Km 230–295
Eine Viertelstunde zu Fuß von meiner Wohnung entfernt, über einen kurzen, steilen Pfad, der vom mittelalterlichen Zentrum des Städtchens hinaufführt, erreicht man ein weites Hochplateau, auf dem Mais und Kartoffeln angebaut werden. Inmitten der Felder steht dort eine kleine Kapelle. Von hier aus betrachtet, treten die Hänge unseres Tales auseinander, der Himmel weitet sich. Die Bank vor der Schmalseite der kleinen Kirche ist ein beliebter Platz, wo die Menschen den Sonnenuntergang und den Blick auf die Gletscher genießen.
Als ich noch klein war, spazierte auch meine Mutter, wenn sie mich besuchte, mit mir hinauf zu dieser Bank. Ich wagte es nicht, ihr zu sagen, dass ich die kostbare Zeit mit ihr lieber anders verbracht hätte, etwa bei dem Weiher jenseits der Felder, wo wir die gefräßig schnappenden Gänse mit trockenen Brotstückchen gefüttert hätten, oder zwischen den Hecken längs des Pfades, um dort Himbeeren zu pflücken, massenweise Himbeeren, bis Hände und Gesicht rot beschmiert gewesen wären, genug, um auch noch ein volles Glas mit nach Hause zu nehmen. Nein, ich verlor kein Wort über solche Wünsche, sondern stapfte brav, mich an ihrer Hand festhaltend, auf meinen kurzen Beinen hinter ihr her. Manchmal spürte ich, wie zerstreut sie meine Hand hielt, und wusste, dass sie in Gedanken nicht bei mir war – aber immerhin spürte ich sie, diese Hand meiner Mutter, die meine Finger umschloss.
Erst vor einigen Monaten, nach der Rückkehr von einem Wochenende in Paris, ist mir richtig klar geworden, wohin sie mich da immer geführt hat. Unzählige Male habe ich, auch als erwachsene Frau, auf dieser Bank gesessen und den Blick schweifen lassen, habe die Kapelle betreten und mir das Fresko angeschaut, das die kleine Apsis ziert. Dort sieht man Maria, die, den Blick ins Leere gerichtet, mit dem Fuß ausholt und im Begriff ist, ein Hündchen zu treten, das sich auf die Hinterbeine gestellt hat, um sie freudig zu begrüßen. Das Schild, das der Fremdenverkehrsverein schon vor ein paar Jahren vor der Kapelle aufstellen ließ, beachtete ich nie. Aus irgendeinem Grund aber las ich es an jenem Tag. Und da wurde mir klar, dass meine Mutter sie schon immer gekannt haben musste, die Geschichte dieser Kapelle, so wie sie seit Kindertagen auch diese andere Geschichte kannte, von der bärtigen Heiligen, die in der Kirche bei den Höfen, wo ich aufgewachsen bin, dargestellt ist.
Errichtet wurde die Kapelle von einem Adligen aus der Gegend, der als junger Mann ein ausschweifendes Leben führte. Nachdem er geheiratet und zu einem ehrbaren Leben zurückgefunden hatte, erhielt er eine nachträgliche Bestrafung durch die Geburt eines Sohnes mit dem Körper eines Hundes (das Schild stellt den direkten Zusammenhang zwischen dem früheren Lotterleben und der Zeugung dieser Missgeburt als Tatsache dar: »Und deshalb wurde ihm ein Ungeheuer geboren …«). Da legte der Edelmann ein Gelübde ab und versprach der Jungfrau Maria, ihr zu Ehren eine Kapelle zu erbauen, wenn sie ihm die Gnade erweise, sein Kind sterben zu lassen. Wie sich aus der Darstellung des armen Hündchens und einer Madonna, die es durch einen Fußtritt vertreibt, schließen lässt, wurden die Gebete des unglücklichen Vaters erhört. In der Tat heißt es in einer Inschrift auf Hochdeutsch über dem Altar: ZUM LOBE GOTTES UND CHRISTLICHEN EINGEDENKENS WURDE DIESE KAPELLE ERRICHTET, AD 1682. Als ich das las, dachte ich: Nein, meine Mutter hätte das niemals getan. Auch wenn sie das Geld besessen hätte, um der Madonna eine ganze Kapelle zu stiften, hätte sie niemals gebetet, dass ich sterben möge.
Meine Mutter hat mir nie gesagt, dass meine Geburt ihr Leben über den Haufen geworfen hat. Ganz im Gegenteil. Als ich noch ein Kind war, klammerte sie sich an mich wie an ein winziges Floß im offenen Meer. Und darauf war ich stolz und wünschte mir, dass es mir gelingen möge, sie in Sicherheit zu bringen, hinaus aus den Stürmen ihres Lebens. Aber gerettet habe ich niemanden, weder sie noch mich.
