1973
Odontometer, Pinzette, Lupe. Silvius Magnago saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch und studierte die Zähnung einer Briefmarke.
Er war nie ein großer Reisender gewesen. Der entfernteste Ort, an den er jemals gelangte, war die endlose Ebene von Nikopol in der Ukraine, wo er sein linkes Bein zurückgelassen hatte. Nach Wien war er häufig gereist, ebenso in verschiedene europäische Hauptstädte. Aber vor allem war er zwischen Bozen und Rom hin und her gependelt und hatte auf diese Weise mehr Kilometer zurückgelegt als bei einer Weltumrundung. Doch zu reisen, um etwas von der Welt zu sehen, war nie seine Sache gewesen. Seine Art, die Welt zu erkunden, bestand darin, Briefmarken aus aller Herren Länder zu sammeln. Und er empfand es als Wohltat, nun nach so vielen Jahren endlich etwas Zeit dafür zu finden.
Mit der Verabschiedung des sogenannten Pakets hatten die Attentate ein Ende genommen, es gab keine Sprengsätze und keine Todesopfer mehr. Drei Jahre später, vor wenigen Monaten also, waren die Gesetze in Kraft getreten. Und nun galt es, die Durchführungsbestimmungen der einzelnen Maßnahmen zu beschließen. Bei den Steuern, im Schulwesen, im Verkehrswesen, beim Wohnungsbau: In jedem Bereich musste die Verwaltungsautonomie praktisch umgesetzt werden. Eine langwierige, bürokratische Arbeit. Doch die Suche nach konkreten, detaillierten Lösungen war immer schon eine von Magnagos Stärken gewesen, und diese gewaltige Aufgabe, der er sich nun in Zusammenarbeit mit Kommissionen unter der Leitung von ihm geschätzter Kollegen wie des Christdemokraten Berloffa verschrieben hatte, schreckte ihn nicht. Worauf es hier ankam, waren Detailgenauigkeit, Akribie und Sachverstand – Eigenschaften, die ihm als Briefmarkensammler nicht fremd waren.
Auch die Stimmung in seiner Heimat war gut. Der Tourismus brachte Südtirol einen Wohlstand, den sich nur zehn Jahre zuvor niemand auch nur entfernt hätte vorstellen können. Bei den letzten Wahlen war seine Partei für die Bewältigung ihrer historischen Aufgabe von der Wählerschaft mit einer Zweidrittel-mehrheit belohnt worden. Und vor allem genoss er es, nachts nicht mehr von Anrufen aus dem Schlaf gerissen zu werden, in denen man ihn darüber informierte, dass ein Soldat in Stücke gesprengt oder ein junger Bursche bei einer Straßensperre von der Polizei erschossen worden war.
Je älter er wurde, desto häufiger hielt sein unsichtbares Bein, das in Nikopol zurückgeblieben war, Zwiesprache mit dem restlichen Körper in der Geheimsprache des Schmerzes, die er mit niemandem teilen konnte, noch nicht einmal mit seiner Frau Sofia. Die dramatischen, aufregenden Jahre mit dem langen Weg von der Massenkundgebung vor der Burgruine Sigmundskron bis zu den Vereinbarungen mit der Regierung in Rom waren zu Ende, sodass er sich nun endlich, hin und wieder wenigstens, seinen geliebten Briefmarken widmen konnte. Dennoch war er beunruhigt, wenn er die politische Entwicklung in dem Land beobachtete, dem anzugehören seine Heimat mit der Verabschiedung des Pakets zugestimmt hatte. Zu vertraut kam ihm vor, was da geschah, wie eine Melodie, die er zu oft gehört hatte. Doch war sie damals nur von wenigen und in einem abgelegenen Landstrich wie Südtirol gepfiffen worden, wurde sie nun von einem kompletten Orchester in ganz Italien gespielt.
Bomben. Blutbäder. Anschläge. Terroristen. Straßensperren. Umsturzpläne. Vertuschungen. Gerüchte zu Verwicklungen von Geheimdienstmitarbeitern in obskure Machenschaften. Und vor allem Tote. Zu viele Tote. Auf den Straßen, in Banken, auf Polizeirevieren, wo Verhöre tödlich endeten, auf überfüllten Plätzen. Es war alles andere als eine heitere Melodie, die da durchs Land zog.
Vor einiger Zeit hatte er mit seiner Frau im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Tornados und Taifune gesehen. Dabei war ihm der Gedanke gekommen, dass Südtirol Gegenden inmitten des weiten Ozeans ähnelte, aus deren Schoß die Hurrikane kamen. Winzig kleine Tiefdruckgebiete am Rande des Weltgeschehens, die kaum auf den Radarschirmen der Beobachtungsstationen auftauchten, in denen aber die Luft wirbelte, das Wasser schäumte und die Wolken kondensierten, bis sich das, was als kleine Windhose entstand, zu einem Hurrikan ausgewachsen hatte, der über die Küsten der Kontinente hinwegfegte.
