor dem Blau des Himmels abzeichnen. Und wenn sie an ihrem robusten Stahlseil über die Köpfe der Gästeschar schwebte – der Musikkapelle, der gesamten Bürgerschaft, des Bürgermeisters, vor allem aber über Paul Staggls, des visionären Unternehmers, dem die Realisierung des Projekts zu verdanken war –, dann würden alle begreifen, welch strahlende Zukunft das Tal vor sich hatte.
Vor der Einweihung standen nur noch die letzten Sicherheitsüberprüfungen an sowie eine Erste-Hilfe-Übung für den Fall, dass der Strom einmal ausfallen sollte. Hannes überredete die Arbeiter seines Vaters, ihnen beiden, Gerda und ihm, die Rollen der Testopfer eines vermeintlichen Zwischenfalls zu überlassen: Sie waren also zwei Skitouristen, die wegen eines plötzlichen Abfalls der Stromspannung in der Kabine festsaßen und darauf warteten, dass die Arbeiter sie befreiten.
Als Gerda an der Talstation der Seilbahn eintraf, hatte sie das Gefühl, eine Anlage zu betreten, die eher für Riesen als für Menschen konzipiert war. Die unter der Decke angebrachten gewaltigen Räder transportierten ein faustdickes Stahlseil, an dem die rote Gondel wie ein mit einer riesigen schwarzen Klammer an einer Wäscheleine befestigtes Tuch hing. Als sie den Pfeiler umkurvt hatte und sich ihr mit geöffneter Tür näherte, kam sie Gerda eher wie ein klobiger Autobus als ein zum Schweben geeignetes Gefährt vor, lächerlich und beängstigend zugleich. Hannes bemerkte ihr Zögern. Er hielt ihren Arm und half ihr hinein. Die Türen schlossen sich hinter ihnen, die gewaltigen Räder drehten sich wieder mit einem lauten Rauschen wie aus einem Hochofen, die Gondel zog an, hob vom Boden ab und schwebte davon.
Mit einem Male war es still geworden. Mehr als der wachsende Abstand zwischen dem Erdboden und ihren Füßen, mehr als die Baumkronen, die sie zum ersten Mal von oben sah, mehr als die Gletscher und Gipfel, die sich in der Ferne am Horizont abzeichneten, war es diese Stille, unterbrochen nur von gelegentlichen schwachen Windböen, die Gerdas Herz bis zum Hals pochen ließ. Es war nicht die Stille der Almweiden ihrer Kindheit in den wind- und mondlosen Nächten, wenn sie mit Michl, Simon und dem kleinen Wastl im Heu lag und Gruselgeschichten erzählt wurden. Denn damals war durch die Ritzen zwischen den Brettern der Berghütte der Widerhall eines unendlichen, umhüllenden Raumes zu spüren gewesen, zu dem sowohl sie, die vier Kinder, als auch der Sternenhimmel gehörten, die Rufe der Nachtvögel und das Grummeln der Berge. Es war eine Stille, die vom Klang unzähliger Dinge erfüllt war, die nichts und niemanden ausschloss. Hier hingegen trennten die Glasfenster der Gondel Gerda und Hannes von den Geräuschen der Welt, hielten sie fern: das Rauschen in den höchsten Tannenwipfeln, das Krächzen der Raben, die neben dem Seil herflogen, neugierig gemacht durch dieses eigenartige schwebende Ding, die Stimmen der Menschen in den mittlerweile nur noch winzigen Häusern unter ihnen. Wenn das Seil über die kleinen Rollen der Masten streifte, erzeugte es ein kurzes metallisches Kreischen, das die Stille danach nur noch auffälliger machte, eine Stille, die nur für sie beide gemacht schien. Gerda wandte Hannes den Blick zu. Und er schien auf diesen Moment gewartet zu haben, beugte sich zu ihr vor und küsste sie.
In diesem Augenblick blieb die Gondel plötzlich stehen und begann hin und her zu schaukeln. Doch Gerda erschrak nicht. Dieses Schaukeln über dem Abgrund, das alle in solch einer Kabine festsitzenden Touristen hätte zusammenfahren lassen, das ihnen Entsetzensschreie entlockt, Ohnmachtsanfälle und eine Massenpanik provoziert hätte, war für sie wie ein Zeichen: Es war der Moment, da sie den ersten Kuss ihres Lebens erleben sollte, mit Hannes. Das stand festgeschrieben, das war Schicksal. Das war es, worauf sie immer gewartet hatte. Und jetzt endlich wusste sie es.
Als Gerda einige Wochen später zur Wintersaison ins Hotel zurückkehrte, ließ sie sich von Nina die Karten legen. Sie wollte hören, dass Hannes sie liebte und jeden Augenblick an sie dachte, so wie sie an ihn. Sie wollte, dass die Kollegin von Liebe reden und sie selbst Gelegenheit erhalten würde, seinen Namen laut auszusprechen: Hannes!
Nina hatte ein lang gezogenes Gesicht mit dunklen Augen und einen schönen, aufrichtig wirkenden Mund, in dem ein paar Zähne fehlten. Ohne zu lächeln, schaute sie Gerda an.
»Er ist reich, nicht wahr?« Es klang, als wolle sie sich einen erkannten Defekt bestätigen lassen.
»Isch mir wurst«, antwortete Gerda. Ja, das war ihr wirklich egal, denn aufs Geld kam es doch nicht an, sondern auf die Liebe. Nina schüttelte skeptisch den Kopf. Sie legte sieben Watten-Karten verdeckt auf dem Tisch aus.
»Dreh eine um. Ohne zu überlegen.«
Gerda zauderte nicht und deckte die erste Karte links auf. »Eichel-Sieben.«
Nina betrachtete die Karte mit der betrübten Genugtuung eines Menschen, der das Schlimmste, das gerade eingetreten ist, schon lange vorhergesehen hat. Sie schaute zu Gerda auf und sagte:
»Du bist schwanger. Und dass der dich heiratet, kannst du vergessen.«