19711972

In der Nebensaison, wenn einige Hotelzimmer leer blieben, bat Gerda hin und wieder Frau Mayer, ihr ein paar Tage freizugeben, damit sie Eva sehen konnte, die auf ihre Besuche wartete wie ein Frommer auf ein Wunder: im festen Glauben, aber ohne Gewissheit. Sie wartete auf dem Kirchplatz und beobachtete, wie der blaue Bus aus Bozen vom Tal herauf die Kehren nahm, bis er die kleine Kirche erreichte. Ulli war dann nicht bei ihr. Die Begrüßung von Eva und ihrer Mutter ging ihn nichts an, wie er längst wusste; es war die einzige Situation, in der er sich von ihr fernhielt. Nun baute sich Eva an der Bustür auf und zwang die Passagiere, wie an einer winzigen Ehrenwache an ihr vorbeizudefilieren, musterte jeden Einzelnen und wandte sich dann verächtlich ab, weil er nicht ihre Mutter war. Wenn Gerda dann endlich wie eine Vision auf der obersten Stufe in der Tür auftauchte, explodierte in Evas Brust ein großes Glücksgefühl, durchsetzt von Beklemmung: Worauf jetzt zu warten blieb, war die nächste, sicher bevorstehende Trennung.

An jenem Tag aber waren schon alle Fahrgäste ausgestiegen, als sie immer noch vor dem von der Anstrengung leicht schnaufenden Bus stand. Gerda war nicht unter ihnen gewesen. Eva blickte zum Busfahrer auf, und der zuckte mit den Schultern, die breit geworden waren in all den Jahren, die er schon seinen Bus durch die engen Kurven dieser Strecke lenkte. Das Mädchen tat ihm ehrlich leid, aber er musste sich nun mal an seinen Fahrplan halten. Er drückte auf einen Knopf, und die Bustür schloss sich. Im Glas der Türflügel tauchte Evas Spiegelbild auf, dann zog die blaue Seitenfläche an ihr vorbei, und kurz darauf lag nur noch, vor dem Hintergrund der Gletscher in der Ferne, der Kirchplatz vor ihr. Auf dem gerade ein kaffeebrauner Fiat 130 anhielt.

Äußerlich schien Eva noch dasselbe blonde Mädchen wie eine Minute zuvor zu sein, doch tatsächlich war das Wesen, das dort verloren stand, nur noch eine Hülle, die ihr ähnlich sah. Weder Enttäuschung noch Trauer empfand sie, sondern fast einen Anflug von Erleichterung. Immerhin brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen, es war nun tatsächlich passiert, das Schlimmste, was sie immer befürchtet hatte: Ihre Mutter würde nicht mehr zu ihr zurückkommen, nie mehr. Deshalb bemerkte sie auch gar nicht, dass jetzt eine Frau aus dem Fiat stieg. Auch auf den Mann in der schwarzen Uniform, der neben ihr auf sie zukam, achtete sie nicht. Erst als die Frau ihren Namen rief und der Mann sich niederkauerte, um ihr direkt in die Augen zu sehen, begann ihr bewusst zu werden, dass hier etwas Außergewöhnliches, Fantastisches geschah.

Keiner der Männer, die Gerda kennengelernt hatte, hatte sich wie Vito verhalten.

Während Gerda Schlutzkrapfen buk, löste Vito mit Eva italienische Kreuzworträtsel. Das hatte Eva noch nie gemacht, weder auf Italienisch noch auf Deutsch oder auf Chinesisch.

Während Gerda das Essen auftrug, fragte Vito Eva nach der Schule, nach ihren Lieblingsfächern, ihren Klassenkameraden.

Während Gerda abspülte, erinnerte Vito Eva ans Zähneputzen.

Als Gerda Eva in ihr Bettchen bringen wollte, schüttelte Vito den Kopf.

»Nein, nein, die kleine Sisiduzza war vor mir da.«

Und so durfte Eva weiter in dem großen Bett schlafen, wie wenn sie mit ihrer Mama alleine war.