Ja, so war es. Die Donnerschläge, Gewitter und Stürme, die seine Heimat in den Jahren zwischen 1957 und 1969 erschüttert hatten, waren aus diesem Blickwinkel betrachtet nur das Vorgeplänkel für etwas viel Größeres und Weitreichenderes gewesen. Für etwas, dessen Generalprobe – Magnago erschrak selbst, als er diesen Gedanken nur dachte – hier in Südtirol stattgefunden hatte, für etwas, was bei ihnen in Südtirol erlernt worden war.
Magnago war vielleicht der einzige Politiker in Italien, der sozusagen einen Doppelstatus besaß. Die Terroristen und radikalsten Splittergruppen sahen in ihm einen Politkarrieristen, der seine Ideale verraten und sich der Staatsräson unterworfen hatte, und in der italienischen Innenpolitik warf man ihm zu großes Verständnis für die Terroristen vor. So war er eigentlich in einer idealen Lage, um die Dinge von beiden Seiten zu betrachten. Durch die Ereignisse in Südtirol war er, was Attentate anging, mittlerweile so feinfühlig wie ein Wünschelrutengänger. Überdeutlich erkannte er, dass diese Anschläge gerade denen gelegen kamen, gegen die sie eigentlich gerichtet waren. Und viele Vorfälle der letzten zwölf Jahre waren nur zu verstehen, wenn man davon ausging, dass irgendwer, irgendwelche irregeleiteten Vertreter oder Gruppierungen des politischen Lebens in Italien an einem Eigentor interessiert waren, um die harte Reaktion des Staates zu rechtfertigen. Dies waren Zusammenhänge, die Magnago natürlich niemals würde beweisen können. Und ebenso wenig hätte er solche Vermutungen während der sensiblen Verhandlungen, die er über Jahre mit verschiedenen Regierungen in Rom führte, seinen italienischen Gesprächspartnern gegenüber ansprechen können. Das hätte man sich wohl entschieden verbeten. Nur ein einziges Mal, zu Ende einer wie immer freundschaftlichen Unterredung mit Aldo Moro, hatte er diesbezüglich einen Satz fallen lassen, nur um zu sehen, welche Reaktion er hervorrufen würde, darauf gefasst, ihn sogleich wieder zurückzunehmen.
»Man könnte fast glauben«, hatte Magnago zu Moro gesagt, »manche Leute seien daran interessiert, Italien keine echte Demokratie werden zu lassen.«
Der Christdemokrat, dessen Stimme normalerweise schon so tief und heiser klang, dass man ihn nur schwer verstand, hatte geschwiegen, seinen Blick aber, der verständnisvoll war, eindringlich, erschöpft, auf Magnago gerichtet und dann die Augen zu einer kaum wahrnehmbaren, aber unmissverständlichen Geste der Zustimmung halb geschlossen. Seitdem wusste Magnago, dass er recht hatte: Es gab einen gezielten Plan, die italienische Demokratie zu destabilisieren. Und in bestimmten Kreisen war dies bekannt. Doch ebenso wenig wie die körperlichen Schmerzen, mit denen er seit 1943 lebte, konnte Magnago diese Gewissheit mit jemandem teilen – sein einziger Beweis war Moros Niederschlagen der Lider.
Aber es lohnte sich nicht, seine Zeit mit Dingen zu vergeuden, die man nicht einmal besprechen, geschweige denn ändern konnte. Mit der konkreten Umsetzung der Südtiroler Autonomie lagen genug dringende, schwer zu lösende Probleme auf dem Tisch. Seit sich das Verhältnis zum italienischen Staat zu normalisieren begonnen hatte, sah Magnago in erster Linie ein anderes Phänomen, das auf lange Sicht die Identität seiner Heimat bedrohte. Eines, das destabilisierender, umwälzender und gefährlicher als alles andere war: Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen.
Gewiss, auch er selbst war aus einer Mischehe hervorgegangen. Aber seine Eltern hatten geheiratet, als ganz Tirol noch ungeteilt zu Österreich gehörte. Zu einer Zeit, als es noch nicht geboten war, die Traditionen der Heimat vor einer Assimilierung zu schützen.
Diese Zeiten waren lange vorbei, und nun war es von enormer Wichtigkeit, die Volksgruppen in Südtirol genau zu erfassen, zu zählen und gegeneinander abzugrenzen. Vor allem für den Bereich von Schulen sowie Kultur- und Sprachinstituten, denn nur durch eine deutliche Abgrenzung von italienischen Einflüssen waren die Kultur und die Sprache Südtirols wirksam zu schützen. Eine klare Grenzziehung zwischen den Volksgruppen – nur auf diese Weise war nach all den Tumulten der Friede im Land zu erhalten.
