1968–1970
Evas Cousin Wastl war zum Militär gegangen. Nachdem er schon Jahre in der Musikkapelle ihres Städtchens Klarinette gespielt hatte, wurde er in den Spielmannszug der Alpini in Rom aufgenommen. Die Hauptstadt gefiel ihm sehr, und viel mehr noch gefielen ihm die Römerinnen. Als er Ende Juni zum ersten Mal auf Urlaub nach Hause kam, war er bester Stimmung. Gleich am nächsten Tag sollte zu Füßen seines Namensvetters aus Granitgestein, des Alpinos auf seinem Sockel, eine abermalige Einweihungszeremonie stattfinden. Das Denkmal war wieder einmal rekonstruiert worden, sollte jetzt wieder wie früher aussehen.
Es waren seltsame Zeiten.
Eine Schar von Schützen hatte sich zusammengefunden, um gegen die Einweihung zu protestieren. Dies war zwar nicht ungewöhnlich, denn die Missfallensbekundungen dieser Männer in ihren Trachten gegen Symbole des italienischen Staates waren längst Routine. Nein, bizarr wirkte eher die Gruppe junger Leute, die sich vor dem steinernen Wastl versammelt hatten, um nicht nur gegen das Denkmal, sondern auch gegen die Schützen zu protestieren.
Es war verwirrend. Nicht zuletzt für Eva und Ulli, die ihren Onkel-Cousin in der Soldatenuniform begleiteten, um die Feier mitzuerleben.
Die Studenten reckten die Fäuste in die Höhe und riefen in zwei Sprachen Parolen gegen den »Nationalismus, gleich von welcher Seite«. Auch das war etwas, was man noch nie erlebt hatte: eine gemeinsame Demonstration junger italienischer und deutscher Südtiroler.
Dieses Wort »Nationalismus« hatte Eva noch nie gehört, und ratlos blickte sie zu Wastl hoch, dem aus Fleisch und Blut, der sie an der Hand hielt. Es tat ihr weh, dass da Leute etwas an dem Denkmal auszusetzen hatten, das man extra für ihn errichtet hatte. Sogar in Rom wollte man den geliebten Onkel-Cousin spielen hören, und ihrer Meinung nach hatte er sich so ein Denkmal mehr als verdient.
Obwohl sie inzwischen auf die sechzig zuging, wies der blonde Zopf, den Frau Mayer als Kranz um den Kopf trug, noch kein einziges graues Haar auf. Jeden Morgen verwandte die Hoteldirektorin fast eine halbe Stunde darauf, ihre Frisur exakt wie die ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter aussehen zu lassen. Auch wenn der Rest der Welt dazu übergegangen war, die Haare flattern zu lassen.
Schon seit einem Jahr rumorte es, und in diesem Herbst 1969 fanden die Streiks in den Bozner Stahlwerken noch größeren Zulauf. Aber nicht nur die Metallarbeiter verschafften sich Gehör. In fast allen Branchen begannen sich die Beschäftigten bewusst zu werden, dass sie gemeinsam stark waren, und gestern noch Unerhörtes schien plötzlich möglich zu sein: dass sich Tellerwäscher, Hilfsköche und Köche eines großen Hotels zusammentaten und für einen gerechten Lohn streikten war keine verrückte Idee mehr, sondern ein Szenario, mit dem man rechnen musste, bedrohlich oder begeisternd, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete.
Das Personal in Gerdas Küche brauchte nur mit einem Streik zu drohen. Es war Ende Dezember und das Hotel voll. Schon nach wenigen Stunden gab Frau Mayer ihren Widerstand auf.
Von nun an entsprach der ausgezahlte Lohn den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden, bei allen, auch beim untersten Küchenjungen. Und die vier zusätzlichen Arbeitsstunden, die vom freien Tag abgingen, wurden nun auch bezahlt. Was Frau Mayer jedoch in den zurückliegenden Jahren an Sozialbeiträgen eingespart hatte, bekam niemand ersetzt. Als Gerda mit sechzig nach fast fünfundvierzig Arbeitsjahren in den Ruhestand ging und Ende des Monats auf dem Postamt ihre Rente abholte, rechnete sie sich immer die Differenz aus zwischen dem ausgezahlten Betrag und dem, was sie bekommen würde, wenn Frau Mayer sich damals nicht jahrelang an ihrem Altersgeld bereichert hätte. Und nachdem sie dann zu Hause den Umschlag mit der bescheidenen Summe auf das Häkeldeckchen beim Fernseher gelegt hatte, holte sie jedes Mal eines der schönen bunten Gläser aus der Anrichte, die Eva ihr einmal Weihnachten geschenkt hatte, schenkte sich ein Gläschen ihres geliebten Limoncellos ein und trank auf diese mutige junge Frau, die sie nie kennengelernt hatte: jene Kellnerin, die es damals in jungen Jahren als Einzige gewagt hatte, sich gegen die Ausbeutung zu wehren, und dafür mit dem Schimpfnamen »Gewerkschafterin« belegt und entlassen worden war.