Als junge erwachsene Frau habe ich versucht, meiner Unfähigkeit, sie glücklich zu machen, zu entfliehen. Ich erinnere mich, dass ich genau an dem Tag, als Ulli beerdigt wurde, beschloss, für immer fortzugehen, unsere leuchtenden Berge hinter mir zu lassen, die nach Heu duftende Luft, die Blütenpracht an den Balkonen. Plötzlich kam mir diese ganze Schönheit wie eine brutale Farce vor, welche die Engherzigkeit der Menschen, an der Ulli zugrunde gegangen war, nicht zu bemänteln vermochte. Ich konnte es mir erlauben. Ich war fünfundzwanzig, kinderlos (nicht schwanger zu werden, darauf habe ich mein ganzes Leben lang immer streng geachtet), arbeitete bereits seit einigen Jahren und hatte etwas Geld zur Seite gelegt. Ich dachte daran, nach Australien zu gehen und mir dort eine Stelle zu suchen. Fort, fort aus Südtirol/Alto Adige mit seiner zwanghaften Selbstbespiegelung und hinein in ein neues Leben, das ein völliger Gegensatz dazu sein sollte!
Als ich meiner Mutter von diesen Plänen erzählte, meinte sie nur:
»Ich wollte schon immer mal die Kängurus sehen. Jetzt werde ich endlich Gelegenheit dazu haben.« Mehr war dazu nicht aus ihr herauszubekommen.
Nach Australien gezogen bin ich dann doch nicht. Ich bin eben, trotz allem, ein »Dableiber«.
Ausgestreckt auf der Liegewagenpritsche, gewiegt vom fahrenden Zug, finde ich keinen Schlaf. Stattdessen nur Traumfetzen. Die Poebene, die draußen vor dem Fenster vorbeischießt, dringt zu mir ein – durch die Waggonwand, die Zudecke mit dem Emblem der italienischen Eisenbahn, meine Haut – und ergreift Besitz von mir, lässt meine Gedanken so flach werden wie die Landschaft draußen. Das darf doch nicht wahr sein: Jedes Mal, wenn mein Bewusstsein kurz davor ist, sich ganz zu verlieren und sich dem Schlaf zu ergeben, bricht das Rattern eines Zuges ein, der uns in voller Fahrt entgegenbraust. Ein mechanisches, geradliniges, nachtaktives Ich, das mich aus dem Halbschlaf hochfahren lässt.
Nachdem ich wieder einmal auf diese Weise aufgeschreckt worden bin, richte ich mich, auf die Ellbogen gestützt, ein wenig auf und blicke hinaus. Wir halten an einem kleinen verlassenen Bahnhof. Das blaue Schild mit den weißen Buchstaben verrät: POGGIO RUSCO, ein Name, der nach bäuerlichem Leben klingt, nach Traktoren, Salamis, Wurstwaren nach Hausmacherart ohne Konservierungsmittel. Fast eine halbe Stunde bleiben wir dort stehen. Keine Ahnung, wieso. Der orangefarbene Lichtkegel der hohen Laternen wirkt gallertartig, so gesättigt ist die Luft der Poebene von den Säften der Scholle.
Ich versuche ein Fenster zu öffnen, aber es ist verriegelt. Wenn ich jetzt den Liegewagenschaffner riefe, von einem Abteil zum anderen, auf diese intime, fast ehelich vertraute Weise, so würde er mit vom Schlaf geschwollenen Augen herbeieilen, er würde in dem Versuch, seine von meinem unverhofften nächtlichen Anliegen erzeugte Erregung zu überspielen, mit einem verstellbaren Schraubenschlüssel die Verriegelung lösen, mich dabei beobachten, wie ich diese schwere, nach Dünger und frisch gepflügten Feldern riechende Feuchtigkeit tief einatme, und mich fragen: »Warum schlaft Ihr nicht?« Und ich müsste ihm erklären, dass ich generell unter Schlaflosigkeit leide, aber besonders heute, da ich im Zug ganz Italien der Länge nach durchquere, um an Vitos Krankenbett zu eilen.
Vito. Warum hat er mich angerufen und nicht meine Mutter, seine verlorene Liebe, während ich nur ein kleines Mädchen war, als er mich das letzte Mal sah.
»Ich habe immer an dich gedacht«, hat er mit dieser angestrengten Stimme am Telefon gesagt. Was meint er mit »immer«? Unaufhörlich oder immer mal wieder?
Ich strecke mich wieder auf der Liege aus, und als sei dies das geheime Signal, auf das er nur gewartet hat, setzt sich der Zug in Bewegung.