19731977

Es war der sogenannte patentino, der Gerda das Leben rettete.

Vielleicht wäre sie auch ohne durchgekommen, vielleicht hätte der Selbsterhaltungstrieb sie alles wieder auskotzen lassen. Vielleicht wäre auch jemand ins Zimmer gelaufen und hätte sie davon abgehalten. Oder ihr wäre im letzten Moment Eva eingefallen, und sie hätte die Tabletten ins Klo geworfen. Tatsache ist, dass Gerda es dem »Gesetz zur Zweisprachigkeit« verdankte, dass sie überlebte, dem Hauptpunkt des neuen Autonomiestatuts der Provinz Alto Adige/Südtirol.

Nachdem die Südtiroler viele Jahre lang dazu gezwungen waren, eine Fremdsprache zu benutzen, wenn sie auf einem Amt ihrer Heimat etwas zu erledigen hatten, schaffte das »Paket« hier Abhilfe. Alle Angestellten in öffentlichen Ämtern mussten von nun an nachweisen, dass sie sowohl Deutsch als auch Italienisch beherrschten, und zwar mit einer Bescheinigung, die eben patentino* genannt wurde.

* Wörtlich »Führerscheinchen«.

Das Gesetz machte Schluss mit einer historischen Ungerechtigkeit. Dumm nur, dass niemand die praktischen Auswirkungen bedacht hatte. Was sollte mit den italienischen Beamten geschehen, die nicht gut genug Deutsch sprachen, um die Prüfung schaffen zu können, also praktisch alle? Wollte man sie ausnahmslos entlassen? Und was war mit denen, die in Bereichen arbeiteten, die ebenfalls für das Gemeinwohl wichtig waren? Den Apothekern zum Beispiel. Was sollten die machen?

Doktor Enrico Sanna etwa hatte nach dem Universitätsexamen sein heimisches Cagliari auf Sardinien verlassen und ganz in der Nähe von Frau Mayers Hotel eine Apotheke aufgemacht. Seit damals waren dreißig Jahre vergangen, doch auf Deutsch hatte er nicht mehr als zu grüßen gelernt oder eben »danke«, »bitte«, »guten Appetit« oder dergleichen zu sagen. Um sich die Namen der Arzneien zu merken, brauchte man nicht in Sprachen bewandert zu sein, und die Symptome von Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen konnte man sich auch mit den Händen oder dem Gesichtsausdruck beschreiben lassen. Auf alle Fälle hatte er seine mangelnden Deutschkenntnisse nie als Einschränkung seiner beruflichen Fähigkeiten empfunden. Und auch seine Kunden hatten sich nie beschwert. Im Gegenteil hatten sie auf ihre trockene Art ihm gegenüber immer eine gewisse Herzlichkeit gezeigt. Und ebenso seiner Frau gegenüber, die aus der sardischen Stadt Barbagia stammte und sich unter den Menschen ihrer neuen Heimat, die nicht zu Gefühlsausbrüchen neigten, aber stets ihr Wort hielten, nie unwohl gefühlt hatte. So weit, so gut, bis zu dem Tag, da Doktor Sanna eine amtliche Mitteilung ins Haus flatterte, in der man ihn aufforderte, eine Prüfung zur Erlangung der Zweisprachigkeitsbescheinigung abzulegen.

Vito war seit einigen Wochen fort, und wie sonst auch arbeitete Gerda in der Hotelküche. Die Speisen, die sie dort für Frau Mayers Gäste zubereitete, waren genauso schmackhaft wie gewohnt, das Fleisch nicht weniger perfekt auf den Punkt gegart, die Garnierungen nicht nachlässiger angeordnet. Wenn die Kellner mit ihren Bestellungen heranstoben, »neu« riefen und ihre Zettel auf der Theke ablegten, rührte sie nicht weniger aufmerksam eine Soße an, begoss sie nicht weniger behutsam den Braten im Ofen, schnitt sie nicht weniger exakt die Rolladen in Scheiben. In den Pausen aber, wenn das übrige Personal beim Essen zusammensaß, sie aber, als treue Nachfolgerin von Herrn Neumann, allein in der Küche blieb, um die Töpfe auf dem Herd nicht aus den Augen zu lassen, kam es vor, dass sie versonnen Elmars Putzmittel über dem Spülbecken betrachtete – so eine Flasche auf einen Zug auszutrinken schien ihr nicht sonderlich schwer – oder die Fleischmesser, deren scharfen Klingen es in ihren fachkundigen Händen leicht gefallen wäre, die Adern zu finden.

Doch die Pausen gingen zu Ende, die Köche kehrten an ihre Arbeitstische zurück, die Gäste hatten Hunger, und Gerda überlebte, Stunde für Stunde.

