Km 903–960
Die Treibhäuser von Villa Literno ziehen in der Ferne vorbei, und so ist weder etwas von den Tomaten zu erkennen noch von den Arbeitssklaven aus den Nicht-EU-Ländern, ohne deren Plackerei das ganze Gemüse dort verfaulen würde. Ein langer Tunnel bringt uns nach Bagnoli, eine einzige, ununterbrochene Reihe von Industrieruinen. Umgeben sind sie von verfallenden Wohnhäusern, die mit einem blätternden Putz von unverwechselbarer Farbe verkleidet sind, einer Farbe, für die es bei uns früher einen eigenen Namen gab: fascistagrau.
Es ist die Farbe der Häuser, die während des Faschismus in Südtirol für die Scharen von Beamten und Angestellten gebaut wurden, die das Land italianisieren sollten: Lehrer, Funktionäre, Straßenarbeiter, vor allem aber Eisenbahner schickte man zu uns hinauf. Es ist die Farbe einer Epoche und einer Ideologie, für mich aber auch ein Zusammenspiel verschiedener Gerüche. Wenn ich als Kind an den Häusern beim Bahnhof mit den Buchstaben ANNO IX EF unter dem Kranzgesims vorüberkam, drangen aus den Fenstern Düfte, die in der Küche der Familie Schwingshackl unbekannt waren: der säuerliche Geruch von passierter Tomatensoße, von Gemüsesuppe mit Parmesan. Einladende Düfte, aber doch kein Grund stehen zu bleiben, denn die Häuser der Walschen gingen mich nichts an.
Das Verhältnis von uns daitschen Kindern zu den italienischen war einfach: Es gab keines. Sie waren eben die Walschen, und wir waren für sie die crucchi oder auch die tralli in Erinnerung an die Strommasten (tralicci), die »unsere« Terroristen in die Luft jagten. Es gab abgesteckte Gebiete, Einflusszonen, Territorien. Für uns war es ratsam, an den Eisenbahnerhäusern schnell vorüberzugehen und ebenso an den Sozialwohnungen hinter den Kasernen, wo die Armeeangehörigen mit ihren Familien lebten. Die Kinder, die dort wohnten, kamen mir undurchschaubar und roh vor, aber wenn ich es mir heute überlege, müssen die ihrerseits nicht weniger Angst vor uns Südtirolern gehabt haben: Schließlich waren wir ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Doch egal wie, jedenfalls haben wir nie miteinander gespielt. Niemals.
Als ich dann auf dem Internat in Bozen die Oberstufe besuchte, saß ich in einer Bank, Ellbogen an Ellbogen, mit anderen Kindern aus faschismusgrauen Häusern. Jetzt, da sie herangewachsen waren, hatten sie für mich gar nichts Undurchschaubares mehr. Ganz im Gegenteil. Während die Südtiroler Jungen den Mädchen mit Sprüchen so ungehobelt wie Brennholz kamen, musterten mich die italienischen ungeniert mit samtäugigen Blicken. Man kann sich denken, welchen Annäherungsversuchen ich den Vorzug gab.
Ulli war da mit mir einer Meinung, ja, er war es ganz und gar, voller Leidenschaft. Als er zum Wehrdienst eingezogen wurde, erlebte er die Blicke der jungen Italiener als eine Offenbarung. Und die Traurigkeit, die in ihm heranreifte und der er später erlag, hing auch damit zusammen, dass er bei uns nur auf Männer traf, die ihre Sexualität als ein rein körperliches Bedürfnis betrachteten und praktizierten, einen Vorgang, über den man, nach alter Sitte, nicht sprach und für den man sich den hintersten, schäbigsten Winkel des Hauses aussuchte. Auch Ulli hatte es so gehalten, jahrelang, aber nur, weil er nichts Besseres fand. Und so war es kein Zufall, dass es ein Junge aus dem Süden war, in den er sich verliebte.