Mittlerweile war Vito Anania drei Jahre in Alto Adige, die er größtenteils unter extremen Bedingungen patrouillierend und wachend an der Staatsgrenze verbracht hatte. Durch seine Beförderung vom Vicebrigadiere zum Brigadiere hatten ihn die Vorgesetzten nun wieder »ins Warme«, wie man sagte, zurückgeholt und mit der Aufgabe betraut, sich um die Lebensmittelversorgung der Garnisonskaserne unten im Tal zu kümmern. Man glaubte, ihm damit einen Gefallen zu tun. Aber dem war nicht so. Vito stellte bald fest, dass er sich nach der Zeit in der unverfälschten, rauen Natur in einer aufs Elementare konzentrierten Gemeinschaft mit seinen Männern zurücksehnte. Doch er war Carabiniere und daran gewöhnt, die ihm übertragenen Aufgaben nach bestem Können zu erfüllen. Und das tat er auch.
Nach seinem ersten Tag und den ersten Erfahrungen mit den Lieferanten hatte er gedacht: Auf den Höfen oben in den Bergen haben sie einem immerhin »Grüß Gott« gesagt.
Mit einem freundlichen »Buon Giorno« und seinem offenen Lächeln hatte er die Metzgerei betreten, die seit Jahren die Kaserne mit Fleisch belieferte. Doch der Metzger hatte seine ausgestreckte Hand nur angesehen wie einen Haufen Eingeweide und geantwortet:
»Wie viel?«
Und so erging es ihm auch beim Bäcker und bei den Bauern, die die Kaserne mit Milch und Butter versorgten, und selbst der Obsthändler, der ein halber Trentino war, wollte seine Begrüßung nicht erwidern. Nun, an die Abneigung der Einheimischen gegen Italiener und vor allem gegen italienische Soldaten war er ja gewöhnt. Als er sich dann aber die Bücher anschaute, wurde ihm einiges klar.
Über Jahre hatten seine für die Proviantbeschaffung zuständigen Vorgänger in die eigene Tasche gewirtschaftet. Hatten überall anschreiben lassen, ohne jemals die Schulden zu begleichen. Und für die heimischen Kaufleute stand fest: Die Walschen sind nicht ehrlich, sie benutzen ihre Machtposition, um kleine Leute zu betrügen. Metzger, Bäcker, Bauern, sie alle waren auf die Lieferungen für die Kaserne angewiesen. Zweihundert Kilo Fleisch am Tag, dreihundert Kilo Brot: Wer konnte es sich schon leisten, auf solch eine Kundschaft zu verzichten? Was sie aber konnten, das war, nicht zu grüßen.
Und so beschloss er, jedem Einzelnen zu beweisen, dass nicht alle Italiener Betrüger waren. Auch auf diese Weise, so dachte er, konnte man dem Vaterland dienen.
Seit Monaten sparte er nun bei den Bestellungen und hatte auf diese Weise bereits etwas Geld zur Seite legen können, um die Schulden seiner Vorgänger bei den Kaufleuten in der Stadt zurückzuzahlen. Im Frühling, so schätzte er, würde die letzte Schuld endlich beglichen sein.
Und schließlich wurde er gegrüßt, wenn er ihre Läden betrat.
Ein neuer Wind, der Veränderungen brachte, wehte auch innerhalb der mit Stacheldraht gesicherten Kaserne.
Für die in Alto Adige stationierten Carabinieri war das Leben immer hart gewesen, auch wenn sie nicht auf den Bergkämmen längs der Staatsgrenze zu patrouillieren hatten, sondern »im Warmen« Dienst taten. Ein freier Tag in der Woche war eine Chimäre: Es gab ihn, aber niemand bekam ihn zu fassen. Der Kommandant trug ihn zwar in die Kladde mit den Dienstplänen und Ausgangsgenehmigungen ein, aber nur um der Bürokratie Genüge zu tun, denn gearbeitet wurde trotzdem. Wer sich beschwerte, lief Gefahr, dass seine Beurteilungen in der Personalakte plötzlich schlechter ausfielen.
Seit einigen Monaten aber genoss Vito Anania tatsächlich, wie seine Kollegen auch, einen echten Ruhetag in der Woche. Schon allein um etwas Schlaf nachzuholen, kam dem Brigadiere der freie Tag gerade recht, denn seit Jahren schlief er zu wenig. Man gestand den Soldaten außerdem einige andere Rechte und Vergünstigungen zu, wofür sich besonders ein gewisser Giorgio Almirante, der Chef der neofaschistischen MSI, eingesetzt hatte, was viele Carabinieri nicht vergaßen, als sie später in der Wahlkabine standen.
Mit diesen Neuerungen in ihrem Soldatenleben war Vito Anania mehr als einverstanden. Mit anderen aber absolut nicht.
»Ja, du kannst dich drauf verlassen. Ich bring es dir vorbei, sobald ich es fertig habe«, hörte er eines Tages auf dem Weg durch den Gang einen Sergente zu einem Offizier sagen. Er wusste, dass sich die beiden Männer seit Langem kannten, da sie zur gleichen Zeit die Militärschule besucht hatten. Aber einen Vorgesetzten zu duzen war für Vito einfach undenkbar und würde es auch immer bleiben. Doch mehr als Empörung spürte er, als er dieses »Du« hörte, eine tiefe Scham. Er schämte sich für den Offizier, für den Sergente, ja sogar für sich selbst.