An jenem Tag hatte sie frei, und das war immer die schlimmste Zeit. Sie lag in ihrem Zimmer auf dem Bett, und das allein schon war grausam, so zu liegen auf diesem Bett, in dem sie mit Vito …

Von einem plötzlichen Entschluss gepackt, stand sie auf, zog sich an, verließ das Hotel und machte sich auf den Weg zu der Praxis, wo man auch auf Krankenschein behandelt wurde. Dort wartete sie zwischen Kindern mit Mumps und Alten mit Darmentzündung, und als sie dran war, sagte sie dem Arzt, worunter sie litt: Schlaflosigkeit. Der Mann betrachtete ihre graue Haut, die dicken Ringe unter den Augen und verschrieb ihr Benzodiazepin.

Ist das ein Schlafmittel?

Ja. Damit werde sie endlich wieder tief schlafen können.

So machte sich Gerda auf den Weg zur Apotheke. Hielt sie dabei das Rezept in der Hand wie ein Samurai das Schwert, mit dem er Harakiri verüben wird? Nein, sie hatte es zu Puder und Geldbörse in die Handtasche gesteckt. Doch zu sterben war sie ebenso wild entschlossen wie ein japanischer Krieger.

So gelangte sie zur Apotheke von Doktor Sanna. Doch die war geschlossen. Gerda konnte es nicht glauben, schließlich war es vier Uhr am Nachmittag, es war Montag, und nicht Weihnachten. Am heruntergelassenen Rollgitter hing ein Blatt voller Stempel, auf dem ganz oben stand:

PROVINZVERORDNUNG/ORDINANZA PROVINCIALE

Gerda blickte sich um. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich eine kleine Menge auf dem Gehweg vor der Apotheke versammelt hatte. Männer, Alte, junge Mütter mit ihren Säuglingen, wehrpflichtige Soldaten. Sie brauchten Aspirin, Mundwasser oder Insulin. Kondome, Fieberthermometer oder Antibiotika, Blutgerinnungsmittel, Mullbinden oder sterile Spritzen. Läusegift, Halstabletten oder eben Benzodiazepin, um dem Schmerz ein Ende zu machen.

Doktor Sanna aber hatte die Zweisprachigkeitsprüfung nicht bestanden und durfte das alles niemandem mehr verkaufen.

Hätte sie es unbedingt gewollt, so wären auch noch die Apotheken in den Nachbarorten erreichbar gewesen. Doch die Entschlossenheit, die sie zu Doktor Sanna geführt hatte, war schon ein wenig erlahmt.

So starb Gerda also nicht. Aber sie begann, sich mehr und mehr zu vernachlässigen. Wenn sie Fleisch holen ging, vergaß sie den Wintermantel überzuziehen und betrat in Hemdsärmeln, noch erhitzt von der Küche, die Kühlkammer. Und auf der Stelle gefror ihr der Schweiß auf dem Leib, und ihre Nieren schmerzten wie unter Stromstößen, aber sich etwas überzuziehen fiel ihr erst ein, wenn sie bereits wieder draußen war. Gerda war von unverwüstlicher Natur wie ihr Vater Hermann, und so dauerte es lange, bis sie krank wurde, aber schließlich bekam sie sehr hohes Fieber. Als Frau Mayer sie in der Kammer unter dem Dach aufsuchte, erschrak sie: Ihre Chefköchin schwitzte und zitterte, als habe sie die Cholera, und das Kopfkissen war mit Haaren übersät, die Gerda büschelweise ausfielen. Drei Wochen musste sie das Bett hüten. Als sie endlich wieder aufstehen konnte, hatte Gerda mit ihren nicht mal dreißig Jahren große kahle Stellen auf dem Kopf. Monatelang band sie sich ein Kopftuch um. Dann waren die blonden Haare nachgewachsen, wurden aber nie mehr so flauschig wie zuvor.

Gerda nahm ihren harten Arbeitsalltag wieder auf. Es war alles wie zuvor. Nur wenn jemand in der Küche das Radio anstellte, schaltete sie es sofort aus. Das Radio aus ihrem Zimmer schenkte sie Elmar. Musik hören schmerzte sie mehr als alles andere. Wenn sie im Café einen Mann traf, fragte sie nicht, wie er heiße, und wenn er es ihr trotzdem sagte, hörte sie nicht hin. Es gab nur einen Namen, den sie hören wollte.

Eines Morgens, in einer Pause bei der Zubereitung der Grundzutaten, ging sie hinaus, um hinter dem Haus eine Zigarette zu rauchen, in der Hand den Kochlöffel, den sie zurückzulegen vergessen hatte. Da stand Hannes Staggl, der auf sie gewartet hatte. Er war dicker geworden, seine roten Haare von grauen Strähnen durchzogen, und seine Augenlider sahen immer mehr wie die von einem Salamander aus. So stand er da im Hof von Frau Mayer wie ein verkehrtes Einzelbild in einem Film.