Eines Nachts, als wir wieder mal zusammen in Marlenes Führerhaus die Pisten hinauf- und hinunterrasselten, sagte er es mir:
»Ich hab mich verliebt.«
Er hieß Costa, war Grieche, hatte schmale Hände und dunkle Augen und arbeitete in Innsbruck in einem Pub. Nach der Wintersaison wollten die beiden zusammenziehen. Costa, Costa, Costa. Unablässig kam Ulli dieser Name über die Lippen. Und er sagte auch:
»Ich bin sein, und er ist mein.«
Und:
»Wenn wir zusammen sind, verstehe ich erst, warum ich auf der Welt bin.«
Und:
»Unsere Liebe ist größer als wir selbst.«
Worte, süßer als eine Schachtel Pralinen.
Ich hätte mich sehr für ihn freuen müssen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Überhaupt nicht. Ulli erlebte jetzt das, worüber alle Welt sprach, sang, schrieb. Jenen Zustand, der allein, so heißt es, das Leben lebenswert macht, jenes Gefühl, das den Zugang zum Himmel verspricht und zur Hölle und zu den großen Geheimnissen, neben denen alles andere bedeutungslos ist.
In jener Nacht fühlte ich mich, als habe mir mein bester Freund, mein Beinahebruder, plötzlich eröffnet, dass er in Wahrheit der Sohn eines Kaisers sei und Schätze, Paläste und Diener ohne Ende sein Eigen nenne und dass er bislang nur deshalb mit mir Graubrot und Zwiebeln geteilt habe, um mal etwas anderes kennenzulernen.
Ja, so fühlte ich mich: arm.
»Das ist ja toll. Ich freue mich so für dich.«
Ich durfte nicht hoffen, dass Ulli mir glauben würde. Dafür kannte er mich zu gut. Und in der Tat blickte er mich aus den Augenwinkeln an, sagte aber kein Wort. Vielleicht honorierte er die Anstrengung, die es mich kostete, ihm zum ersten und einzigen Mal etwas vorzulügen.
Es war ein Winter mit ständigen Schneefällen, nicht nur bei uns in den Bergen, sondern auch im südlichen Italien. In den Fernsehnachrichten wurden Bilder vom weißen Petersplatz gezeigt, die Brunnen seitlich des Obelisken waren mit Eiszapfen geschmückt. In jenem Winter waren die Pisten leicht zu präparieren, die Skifahrer begeistert, die Hotels voll. Mit anderen Worten, es war ein Jahr des Überflusses. Nur nicht für mich.
Und während ich jetzt hinausblicke, fühle ich mich wie einer dieser Reisenden, die aus den gegenüberliegenden Zugfenstern schauen und so gegensätzliche Landschaften sehen. Durch sein Fenster hat Ulli zumindest einmal im Leben den weiten Horizont der Liebe wahrgenommen. Wie meine Mutter von ihrem Fenster aus auch. Ich dagegen bin geheiratet, geschieden, hofiert worden. Habe Männer gehabt, die nur auf ein Zeichen von mir warteten, habe Männer begehrt und zu schätzen gelernt. Auch Zuneigung habe ich entwickelt – zu Carlo zum Beispiel. Aber ich erinnere mich noch zu gut an meine Mutter, als sie mit Vito zusammen war, oder an Ullis Augen, der immer wieder »Costa«, »Costa« sagte, um den Unterschied zu verkennen.
Ich scheine mich ans falsche Fenster gesetzt zu haben.
