19621963

Paul Staggl war ein Unternehmer, dem viel daran lag, am Puls der Zeit zu sein. Er las die Dolomiten, aber auch die Süddeutsche Zeitung und den Corriere della Sera. Wenn von seiner Heimat die Rede war, ging es meistens um die »Südtiroler Frage«, um »Attentate« und »Bomben«, und das gefiel ihm nicht. Es war geschäftsschädigend, dass man in Italien immer nur in diesem denkbar schlechten Zusammenhang von Südtirol hörte. Und seine Sorgen wuchsen noch durch den Umstand, dass der Winter zu warm war dieses Jahr: schon Ende Dezember und kaum Schnee. Ausgerechnet jetzt, da die neue Seilbahn eingeweiht war, waren die Hänge noch übersät mit Steinen und trostlos braunen Flecken. Schon seit einiger Zeit dachte Paul über die Möglichkeit nach, die Schneeauflage der Pisten von der Wetterlage unabhängig zu machen. Er hatte gelesen, dass man in der Schweiz an der Herstellung von Kunstschnee arbeitete, aber noch handelte es sich um primitive Verfahren mit enttäuschenden Resultaten. Doch Pauls Vertrauen in den technischen Fortschritt war fast so groß wie sein Selbstvertrauen. Bisher war das Projekt im Entwicklungsstadium, aber dass ihm die Zukunft gehören würde, daran zweifelte er nicht.

Paul war stets gut informiert – auch über das Mädchen, mit dem dieser Trottel von seinem Sohn etwas angefangen hatte, wusste er Bescheid. Die Beschäftigten der Seilbahn hatten ihm Bericht erstattet. Nun war aber Gerdas Vater der letzte Mensch im ganzen Tal, mit dem Paul verwandt sein wollte. Nicht, weil Hermann ein Rückkehrer war und in Schanghai wohnte, und ebenso wenig, weil ihn sein äußerst schwieriger Charakter jetzt bereits, mit noch nicht einmal sechzig Jahren, zu einem komischen Kauz gemacht hatte. Solche Leute gab es schließlich überall in den kleinen Städten in der Provinz. Hermann war nun mal ein schroffer, schweigsamer Mann, dem kein Lächeln zu entlocken war, selbst wenn man ihn dafür bezahlt hätte. Einmal hatte ihm tatsächlich ein Witzbold am Stammtisch im Wirtshaus, einer Wette wegen, einen ordentlichen Betrag geboten, wenn er nur einmal die Mundwinkel heben würde, und keiner der Anwesenden vermochte zu sagen, ob Hermann sich durch dieses Angebot gekränkt fühlte oder nicht: Sein finsterer, von Weltverachtung erfüllter Gesichtsausdruck blieb so, wie er immer war. Nein, für Paul bestand Hermanns Schuld lediglich darin, sein Klassenkamerad gewesen zu sein, in jener Zeit, als der Besitz von Grund und Boden an steilen Nordhängen noch nicht gleichbedeutend mit Skipisten und Touristen war, mit Zugseilvorrichtungen und Reichtum, sondern mit bitterer Armut.

So beschloss Paul, dass es an der Zeit sei, sich um die berufliche Weiterbildung seines Sohnes zu kümmern. Er schickte ihn auf eine lange Studienreise, ins Engadin, nach Kärnten, Bayern und sogar Colorado, denn plötzlich war es dringend notwendig, dass er sich mit den Geschäftsmodellen der renommiertesten Skigebiete der Welt vertraut machte. Wie Hannes selbst dazu stand, erfuhr Gerda nie. Als sie vom Hotel aus bei ihm anrief, um ihm von der Schwangerschaft zu erzählen, war er bereits abgereist. Die höfliche Stimme seines Vaters riet ihr, es in sechs Monaten noch einmal zu versuchen.

Einige Tage verharrte Gerda in einem Zustand bloßen Erstaunens. Man hätte nicht sagen können, dass sie ihre Arbeit vernachlässigte. Sie wusch, zerteilte, schnitt, klopfte, rieb, knetete, rührte, schlug auf, hackte – alles wie immer. Und sie arbeitete auch nicht weniger gewissenhaft als sonst. Sie ließ keine Soßen anbrennen, keine Pasta verkochen, schnitt kein Gemüse julienne statt brunoise oder umgekehrt. Auch ihren Arbeitsplatz hinterließ sie abends stets ordentlich und sauber, was man von ihren männlichen Kollegen nicht behaupten konnte. Sie war überzeugt: Wenn sie es einfach nicht zur Kenntnis nahm, würde es wieder verschwinden, ohne große Spuren zu hinterlassen, so wie auch höchstens eine winzige Narbe zurückblieb, wenn man sich mit einem Spritzer Öl verbrannte und den Schmerz ignorierte. Sie glaubte weiter fest an eine Zukunft mit Hannes, aber das verlangte solch eine Konzentration, dass sie alle überflüssigen geistigen Aktivitäten unterlassen musste: mit den anderen Hilfsköchen zu reden, zu grüßen, auf nicht dringliche Aufforderungen einzugehen.