»Figg lai mit mir, Gerda«, sagte er zu ihr. Fick nur mit mir. »Der Kerl hat dich verlassen, weil er dich nicht geliebt hat. Aber ich bin noch da, und wenn du Ja sagst, bin ich bereit, dir alles zu bezahlen. Fick nur noch mit mir, jetzt und in Zukunft, und dir und Eva wird es an nichts fehlen.«

Gerda zielte und schleuderte dem Vater ihrer Tochter den Kochlöffel ins Gesicht. Sie traf ihn seitlich am Auge. Und dabei konnte sich Hannes Staggl noch glücklich schätzen, denn zehn Minuten vorher war Gerda noch damit beschäftigt gewesen, mit einem Hackebeil eine Rinderschulter zu entbeinen.

Wochenlang lief er mit einem geschwollenen und blauen Auge, das er nur halb öffnen konnte, herum wie ein Boxer, für den es an der Zeit wäre, seine Handschuhe an den Nagel zu hängen. Seiner Frau erzählte er, er habe sich gestoßen, als er die Wagentür öffnen wollte. Seinen Mercedes hatte er endlich verkauft, und an die Türen des Lancias habe er sich noch nicht gewöhnt, sagte er.

Als sie das möblierte Zimmer betrat, wo sie außerhalb der Saison wohnte, fand Gerda Dutzende von Briefen vor. Allein schon bei der Berührung überkam sie die Verzweiflung. Ohne sie zu öffnen, warf sie alle in die Brennkammer im Küchenherd. Viele davon waren an Eva adressiert, doch auch die warf sie fort, als wären sie eine ungenießbare Salami mit zu viel Peperoni drin.

Wenn Eva einen milchkaffeefarbenen (aber auch hellgrauen, gelblichen oder schwarzen) Fiat 130 die Kehren zu ihrem Hof hinaufklettern sah, erstarrten ihre Beine, als hätten sie Wurzeln geschlagen, ihr Atem stockte und ihr Mund wurde trocken. Wenn Kürbisse zu Kutschen werden konnten und in manchen Fröschen verzauberte Prinzen steckten, warum sollte dann nicht plötzlich Vito auf dem Platz auftauchen?

Nein, es war sinnlos. Es funktionierte einfach nicht mehr. Sie war jetzt schon elf, und sosehr sie sich auch bemühte, an Märchen glaubte sie nicht mehr.

Das Einzige, was sie tun konnte, war, mit Ulli oben auf dem Nanga Parbat zu sitzen und so selten wie möglich in die Ebene zum Rest der Menschheit hinabzusteigen. Auf achttausend Metern war es kalt, und man bekam kaum Luft, doch zumindest thronte man über den Niederungen von Sehnsucht und Verzweiflung.

Ganz plötzlich, fast von einem auf den anderen Tag, begann sich Ullis Stimme zu verändern. Sein kindlicher Sopran wurde zunächst zu einem unschönen Krächzen, um dann, nach einigen Jahren, die Klangfülle eines Tenors anzunehmen. Doch auch weiterhin zeigte er kein Interesse an der Gesellschaft von Mädchen mit Ausnahme von Eva. Morgens erwachte er nach von seltsamen Tieren bevölkerten Träumen mit klebriger Schamgegend.

Eva war vielleicht vierzehn, als sie die männlichen Blicke zu spüren begann, die auf sie gerichtet waren. Eines Tages lief sie mit Gerda durch die Hauptstraße ihres Städtchens, als sie hörte, dass eine Gruppe Jugendlicher ihnen nachpfiff. Gerda drehte sich nicht um, überzeugt, dass diese bewundernden Pfiffe wie immer, seit sie zur Frau geworden war, nur ihr gelten konnten. Als Eva sich umdrehte und den erregten, ein wenig ängstlichen Blick eines der Jungen bemerkte, wurde ihr klar, dass sie in Wahrheit ihr nachschauten, ihr mit ihren langen, nackten Beinen, die unter dem Minirock hervorschauten, ihren bereits stark entwickelten Brüsten, die ihre Bluse mit den Schmetterlingen darauf wölbten. Sie schaute zu ihrer Mutter, die nicht auf die lästigen Komplimente eingehen wollte und mit durchgedrücktem Rücken und verkniffenem Mund neben ihr herging. Eva öffnete die Lippen, um sie über die Situation aufzuklären, besann sich dann aber, und ein wenig verlegen, innerlich jubelnd und mit einem vagen Gefühl des Verrats hielt sie den Mund.

Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
cover.html
ePub-978-3-641-05926-2.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-1.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-2.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-3.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-4.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-5.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-6.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-7.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-8.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-9.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-10.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-11.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-12.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-13.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-14.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-15.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-16.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-17.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-18.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-19.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-20.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-21.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-22.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-23.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-24.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-25.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-26.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-27.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-28.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-29.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-30.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-31.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-32.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-33.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-34.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-35.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-36.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-37.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-38.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-39.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-40.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-41.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-42.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-43.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-44.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-45.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-46.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-47.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-48.xhtml
ePub-978-3-641-05926-2-49.xhtml