Gerda streckte sich neben ihr aus, und auf der anderen Seite legte sich Vito nieder. Durch die Wimpern nahm Gerda die beiden wie zwei flackernde dunkle Figürchen auf dem Boden eines Glases Johannisbeersaft wahr. Vito las Eva von Sandokan, Yanez und den malayischen Tierjungen vor. Gerda hatte ihr noch nie etwas vor dem Einschlafen vorgelesen, und erst recht nicht auf Italienisch. Zwar verstand Eva nicht alle Worte dieser Sprache voller Vokale und sanfter Laute, aber das war auch unwichtig. Reglos lag sie da und lauschte mit halb geschlossenen Augen, während sich die blonden Härchen an ihren Unterarmen ein wenig aufgerichteten hatten, allein durch die Zärtlichkeit in seiner Stimme.

»Was heißt Sisiduzza?«, fragte sie irgendwann.

»Fünkchen«, antwortete Vito.

So lag sie da, von den beiden gekrümmten Körpern wie in einer Muschel eingeschlossen, und strahlte innerlich heller als die »Perle von Labuan«.

Von Vitos Stimme gewiegt, wurden ihre Lider immer schwerer, bis sie sich langsam ganz schlossen.

»Eva schläft«, sagte da ihre Mutter.

Erst jetzt nahm Vito sie sanft auf die Arme und trug sie in ihr Kinderbett hinüber.

Eva schlief tief und fest, so fest wie seit Säuglingstagen nicht mehr.

Für die zwei Tage hatte Genovese Vito seinen Fotoapparat geliehen, und es wurden viele Bilder gemacht.

Gerda vor dem Kirchlein im nachtblauen Hemdblusenkleid.

Gerda auf einer Holzbank vor dem Heuspeicher.

Gerda und Eva auf einer Wiese voller Pusteblumen.

Ein Foto machte auch Eva, die sofort begriff, wie durch den Sucher zu schauen und der Auslöser zu betätigen war: Vito und Gerda, die sich lächelnd in die Augen schauen, sie in den Knien leicht gebeugt, um ihn nicht zu überragen.

Ein weiteres machte ein Passant, dem Vito die Kamera in die Hand drückte: Eva zwischen Gerda und Vito vor dem Hintergrund der Gletscher, alle drei mit den lächelnden Gesichtern einer Familie von Sommerfrischlern.

Als Gerda ihn Maria, Sepp und der ganzen vielköpfigen Familie vorstellte, sagte Vito, der die Stube betrat:

»Griastenk!«

Seit mehr als einem halben Jahrhundert waren es die beiden alten Leute gewohnt, dass Soldaten, Beamte, Funktionäre oder Lehrer sie auf Italienisch ansprachen, dass man italienische Antworten von ihnen erwartete und dass man sich über ihr schlechtes Italienisch lustig machte. Einen Carabiniere, der sie im Südtiroler Dialekt begrüßte, nein, so etwas hatten sie noch nie erlebt. Vito fragte sie, ob sie Lust hätten, am Abend die Artischocken zu probieren, die er mitgebracht habe, und Gerda lud sie ein, zu ihnen in das möblierte Zimmer zum Essen zu kommen.

Als Eva eine dieser Artischocken in die Hand nahm, kam sie ihr mehr wie eine Blüte als wie ein Gemüse vor. Man brauchte sie nur anzusehen, diese riesengroße, ledrige Knospe auf dem haarigen Stängel, um zu begreifen, dass sie aus einem Land der Fülle stammen musste. In ihrer Gegend mit den harten Böden an fast senkrechten Hängen waren solche Pflanzen jedenfalls unbekannt. Vito bereitete die Artischocken mit den Aromen des Südens zu. Sepp und Maria kosteten schweigend, konzentriert, so, als bemühten sie sich, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Als Vito ihnen eine zweite Portion anbot, sagten beide Ja.