Und während sie intensiv, ja wild entschlossen diese Überzeugung nährte, schwollen ihre ohnehin schon vollen Brüste unter der Schürze täglich weiter an. Als habe sie es nicht mit einer, sondern gleich zwei Schwangerschaften zu tun, und das auch nicht im Bauch, denn der war weiterhin völlig flach, sondern in ihrem Busen.

Mehrmals am Tag, meistens morgens, musste sie in die Toilette fürs Personal rennen und sich übergeben. Mit bläulichen Ringen unter den Augen, die Lippen blass, die Wangen noch nass von dem eiskalten Wasser, das sie sich ins Gesicht geschaufelt hatte, kehrte sie in die Küche zurück und nahm mit bemüht sachlichem Blick die Arbeit wieder auf. Ihr Schweigen verbot den Küchenjungen, Köchen und Kellnern jede Bemerkung, jeden indiskreten Blick. Doch obwohl sie so voller Selbstdisziplin und Entschlossenheit die Wirklichkeit verleugnete, rief weder Hannes an, um ihr zu sagen, dass er sie liebe und bald heiraten werde, noch verschwand ihre Schwangerschaft. Und Gerda begriff: Die Gewissheit zu kultivieren, dass sie vorübergehen würde, reichte nicht mehr aus.

An einem Abend nach Schichtende, als auch der Küchenjunge Elmar schon schlafen gegangen war und sich die Hotelgäste auf der Terrasse den letzten Drink des Tages gönnten, ging Gerda von der leeren Küche zur Speisekammer hinüber. Wohldurchdacht gestapelt, damit es keine Druckstellen gab, standen da die Kisten mit dem Spargel aus Rovigo, dem Radicchio aus Treviso und dem Kopfsalat von den heimischen Bauern. Doch dafür interessierte Gerda sich jetzt nicht. Stattdessen nahm sie sich einen Bund aus der für die Gewürzkräuter reservierten Ecke, aber weder Schnittlauch noch Salbei oder Majoran, dann noch eins und wieder eins, und trug das ganze Grünzeug auf beiden Armen zur Küche hinüber. Dort legte sie es auf dem großen Schneidbrett ab und begann zu essen. Ihre Lippen wurden grün, und bald schon steckten überall Blättchen zwischen ihren Zähnen, aber sie hörte nicht auf, einen Stängel nach dem anderen aus dem Bund zu reißen, sich in den Mund zu stopfen und darauf herumzukauen wie die Kühe, die sie in jenen so lange zurückliegenden glücklichen Sommern gehütet hatte. Ein Rand hatte sich um ihren Mund gebildet, und sie wischte mit dem Handgelenk darüber – es war die gleiche Geste, mit der ihr Vater Hermann sich als Junge die Milchreste von der Oberlippe gewischt hatte, nur dass ihr Schnurrbart nicht elfenbeinfarben, sondern grün aussah wie die Blättchen, die sie, Stängel um Stängel, Bund um Bund, kaute und hinunterschluckte.

Irgendwann betrat Elmar die Küche, um sich, wie so oft, noch einen Schluck von dem Brandy oder Marsala oder einem der anderen Liköre auf dem Regal mit den Gewürzen und Gewürzsoßen zu genehmigen. Zunächst schuldbewusst, dann verwundert starrte er sie an mit seinem Gesicht, so lang und violett wie eine Aubergine.

»Wos tuaschn?«

»Ich mache grüne Soße«, antwortete Gerda mit ihrem in der Tat grünen Mund, ohne die Augen niederzuschlagen angesichts dieser absurden Lüge. Schließlich war es wie immer Elmar, der den Blick senkte.

In der Nacht, auf ihrer Pritsche in dem großen Raum unter dem Dach, in dem sie mit den anderen weiblichen Angestellten schlief, presste Gerda die Hand auf den entsetzlich schmerzenden Bauch. Sie hatte Fieber, Durchfall und Brechreiz, dann auch einige Krämpfe im Unterleib, die große Hoffnungen weckten. Aber mehr passierte nicht.