Da sie nun weniger zu arbeiten hatten, kam es allerdings auch vor, dass sich der Brigadiere Anania langweilte. Er war eben nicht so ein Typ wie etwa Sottotenente Genovese aus Neapel, der ewig auf der Jagd nach »Fräuleins« und Abenteuern war. Er fand ihn zwar ganz sympathisch, diesen Genovese, hielt es aber für besser, sich ihm nicht allzu oft anzuschließen. Zum 4. November, dem Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs, organisierte Genovese im Hotel Marlinderhof ein Fest, eine »Sottufficial-Party«, wie er es nannte, als handele es sich um ein Filmfest. Er lud zwar auch Offiziere und Kommandanten ein, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie in holder Begleitung erschienen, womit, wie er ausdrücklich klarstellte, eben nicht die Ehefrauen oder Verlobten gemeint waren. Mit anderen Worten, ungebundene Frauen. Und wenn ihr Schwerpunkt weit oben lag, umso besser.
Über hundert Angehörige der Carabinieri mit ihren Begleiterinnen erschienen. Auch Vito war darunter, begleitet von der Tochter des Metzgers, der ihr bis Mitternacht freien Ausgang gegeben hatte. Von einem Mann, der sparte, um die Schulden anderer zu begleichen, glaubte er erwarten zu dürfen, dass er ein Mädchen pünktlich nach Hause brachte. Und in der Tat überschritt seine Tochter um eine Minute vor zwölf die Schwelle ihres Hauses. Vito ging danach schlafen, obwohl das Fest da gerade erst in Fahrt kam. Das war ihm egal. Er hatte beobachtet, wie Genovese die Gäste in seiner Rolle als Zeremonienmeister zum Grappakonsum anhielt, dabei aber selbst keinen Tropfen trank. Er führte etwas im Schilde, da war sich Vito sicher, denn er kannte ihn gut, diesen Genovese, zog es aber vor, nicht dabei zu sein, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzte. Von den Abenteuern des Sottotenente Colonnello mit dem zu langen Haar und der bedenklich nachlässig zugeknöpften Uniformjacke ließ man sich gern erzählen, aber daran teilnehmen, nein, das war nichts für ihn.
Vito war also nicht dabei, als Genovese, nachdem er sich überzeugt hatte, dass die von den Offizieren konsumierte Alkoholmenge ausreichen würde, um eine Leprastation zu desinfizieren, nun nicht mehr mit einer Schnapsflasche in der Hand zwischen den Gästen herumspazierte und auch nicht am Arm eines schönen Mädchens, sondern mit einem Fotoapparat mit eingebautem Blitzlichtgerät in der Hand.
»Komm, gib dem Hauptmann einen Kuss«, forderte er die holde Begleitung eines Offiziers auf. Das Mädchen beugte sich zum schweißnassen Gesicht ihres Kavaliers vor und berührte es mit dem Mund, woraufhin Genovese den Auslöser betätigte wie den Abzug eines Gewehrs. Klick.
»Gib dem Major einen Kuss …, gib dem Oberleutnant einen Kuss …, gib dem Oberst einen Kuss …«
Die jungen Damen legten die knallroten Lippen auf die Stirn oder die Wangen der Offiziere, und »klick« machte es, »klick«, Genovese drückte ab.
Am Morgen darauf ließ er Abzüge machen.
Seine Vorgesetzten bekamen diese Fotos nie zu Gesicht. Das war nicht mehr nötig. Es reichte die Bekanntmachung, dass es solche Fotos gab. Fortan führte Genovese ein angenehmes Leben in der Kaserne.
Auf einem der Fotos war auch Gerda zu sehen, aufgenommen in Begleitung eines vielleicht vierzigjährigen Obersten, der ihr gerade einen Kuss aufs Ohrläppchen gab. Sie ließ es geschehen, und ihre hohen Wangenknochen reflektierten das Licht wie poliertes Holz. Vielleicht würde sich Vito, wenn er das Bild gesehen hätte, bereits damals in sie verliebt haben. Aber er sah es nicht, weder er noch sonst jemand, auch nicht die Ehefrau. Tatsächlich hatte Genovese auch keinen Grund, es ihr zukommen zu lassen, denn von diesem Vorgesetzten wurde er künftig stets mit besonderem Feingefühl behandelt.
Als Herr Neumann wegen verschiedener gesundheitlicher Probleme in Frührente ging, war er ganz beruhigt: Eine würdige Nachfolgerin stand bereit.
Gerda rauchte stärker als ein defekter Dieselherd und arbeitete mit mehr Energie als jeder Mann. Die Küchenjungen würden alles für sie tun, die Hilfsköche nicht ganz so uneingeschränkt: Sie waren es nicht gewohnt, sich von einer fünfundzwanzigjährigen jungen Frau, einer »Exmatratze«, etwas sagen zu lassen. Aber das war eben das Schöne an diesen seltsamen Zeiten: Sie waren voller Überraschungen. Nach den zwölf Stunden täglich in der Küche ging Gerda abends noch tanzen.
In ihren Briefen an ihre Tochter erzählte sie von »schmucken jungen Männern«, die sie zum Tanz ausführten. Eva hatte von Ulli lesen und schreiben gelernt, und weil sie so aufgeweckt war, wurde sie schon mit fünf eingeschult. Wenn sie dann abends in ihrem Bett lag, das sie mit Ruthi teilte, stellte sie sich das Nachtleben ihrer Mutter vor. So, als säße sie im dunklen Pfarrsaal, lief vor ihrem geistigen Auge im Zeitraffer der Film ab mit all dem, was ihre Mutter in ihrer Fantasie mit ihren männlichen Begleitern so alles trieb: kiloweise Eis verdrücken, tagelang Karussell fahren, ohne dafür bezahlen zu müssen, sich mit Torten bewerfen.