Es war das erste Mal, dass Gerda in ihrem möblierten Zimmer Gäste empfing, richtige Gäste, für die man kochte und mit denen man plauderte, während Brot gebrochen wurde und die Krümel auf die Tischdecke rieselten. Und sie als richtige Gastgeberin, mit ihrem Mann an ihrer Seite.

Bevor die Gäste eingetroffen waren, hatte Vito eine Holzplatte herbeigeschafft, die er auf den einzigen Tisch im Raum legen wollte, um ihn zu vergrößern, damit alle daran Platz fanden. Eva war mit Malen beschäftigt und reagierte nicht, als Gerda sie bat, den Tisch von Blättern und Stiften frei zu räumen.

»Eva, tu, was deine Mutter sagt, aber sofort!«, schaltete sich Vito mit einer Stimme ein, die nicht barsch klang, aber keinen Widerspruch duldete.

Eva hob den Blick und schaute Vito aus weit aufgerissenen Augen an.

Er schimpfte mit ihr! Dabei war Vito weder ihr Lehrer noch der Pfarrer, geschweige denn Sepp (der allerdings nie und niemandem gegenüber die Stimme erhob). Aber er schimpfte. Eva stand auf und räumte die Stifte vom Tisch, die Augen niedergeschlagen, sodass es aussah, als schmolle sie. In Wahrheit wollte sie nur nicht zeigen, wie glücklich sie war.

Während des Essens erzählte Sepp dem Brigadiere von seiner zweijährigen Kriegsgefangenschaft. Weil selbst die Misshandlungen durch Hermann zu Zeiten der »Option« ihn nicht hatten dazu bringen können, seinen Hof aufzugeben, war er, wie alle »Dableiber«, zur italienischen Armee eingezogen worden. Als ihn dann die Engländer in der afrikanischen Wüste gefangen nahmen, bat er darum, zu den Deutschen ins Lager gesteckt zu werden, um sich wenigstens mit den anderen Gefangenen in seiner Muttersprache unterhalten zu können. Für die Lagerverwaltung war Sepp aber nur ein Soldat aus der Provinz Bolzano, Italy, und deshalb musste er bei den Italienern bleiben.

»Das war mein Glück«, sagte Sepp zu Vito.

Die Kartoffeln, die die Deutschen zu essen bekamen, waren faulig, durch ihr Brot krochen Würmer, und in ihrer Suppe schwamm Pappe. Brot und Kartoffeln für die Italiener aber waren fast unverdorben, und in ihrer Suppe gab es Kohlblätter. Ja, die Engländer kannten die Italiener, erklärte Sepp: So gefügig sie auch sonst sein mochten – war ihr Essen ungenießbar, gingen sie auf die Barrikaden.

Vito trug noch mal Artischocken auf. Der nur halb zugedeckten Pfanne entströmte der Duft von Knoblauch, Minze und wildem Fenchel. Für Eva war dieses Aroma wie Vitos Gegenwart: intensiv und einnehmend wie etwas nie zuvor Probiertes, an das man sich aber sofort gewöhnen konnte.

Als Gerda nach den zwei Tagen Urlaub ins Hotel zurückkehrte, strahlte sie etwas aus, was sogar der Küchenjunge Elmar nie zuvor an ihr gesehen hatte. Es war nicht die Fröhlichkeit, als wenn sie sich etwa zum Ausgehen mit Genovese fertig gemacht hatte, sondern eine ruhige, völlig erfüllte Zufriedenheit.

Immer noch schaute Elmar, der es wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums nie weiter als zum Tellerwäscher brachte, Gerda gerne und sehnsüchtig an. Als er an jenem Tag aber erlebte, wie sie mit nie gesehener Zärtlichkeit die Steaks auf dem Küchenbrett klopfte, riss er vor Staunen die Augen auf. Gerda merkte es, hob den Blick und lächelte ihn an. Elmar stockte der Atem. Gerdas Liebe zu Vito war so voll und reich, dass sogar für ihn, den armen alkoholabhängigen Küchenjungen, noch etwas übrig war.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
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