Carlo lernte ich in einer herrlichen Villa ein wenig außerhalb von Bozen kennen, und zwar bei der Einweihung eines großen privaten Planungsbüros, die ich organisiert hatte. Der Abend war schon fast vorüber und alles gut gelaufen, die zahlreichen Gäste kamen auf ihre Kosten, und ich konnte mich endlich ein wenig entspannen. Vielleicht überflüssig zu erwähnen, dass Carlo ohne seine Frau gekommen war. Von unserem ersten Gespräch habe ich in Erinnerung, dass er irgendwann zu mir sagte:
»Die meisten italienischsprachigen Altoatesini denken, dass ihr deutschsprachigen Südtiroler alle Nazis seid.«
Und ich antwortete ihm:
»Und die meisten deutschsprachigen Südtiroler denken, dass ihr italienischsprachigen Altoatesini alle Faschisten seid.«
»Die könnten sich verbünden und dem Rest der Welt den Krieg erklären. Ich bin aber kein Faschist. Bist du ein Nazi?«
»Nein.«
»Dachte ich mir’s doch. Ich bin übrigens in Bozen geboren, als Sohn eines Eisenbahners aus Isernia und einer Lehrerin aus Salerno, und ich lebe immer noch gern hier, weil es der einzige Ort Italiens ist, wo sich Italiener nur als Italiener fühlen und nicht als Sizilianer, Neapolitaner, Veneter oder Piemonteser. Wenn nicht gar als Einwohner von Acitrezza oder irgendeines anderen Dörfchens, nicht zu verwechseln mit Acireale – ein Riesenunterschied, nein, mit den Leuten dort wollen sie keinesfalls in einen Topf geworfen werden.«
»Aber wenigstens wird dir«, sagte ich, »südlich von Verona nicht stets die gleiche berühmte Frage gestellt, die ich so oft höre.«
»Ich kann mir denken, was das für eine Frage ist: ›Darf ich dich zum Essen einladen?‹«
»Nein. ›Fühlst du dich eher als Italienerin oder als Deutsche?‹«
»Und das wirst du tatsächlich gefragt?«
»Immer wieder. Von allen.«
»Das ist bestimmt sehr lästig. Aber darf ich dich mal was fragen: Fühlst du dich eher als Italienerin oder als Deutsche?«
»…«
»Okay. Dann frag ich dich was anderes: Darf ich dich mal zum Essen einladen?«
Napoli Campi Flegrei, Napoli Mergellina. Wir sind in den Bauch der Stadt am Vesuv, in seine Eingeweide eingetaucht, fahren jetzt durch U-Bahn-Tunnel.
Ohne Halt passieren wir die unterirdischen Bahnhöfe Piazza Amedeo, Montesanto, Piazza Cavour. Sie schießen vorbei, voneinander getrennt durch stockdunkle Stollen, zucken auf wie Blitze, die man sich mit geschlossenen Augen vorstellt. In hohem Tempo rasen wir über das mittlere Gleis, während auf den Bahnsteigen der Nebengleise, wie an einem Werktag, Menschen warten, die vielleicht zur Arbeit müssen, zum Zahnarzt, eine Freundin besuchen wollen. Im Kontrast zu dieser Alltäglichkeit wirkt unser Zug wie ein Supertanker in einem Flüsschen, ein Lkw auf einem Radweg. Ein Gefühl, als würden wir ratternd in die Privatsphäre der Stadt eindringen. Fast so wie in meinem Traum! Mit umgekehrten Rollen allerdings. Nun bin ich der Passagier, der durchs Zugfenster in die Schlafzimmer anderer Leute schaut.
Am Bahnhof Piazza Garibaldi halten wir. In bläuliches Neonlicht getaucht, mit Kacheln wie im Leichenschauhaus und den verlassenen Bahnsteigen vermittelt er den Eindruck, als könne jemand, der hier aussteigt, im Nichts verschwinden und nie mehr auftauchen.