Teixel, ist das wenig!
Das war sein zweiter Gedanke: Ja, das war wirklich verflucht wenig.
Silvius Magnago hielt sich nun schon seit siebzehn Stunden im Meraner Kursaal auf: Am Vortag um Punkt zehn Uhr war die außerordentliche Vollversammlung der Südtiroler Volkspartei zusammengetreten. Anerkennung für die Delegierten: Klaglos hatten sie die Holzstühle aus der Reformationszeit ertragen, und jetzt, mitten in der Nacht, waren sie sogar noch zahlreicher erschienen als am Nachmittag. Da saßen sie vor ihm, die Befürworter und die Gegner des Pakets, die »Paketler« und »Antipaketler«, wie sie genannt wurden, und schauten ihn an. Wie lange arbeitete er schon an diesem Entwurf? Schon immer, so kam es Magnago vor. Nur die Kriegserinnerungen hinderten ihn daran, zu glauben, dass er sein ganzes Leben über nichts anderes getan hatte. Eben dies war auch sein letztes, stärkstes Argument gewesen bei seinem Appell an die Delegierten und der Erklärung, wie er abstimmen würde.
»Zwanzig Jahre habe ich an diesem Paket gefeilt. Glauben Sie wirklich, meine Damen und Herren Delegierten, ich würde Sie auffordern, für das Abkommen zu stimmen, wenn ich jetzt nicht der festen Überzeugung wäre, dass wir mehr nicht erreichen können?«
Und wieder einmal hatte er dargelegt, was für eine Katastrophe es wäre, wenn die Delegierten dem Paket – all den Maßnahmen, mit denen der italienische Staat der Provinz Bozen eine weitgehende Autonomie garantierte – die Zustimmung verweigerten. Er selbst würde als Parteiobmann sofort zurücktreten, aber das wäre nicht die gravierendste Konsequenz. Diejenigen jedoch, die ihn jetzt als »gekauft«, »Tolomei« und »Totengräber der Heimat« beschimpften, würden die Verhandlungen mit den Italienern auch wieder aufnehmen, allerdings ganz von vorn, von null anfangen müssen. Und er würde mit bitterer Befriedigung verfolgen, wie sie sich die Köpfe an der Tatsache einrannten, dass es ohne Kompromiss keine Lösung geben konnte. Früher oder später würden sie das erkennen, sie waren ja nicht dumm und handelten in guter Absicht. Doch in der Zwischenzeit verlöre man Jahre, Jahrzehnte. Wer könne schon sagen, wann es wieder einmal in der italienischen Politik, in der die Regierungen wie Kegel aufgestellt wurden und gleich wieder fielen, einen Mann gäbe, der bereit wäre, die Verantwortung für ein verbindliches Abkommen mit den Südtirolern zu übernehmen? Einen Verhandlungs- und Gesprächspartner wie Aldo Moro, der in den Artikel vierzehn die Feststellung geschmuggelt habe, dass der Schutz von Minderheiten im nationalen Interesse liege, natürlich ohne viel Aufhebens davon zu machen, wie er ihm unter vier Augen gestand, denn sonst hätten ihn seine eigenen Leute darüber stolpern lassen?
Dies war der Tag der Entscheidung, oder besser die Nacht, denn schließlich ging es schon auf drei Uhr in der Frühe zu. Wenn die Südtiroler Volkspartei heute dem Paket zustimmte, wollte es die italienische Regierung im Parlament beraten lassen, wo es mit Sicherheit angenommen würde. Und dann könnten die Außenminister Italiens und Österreichs ihre Unterschriften daruntersetzen und damit die Befriedung ihrer Heimat Südtirol Wirklichkeit werden lassen.
Würde jedoch die Vollversammlung seiner Partei das Paket ablehnen …
»Vogel, friss oder stirb!« Klarer hatte es Magnago vor den Parteimitgliedern nicht ausdrücken können.
Jetzt fühlte er sich erschöpft. Dabei war er sehr viel widerstandsfähiger, als seine ausgezehrte Erscheinung vermuten ließ, denn sonst wäre er schon längst zusammengebrochen. Die Mageren waren zäh, sagte man, und Magnago schien das zu bestätigen. Je mehr Stunden verstrichen, je länger die Debatte andauerte, desto kämpferischer wurde er. Er wusste, dass seine Leute sehr unentschlossen waren. Seit fünfzig Jahren wurden sie von den Italienern »über den Tisch gezogen«, wie es hieß, und groß war die Furcht bei den Delegierten, jetzt vielleicht das Falsche für die Heimat zu tun. Nein, jeder Einzelne musste überzeugt, jede einzelne Stimme erkämpft werden.
Doch er hatte keine Kraft mehr. Daher pochte er auf eine Entscheidung: Es ist halb drei, lasst uns abstimmen.