Die Petersilie hatte nicht funktioniert, und so versuchte es Gerda als Nächstes mit der steilen Treppe aus Zirbelkiefernholz. Sie führte hinauf zu ihrem Schlafsaal unter dem Dach, dem einzigen Bereich des Hotels, der nicht saniert, sondern unverändert geblieben war seit der Zeit, als die Gegend noch der Südzipfel des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs war und die gut situierten Wiener Bürger hier den Winter verbrachten.

Damit der Aufprall nicht abgefedert wurde, zog Gerda die Beine an, stieß sich mit den Ellbogen ab und stürzte sich die Treppe hinunter. Auf jeder Stufe schlug sie hart auf, fünfzehnmal insgesamt, Schläge gegen das Becken, die willkommen waren, aber auch gegen Rippen und Schultern, die nur schmerzten und nichts brachten. Unten angekommen, gerieten ihr einen Augenblick lang Hell und Dunkel durcheinander; schwarz und klebrig wie Pech war plötzlich das Licht, das durch das schmale Fenster einfiel, während die Schatten unnatürlich leuchteten. Dann rappelte sie sich hoch und schleppte sich taumelnd wieder hinauf.

Grau geworden durch die Zeit war das Zirbelkiefernholz der fünfzehn schmalen Stufen und in der Mitte leicht ausgehöhlt durch unzählige Füße, die dort über Jahrhunderte hinauf- und hinuntergelaufen waren. Die Maserungen, die das Holz durchzogen, bildeten Kämme und Senken, und die dunklen, länglichen Spiralen der Astlöcher sahen wie Miniaturgalaxien aus. Doch Gerda hatte keinen Blick für die Schönheit dieses uralten Holzes, stieg nur immer wieder bis zur letzten Stufe hinauf, setzte sich und stürzte sich hinunter.

Fünf-, zehn-, vielleicht auch zwanzigmal, sie wusste es nicht mehr, rumpelte Gerda die Stufen hinab. Irgendwann zählte sie nicht mehr mit. Von ihrem Steißbein in Schwingung versetzt, gab das alte Holz einen schönen, vollen Ton von sich wie ein Xylophon mit ihr als Klöppel. Irgendwann hatte sie das Gefühl, immer so weitermachen zu können, ihr ganzes Leben lang: die Stufen hinunterhoppeln, mit neuen Blutergüssen wieder hinaufsteigen und dieses hölzerne, rhythmische Trommeln zu erzeugen, wütend und mutwillig, aber auch dumpf und gedankenlos, unkompliziert, fast freundschaftlich vertraut. Wenn sie dann unten vor der letzten Stufe lag, reglos, die Glieder wie eine schlaffe Puppe von sich gestreckt, pulsierten phosphoreszierende Schatten vor ihren geschlossenen Lidern und schienen alles Licht zu verschlucken. Einen Moment wartete sie und kroch dann auf allen vieren wieder hinauf.

Eva, das Klümpchen in ihrem Bauch, erreichten die Schläge lediglich gedämpft. Nur außerhalb hatten die Dinge Grenzen, die aneinanderstoßen, aufeinanderprallen, gegeneinanderschlagen, sich verletzen konnten. Sie war geschützt, für sie waren die Schläge nicht mehr als kleine Wellen auf dem grenzenlosen Ozean, der sie barg.

Schließlich lag Gerda fast bewusstlos am Fuße der Treppe. Sie hob den Blick. Jenseits des schmalen Speicherfensters trieben die Wolken rasch über die Berge, unerreichbar, unaufhörlich, ungerührt. Lange beobachtete sie die Formationen, ohne sie scharf wahrnehmen zu können. Gegen den Strich streichelten die dunklen Schatten der Zirruswolken die bewaldeten Hänge und das Gras der Almweiden, kraulten den nackten Fels der Schluchten und Gipfel, und ihr war, als könne sie das sanfte Rauschen dieser allumfassenden zärtlichen Berührung hören. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie dort lag, der Körper ein einziger Schmerz, ihr Kopf leer. Irgendwann stand sie langsam auf und schleppte sich, mit einer Hand an der Wand, den engen Flur entlang, der zu den Schlafsälen der Angestellten führte.

Sie hatte versagt.

Evas Augen waren nur zwei Kugeln, riesengroß im Vergleich zum übrigen Körper, und hatten weder Wimpern noch Lider, die sich hätten schließen können. Dennoch schlief Eva weiter ihren Fötusschlaf, den Schlaf von Geschöpf und Schöpfer zugleich, den Schlaf eines Gottes, der vom Beginn der Zeit träumt. Ihrer eigenen.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
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