»Orangensaftmineralwassercolapizzabelegtebrötchen!«
Sie müssen in der Totenstille dieses an den Kalten Krieg erinnernden Bahnhofs eingestiegen sein und preisen jetzt, wie zum Ausgleich, brüllend und ohne Erbarmen mit ihren Stimmbändern ihre Waren an. Sie schleifen riesengroße Plastiktüten durch die Gänge und blaue Fensterputzereimer, in denen sie kalte Getränke aufbewahren. Es sind alte und junge Männer, Bübchen, aber keine einzige Frau. Ein dunkelhäutiger Mann mit fetten Armen steckt den Kopf in unser Abteil, und die beiden Amerikanerinnen starren ihn erschrocken an, als wäre er ein Mörder und seine Tüte voller Brötchen eine tödliche Waffe. Ich verneine mit einem Kopfschütteln, und der Mann zieht weiter und lässt eine Spur von Wasserspritzern aus seinem übervollen Eimer hinter sich zurück.
Die Männer, die hier schwarz Essen und Getränke verkaufen, sorgen für einen dringend notwendigen Service, weil in dem Fernverkehrszug Speise- und Bistrowagen abgeschafft wurden. Da wir uns in Neapel befinden, einer Stadt, wo sich Politik und Kriminalität durchdringen, könnte man auf den Gedanken kommen, dass dies vielleicht kein Zufall ist.
Endlich wieder die Sonne. Neapel hatte den Zug verschluckt, ihn im Mund hin und her gewendet und wieder ausgespuckt wie einen Olivenkern.
Ich sehe die blauen Schilder des Hauptbahnhofs Napoli Centrale, den Bahnhof selbst aber nicht. Unmittelbar neben den Gleisen erheben sich hautfarbene Wohnblöcke, Würfel und Quader, denen jede Schönheit abgeht. Dann tauchen die Kräne am Hafen auf. Darunter Hunderte, Tausende, Zehntausende von Containern, fast alle riesengroß mit HANJIN, CHINA SHIPPING oder Ähnlichem beschriftet. Man könnte glauben, Italien unterhalte ausschließlich mit China Handelsbeziehungen.
Jetzt sind wir nur noch wenige Meter vom Meer entfernt, durch das Zugfenster meint man fast, es berühren zu können; seit wir Rom verlassen haben, sind wir ihm nicht mehr so nahe gekommen. Klippen, in der Sonne glitzernde Wellen, Angler mit ihren Ruten und hellen Hüten auf dem Kopf, aber auch Leute in dicken Mänteln. Jeder begegnet dem Frühling auf seine Weise. In Torre del Greco dient eine Mauer als vertikale Müllhalde, ein Berg aus Abfallsäcken hat sich aufgebaut, der sogar bestiegen wird. Aber nicht nur das. Obendrüber, wo der Müll noch etwas vom Putz frei gelassen hat, haben Menschen zarten Gefühlen Ausdruck gegeben. VERZEIH MIR, GELIEBTE, steht da, und SÜSSE, ICH LIEBE DICH, ICH SEHNE MICH NACH DIR.
Als ich von der Toilette zurückkomme, werfe ich einen Blick in das Abteil mit den indischen Handyenthusiasten. Es sind vier Männer und zwei Frauen, von denen eine ein kleines Kind im Arm hält. Sie liegen auf den ausgezogenen Sitzen und schlafen tief und fest.
Mittlerweile befinden wir uns südlich des Vesuv, sein Krater ist deutlich auszumachen. Meine Mutter träumt davon, einmal Pompeji und Herculaneum zu besuchen und dann ein paar Tage an der Küste bei Amalfi zu verbringen. Ich habe ihr versprochen, sie zu begleiten. Dieses Versprechen sollte ich endlich mal einlösen.
Ich weiß auch nicht, warum mir ausgerechnet jetzt einfällt, wie ich ihr damals erzählte, dass ich nach Australien auswandern wollte, und sie mir antwortete: »Fein, dann kann ich endlich mal die Kängurus sehen, das hab ich mir immer schon gewünscht.«
Moment mal. Ich war doch auf dem Sprung nach Australien. Nicht sie.
Das ist schließlich etwas anderes. Wir sind ja nicht eins.