Die Entschlossenen hatten bereits am Nachmittag ihren Stimmzettel in die Urne gesteckt. Aber die vielen Zweifelnden, die alle Redner hören wollten, um sich zu einer Meinung durchzuringen, hielten ihren noch in der Hand. Delegierte aus Schnals, Unteretsch, Gries und Pfitschtal. Aus Sexten, Bruneck, Wolkenstein, Latsch, Kasern und Burgum. Leute, die um diese Zeit daheim auf ihrem Hof auch immer wach waren, weil sie die Kühe im Stall melken mussten. Von ihnen hing es jetzt ab, wie die Abstimmung ausging. Fresst, Vögel, fresst!
Einer nach dem anderen steckten sie die gefalteten Zettel in die Wahlurne.
Sie wurden entnommen und ausgezählt.
In ein Register eingetragen.
Und der Parteitagspräsident las das Resultat vor.
»Abgegebene Stimmen: 1104.
Für die Annahme der Resolution von Doktor Magnago: 583 Stimmen.
Gegen die Annahme der Resolution von Doktor Magnago: 492 Stimmen.
Ungültige Stimmen oder Enthaltungen: 29.
Damit ist die Resolution von Doktor Magnago mit 52,8 Prozent der Stimmen angenommen.«
52,8 Prozent.
Teixel, ist das wenig! Das war sein zweiter Gedanke.
Doch sein erster war: Du hast es geschafft. Es war wirklich geschafft.
Auch Paul Staggl hätte gerne ein Mannequin im Bikini gehabt. Das heißt: Er hätte gerne ein Foto von einem Mannequin im Bikini gehabt. Oder genauer: Er hätte zwar auch gerne ein Mannequin im Bikini gehabt, aber vor allem das Foto. Oder umgekehrt.
Ja, das Konsortium, dem er vorstand, hätte doch auch ein Skiweltcup-Rennen veranstalten können. So wie Val Gardena. Dieses Werbefoto im Time Magazine hatte die anderen Konsortiumsmitglieder mächtig erzürnt. Ihn selbst nicht. Paul Staggl war in ärmlichsten Verhältnissen auf einem Hof ohne Sonnenlicht geboren: Hätte er Zeit und Energien damit vergeudet, andere um etwas zu beneiden, wäre er nicht dorthin gelangt, wo er jetzt war. Seine Gedanken kreisten wie das Rad in der Talstation einer Seilbahn, gut geölt, unaufhörlich, mit dem einzigen Ziel, ihn nach oben zu bringen.
So hatte er sich also das Foto dieses hübschen Mädchens, das nur in Unterwäsche, BH, Wollstrümpfen und Skischuhen, einen Ski am Boden, den anderen senkrecht vor sich in den Schnee gesteckt, vor dem Hintergrund der verschneiten Dolomiten posiert hatte, sehr genau angesehen. Und das nicht nur, weil man sich gewisse Formen einfach gern ansah, sondern auch weil ihm beim Betrachten eine Reihe von Gedanken durch den Kopf schwirrten. Der erste und nächstliegende war, dass sein Heimatstädtchen nicht in den Dolomiten lag. In den dreißiger Jahren waren Postkarten gestaltet worden, die seine mittelalterliche Burg vor den rosa schimmernden Gipfeln der »Bleichen Berge« zeigten, wie die Dolomiten früher genannt wurden. Eine glatte Fälschung, wie sie in der Steinzeit des Tourismus noch möglich war, inzwischen aber nicht mehr. Heutzutage hatten die Touristen Fernsehen, sie waren informiert, man konnte sie nicht mehr so leicht an der Nase herumführen.
Auch vom Gipfel des Hausberges, an dessen Hängen seit mittlerweile sieben Jahren die Masten der von seinem Konsortium gebauten Seilbahn aufragten, genoss man einen großartigen Panoramablick, doch die Dolomiten lagen nun einmal ein ganzes Stück entfernt. Alle Welt war vernarrt in dieses korallenfarbene Gebirge, und die Hotelbesitzer der ladinischen Täler brauchten allein schon dieser Lage wegen keine großen Mittel in Fremdenverkehrswerbung zu investieren. Sie selbst schon. Nein, ohne Dolomiten mussten sie eben auf andere Weise die Scharen englischer, holländischer oder schwedischer Skifahrer anlocken, die nun zu umwerben waren, nachdem man mit den Italienern und Deutschen, selbst mit den Amerikanern mittlerweile jedes Jahr sicher rechnen konnte. Und er hatte da schon eine genaue Vorstellung. Er musste ›seinen‹ Berg zu einem großflächigen und besonders vielfältigen Skigebiet ausweiten, das für jeden Geschmack etwas zu bieten hatte. Lange betrachtete Paul Staggl den nackten Bauch des Mädchens und ihre anregenden Rundungen.
Und das war seine Vision: ein Netz von Seilbahnen, Skiliften und Pisten, das sich sternförmig in alle Richtungen verzweigte und so sehr ausdehnte, dass echte Skifreunde tagelang unterwegs sein konnten, ohne zweimal dieselbe Piste zu fahren. Die Technologie der Anlagen würde auf dem allerneuesten Stand sein, die Instandhaltung der Pisten ihrer Zeit voraus, das Investitionsvolumen gesichert und eines großen Unternehmens würdig. All das würde dafür sorgen, dass sein »Baby« immer state of the art war, wie seine Kollegen aus Colorado es nannten.
Paul Staggl hatte sein ganzes Leben lang im großen Stil gedacht und geplant. Und damit würde er auch jetzt nicht aufhören, nur weil er die sechzig schon überschritten hatte. Der Wintersport brachte Reichtum. Ihm, seiner Familie, seinem Tal, Südtirol, ja den gesamten Alpen. Für ihn gab es keinen Zweifel: Die Zukunft strahlte wie eine verschneite Piste in der ersten Morgensonne. Und nun hatte sogar Hannes, auf der Schwelle zum dreißigsten Lebensjahr, endlich zu heiraten beschlossen und würde ihm vielleicht bald Enkelkinder schenken. Gewiss, auch an den Kindern der Töchter hatte man seine Freude, aber wenn der einzige Sohn Vater wurde, war das doch etwas ganz Besonderes.
Der Wintersport brachte Reichtum.
Paul Staggl war nicht mehr der Einzige, der das begriffen hatte. Wie Gerda kauften auch viele Bauern in jenem Jahr ihren Kindern zum ersten Mal neue Schuhe. Dafür mussten diese allerdings im Winter und im Hochsommer im Keller oder in der Kammer unter der Treppe schlafen. Denn ihre Zimmer waren Gold wert: In den wenigen Wochen der Hochsaison an Touristen vermietet, brachten sie mehr ein als Kühe, die ein ganzes Jahr lang gemolken wurden. Die Zeit der Bomben und Attentate war vorüber, und immer mehr Gäste waren Italiener.
Deren Verhältnis zu den Einheimischen gestaltete sich nicht immer ganz einfach. Häufig deuteten sie schon das Ausbleiben von Katzbuckeleien vonseiten mancher Vermieter, die ihnen mit der etwas raueren Freundlichkeit von Bauern begegneten, als Feindseligkeit. Kam eine Antwort auf Italienisch nur zögerlich oder war eine Speisekarte nur deutsch geschrieben, beklagten sich die italienischen Touristen.
»Wir sind hier aber in Italien!«
Umgekehrt zeigte manch ein Busfahrer auch seine ganze Empörung über die ungerechte Abtretung Südtirols nach dem Ersten Weltkrieg, indem er auf ein verbindliches Buon giorno nur mit einem ruppigen Knurren antwortete.
Allerdings irrten die Italiener, wenn sie glaubten, sie würden von manchen Südtirolern grantig behandelt: Tatsächlich verspottete man hier auch die Bayern als Saufbrüder, die Wiener als Schnösel und die Preußen als Angeber. Doch egal wie, Fakt blieb, und nur darauf kam es an: Die Touristen brachten das Geld, und Geld scherte sich nicht um Sprachen, um Grenzen, um die Historie.
Und offenbar auch nicht um Kleiderordnungen. Viele italienische Gäste hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, in Südtirol die typische Landestracht zu tragen und auch den Nachwuchs damit auszustatten. Scharen von Müttern und Töchtern aus Rom, Vercelli oder Florenz zeigten sich nun mit Dirndl und geblümter Schürze darüber und wirkten damit so uniform wie noch nicht einmal die Musikkapelle. Mailänder Kleinkindern wurden als Lätzchen Miniaturausgaben des traditionellen blauen »Bauernschurzes« um den Hals gebunden, dessentwegen Hermann in Mussolinis Zeiten noch verprügelt worden war.
Zunächst staunten die Südtiroler nicht schlecht über diese Maskerade (abgesehen von den Händlern natürlich, die mit Trachtenmode einträgliche Geschäfte machten), aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran. Für alle, die sie damals sahen, blieb aber jene neapolitanische Familie unvergesslich – Mutter, Vater und vier Kinder zwischen sechzehn und drei –, die eines schönen Tages im August lärmend die Hauptstraße des Städtchens entlangspazierte. Sie bot den Anblick von zwölf nackten, durch Makkaroniauflauf und Sartù wohlgenährten Oberschenkeln, die unter Lederhosen hervorquollen.
Auch Ulli blieb es nicht erspart, sein Zimmer in der Hochsaison für Touristen zu räumen und auf dem Speicher zu schlafen. Mit dem Geld, das dadurch hereinkam, konnte Leni den Eltern eine neue, resopalverkleidete Küche kaufen, wie man sie jetzt häufig im Fernsehen sah. Endlich konnte sie auch viele alte Möbel loswerden. Ein Mann aus Bozen war so freundlich, sie abzutransportieren und ihnen sogar noch ein wenig Geld dafür zu geben. Leni begriff wirklich nicht, was der Mann an dieser alten Truhe fand, die seit Generationen schon in ihrer Küche stand, oder an dem sperrigen, bemalten Schrank, der die Stube verdüsterte. Dass dessen Zeit vorüber war, erkannte man doch schon an dem Datum, das in der Mitte unter dem Fries zu lesen war: 1773. Das Geld des Mannes nahm Leni dennoch gern an, denn schließlich war es nicht ihre Schuld, dass manche Leute keinen Geschäftssinn besaßen.
Unter den italienischen Gästen, die Jahr für Jahr wiederkamen, war auch eine Mailänder Familie mit drei Kindern. Sie schwärmten von dem herrlichen Blick auf die Gletscher, den der Hof ihnen bot, aber auch von der Gastfreundschaft Lenis und der ihrer Eltern. Mochten ihre Zimmervermieter vielleicht auch nicht sehr gesprächig sein und sich ihr mit Preco und Puongiorno* gespicktes Italienisch wie aus einer Karikatur anhören, so waren sie doch ehrliche, rechtschaffene, auf ihre Art sogar liebenswürdige Leute. Dass sich der Ehemann dieser jungen Witwe bei einem Attentat gegen den italienischen Staat selbst in die Luft gesprengt hatte, hätte die Mailänder Familie wohl niemals für möglich gehalten.
* »Preco« und »puongiorno« von ital. prego (bitte) und buon giorno (guten Tag).
Die jüngste Tochter dieser Mailänder Familie war in Evas Alter und hatte krause schwarze Locken, die ihren Kopf wie ein aufgeladener Heiligenschein umgaben. Dass sie eigentlich ein italienisches Stadtkind war, schien sie hier völlig zu vergessen. Sie hatte sich Ulli und Eva auf eine derart selbstverständliche Weise angeschlossen, dass die beiden gar nicht anders konnten, als sich darauf einzulassen. Mit italienischen Kindern aus ihrem Städtchen hätten sich Ulli und Eva nie im Heu getummelt oder Staudämme am Bachufer im Wald gebaut. Mit diesem Mailänder Mädchen schon. Aber vielleicht musste man auch nur bei den Nachbarn auf der Hut sein und konnte sich Bewohnern anderer Welten gegenüber neugierig zeigen. Hätte sich dieses Mädchen allerdings als ihre Freundin bezeichnet, wären die beiden schon stutzig geworden, denn ein Freund verschwand ja nicht elf Monate im Jahr irgendwo in einem schwarzen Loch. Aber dieses Mädchen war klug, und deshalb nannte sie die beiden nie »Freunde«.
Ulli dagegen war immer schon Evas Freund gewesen.
Oder vielleicht war er zunächst auch nur ein Spielkamerad gewesen bis zu dem Tag, als ein anderer Junge nach der Messe auf dem Kirchplatz zu ihnen sagte, dass Ullis Vater den Tod verdient habe, weil er ein Verbrecher sei, und dass Evas Vater zwar lebe, aber nichts mit ihr zu tun haben wolle. Wie gar zu oft in seinem späteren Leben blieben Ulli die Worte, mit denen er sich hätte verteidigen können, im Halse stecken, verfaulten innerlich und vergifteten nur ihn allein. Und so war es nur Eva, die reagierte und dem Jungen zwei Finger ins Auge steckte. Seit diesem Tag waren Ulli und Eva unzertrennlich.
Im Gegensatz dazu war und wurde Sigi nie Evas Freund. Ullis Bruder gehörte für sie stets zu jenen unangenehmen Dingen des Lebens, die man nur ignorieren konnte: wie einen Splitter, der zu tief saß, um herausgeholt zu werden, wie einen Zahn, der wackelte, aber nicht ausfallen wollte, wie einen Vater, der nie da war. Und falls Eva überhaupt jemals in Versuchung war, Sigi sympathisch zu finden, so wurde diese Gefahr für immer an jenem Tag gebannt, als sie ihn dabei überraschten, wie er Trophäen anfertigte.
Leni hatte im Stall zu tun, und Eva und Ulli fanden Sigi, der fünf Jahre alt war, in der Stube vor. Er saß auf dem Holzfußboden, umgeben von Nägeln, Holzstückchen, einem Küchenmesser und einem Hammer. Und dann lagen da die enthaupteten Leiber verschiedener Stofftiere: eine Gans mit rot-weißem Gefieder, ein brauner Bär mit einem rotem Tuch um den Hals, ein Spürhund mit langen schwarzen Ohren. Die Köpfe dieser Stofftiere aber hatte Sigi auf Holzbrettchen genagelt.
Schweigend betrachteten sie die Szene, die zu bizarr war, als dass sie darauf prompt hätten reagieren können. Selbst Leni, die kurz darauf hinzutrat und die sonderbaren Jagdtrophäen entdeckte, verlangte keine Erklärung von ihrem Sohn. Sie hob nur den Blick zu den Holztafeln an der Wand, auf denen die einzigen Spuren befestigt waren, die ihr Mann, neben den beiden Kindern, auf Erden hinterlassen hatte: die Köpfe von Hirschen, Steinböcken und Gämsen, mit Geweihen, so spitz wie an dem Tag, da Peter sie geschossen hatte.
Hin und wieder suchten die Schützenbrüder die Witwe ihres früheren Kameraden auf, um sich zu erkundigen, ob sie irgendetwas brauche. »Nein, danke«, antwortete Leni nur, und ihre Gesichtszüge entspannten sich nicht mehr, bis die Männer endlich gegangen waren.
Auch Ulli verdrückte sich bald aus der Stube, wenn die Schützen zu Gast waren.
»Dein Vater hat sein Leben für dich geopfert«, bekam er häufig von den Schützen zu hören, und diese Worte lösten bei ihm eine Mischung aus Sehnsucht, Widerwillen und Ratlosigkeit aus. Wie sollte er sich jemals für ein solch übertrieben großes Geschenk angemessen bedanken können? Und welche Vorteile hatte es ihm überhaupt gebracht?
Sigi hingegen begleitete die Männer beim Abschied noch bis zur Straße hinaus. Er fand sie in ihren Trachten äußerst beeindruckend. Bald schon, noch bevor er eingeschult wurde, durfte er bei ihren Übungen dabei sein. »Dein Vater hat sein Leben für dich geopfert«, sagten sie auch zu ihm, doch im Gegensatz zu Ulli fühlte er dabei, wie sich endlich in seinem Innern diese erinnerungslose Leere füllte, die sein Vater dort hinterlassen hatte.
Leni sah es nicht gern, dass Sigi mit den Schützen verkehrte. Aber was hätte sie dagegen unternehmen können? Auch die Schwingshackls betrachteten die Sache so wie sie. Evas Adoptiveltern empfanden Mitleid für Leni und ihre Kinder und selbst für Hermann, diese kranke Seele, der seinen einzigen Sohn verloren und seine Tochter verstoßen hatte. Aber nie und nimmer hatten sie Peter für einen Helden gehalten. Für sie gab es viele Möglichkeiten, anderen Menschen Gutes zu erweisen, und einige davon verlangten Mut und Opferbereitschaft, aber was so heroisch daran sein sollte, sich selbst und andere in die Luft zu sprengen, wollten und konnten Sepp und Maria einfach nicht verstehen.
Etwas Neues kam auf, Open Air – ein Begriff, der ganz und gar nach Zukunft klang.
Es war nicht einfach Musik. Es war etwas Festes, das einen packte und das man nicht mit den Ohren hörte, sondern mit den Füßen, dem Bauch, den Haaren. Die Härchen an den Armen stellten sich auf, die Knie wurden weich, und der eigene Wille erlahmte. Und dann der Rhythmus! Wo hatte man schon mal solch einen Rhythmus gehört? Der Schlagzeuger schüttelte seine lange Mähne, dass die Haarsträhnen wie Schlangen durch die Luft flogen und die Schweißtropfen spritzten, und niemand hätte es für möglich gehalten, dass das Instrument, auf dem er sein Solo hämmerte, mit den Trommeln der Musikkapelle verwandt sein könnte. Und das war es auch nicht. Es war völlig anders. Alles war völlig anders. Sogar die Burg auf der Anhöhe über dem Städtchen, wo Eva, Ulli, Ruthi und Wastl sich jetzt aufhielten, war nicht mehr das, was sie eben noch gewesen war. Noch nicht einmal die Belagerungen im Mittelalter hatten die uralten Bastionen derart in ihren Grundfesten erschüttert wie jetzt dieses Ereignis: ein Rockkonzert.
Nie zuvor hatte es das gegeben, dass so viele Menschen auf der Wiese und unter den Lärchen vor der Burgmauer lagerten: junge Mädchen mit nackten Beinen und langen Haaren, in die Lederbänder geflochten waren, junge Männer in bunten Hemden und mit Tüchern auf dem Kopf, Pärchen, die eng umschlungen im Gras lagen und sich überall berührten und auf den Mund küssten. Und über allem und um alles herum, wie eine zähe Flüssigkeit, in der Eva, ihre Cousins, die verliebten Pärchen und die ganze Burg trieben, diese Musik wie von heiligen Teufeln. Evas Augen und Ohren, ihre Haut, konnten gar nicht alles fassen, was um sie herum geschah.
Ruthi hingegen war traurig. Jenes Mädchen, das Eva einst wie eine geschenkte Puppe empfangen und angenommen hatte, war inzwischen fünfzehn Jahre alt, immer noch strohblond und ein wenig zu dünn, doch der Blick ihrer Augen unter den hellen Wimpern wirkte sonst so offen und freundlich, dass ihre Gesellschaft von allen geschätzt wurde. Auch von Wastl. Sehr sogar. Sie ihrerseits hatte gemerkt, dass sie seine Gesellschaft nicht nur als angenehm, sondern fast unverzichtbar empfand. Aber soeben hatte Wastl ihr eröffnet, dass er nach Ende seines Wehrdienstes bei der Weinernte im Etschtal ein wenig Geld verdienen und zur Seite legen wolle, um dann nach Marokko zu fahren.
Marokko. Das klang nach einem sehr, sehr weit entfernten Land, vielleicht in Amerika, dachte Eva. Ja, so musste es sein. Bei Ulli zu Hause hatte sie in dem neuen Fernseher vor Kurzem erst von einer Stadt dieses Namens reden hören: Marokko-City. Wie kam man da wohl hin? Mit dem gleichen Bus, der ihre Mutter immer fortbrachte? Vielleicht lag Marokko in derselben Richtung wie die Küche, in der Gerda arbeitete, nur ein wenig dahinter noch.
Nein, er fahre nicht mit dem Bus, erklärte ihr Wastl. Nach Marokko werde er trampen. Er fragte Ruthi nicht, ob sie mit ihm kommen wolle. Sie bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken, doch die Band auf der Bühne mit dem unaussprechlichen Namen The We machte ihr das nicht leichter: Sie hatte gerade mit einem langsamen, sehr traurigen Stück begonnen, und die elektrische Gitarre heulte auf wie ein verletztes Tier.
Trampen.
Noch so ein lustiges Wort. Eva war sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hatte, was es bedeutete, doch wenn sie groß wäre, wollte sie das auf alle Fälle auch tun.