Es war wie beim Briefmarkensammeln. Die berühmte Sachsen-Dreier oder die Schwarze Einser* hatten ihren Platz im Album historischer Briefmarken und nicht in dem für ›Tiere aus aller Welt‹, ›Unterkategorie Vögel‹. Ordnen, Katalogisieren: Südtirol brauchte die Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers. Vermischungen und Überschneidungen zwischen den Gemeinschaften hätten nur erneut zu Gewalt und Chaos geführt.
* Von den Königreichen Sachsen und Bayern 1850 beziehungsweise 1849 herausgegeben.
Die Zähnung der Briefmarke war ebenso wie die Gummierung gut erhalten. Mit einem zufriedenen Seufzer steckte Magnago sie an den richtigen Platz ins Album. Für eine öffentliche Erklärung war die Zeit noch nicht reif, doch stand fest, dass sich zu diesem Thema der nächste Kampf anbahnte, den der Vater der Autonomie mit seiner ganzen Autorität führen würde. Und bald schon würde er es klar und deutlich verkünden: Mischehen zwischen Italienern und Deutschen waren der Anfang vom Ende Südtirols.
Der Tenente Colonnello, der Vito den entsprechenden Passus der Dienstordnung vorlas, war einige Jahre älter als er selbst, sah aber jünger aus, und seine unschuldig dreinblickenden, hellblauen Augen machten es schwierig, ihn sich mit der Waffe in der Hand im Einsatz bei einer Razzia irgendwo im Gebirge vorzustellen. Und in der Tat hatte er noch nie an einer solchen Aktion teilgenommen, war er doch gerade erst, als das Schlimmste schon überstanden war, nach Südtirol versetzt worden.
Er hatte Vito in sein Büro bestellt und ihn mit der formellen Höflichkeit der Turiner oder auch schüchterner Menschen in höheren Positionen empfangen: Er war beides. Um die Verordnung wörtlich wiederzugeben, hatte er sich eigens eine Kopie besorgt. Nicht weil er glaubte, der Brigadiere würde den Inhalt nicht kennen, sondern weil dieser Unteroffizier von allen geschätzt wurde, war es ihm wichtig, ihn respektvoll zu behandeln. Außerdem war die Angelegenheit reichlich delikat und berührte die Privatsphäre des Brigadiere. Sich an einem Stück Papier festzuhalten würde es sicher leichter machen, die Sache hinter sich zu bringen.
Er begann zu lesen:
»Umberto von Savoyen, Fürst von Piemont, Generalstatthalter des Reiches. Kraft des uns übertragenen Amtes und gemäß des königlichen Ermächtigungsgesetzes und so weiter und so weiter …, laut Beschluss des Ministerrats, auf Vorschlag des Kriegsministers und im Einverständnis mit dem Innenminister sowie dem Schatzminister verfügen und verkünden wir folgenden Erlass …«
Vito saß vor ihm, und der Offizier hatte sich zu ihm vorgelehnt, um ihm mit dem Finger die entsprechenden Zeilen des Textes, den er vorlas, zu zeigen. Er roch frisch gewaschen. Hinter ihm an der Wand ein Porträt des Staatspräsidenten Giovanni Leone mit seinem von einer dicken Hornbrille eingerahmten Nagergesicht.
»Artikel 1. Den Marescialli der drei Dienstgrade sowie den Brigadieri der königlichen Carabinieritruppe kann ohne Einschränkungen die Genehmigung zur Eheschließung erteilt werden, sofern sie neun Dienstjahre abgeschlossen und das achtundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben … Voraussetzungen, die Sie alle erfüllen«, stellte der Oberleutnant an Vito gewandt klar.
Der nickte.
»Der Artikel 2 bezieht sich auf Appuntati und bestimmte Carabinieri, betrifft Sie also nicht, ebenso wie der Artikel 6. Die Artikel 3, 4 und 5 erläutern die Zahl der für eine Kaserne zulässigen verheirateten Carabinieri. Der Artikel 7 enthält eine gute Nachricht: die verheirateten Angehörigen der königlichen Carabinieritruppe haben Anrecht auf kostenlose medizinische Versorgung durch den bei ihrer Einheit stationierten Amtsarzt …«
»Entschuldigen Sie, Colonnello, aber wieso eigentlich ›königlich‹?«
»Ja, dieses Adjektiv ist nie gestrichen worden und gilt immer noch, obwohl wir längst der Republik Italien …«
Er deutete auf das Foto der bebrillten Maus hinter ihm.
»… die Treue schwören. Es ist nun aber der Artikel 8, der …«
Er brach ab.
Sind schlechte Neuigkeiten zu verkünden, müssen schüchterne Menschen doppelten Mut aufbringen: dem anderen, aber auch sich selbst gegenüber.
»… Sie betrifft.«
Vitos Gedanken waren abgeschweift. Er dachte wieder daran, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte, als er zwei Wochen zuvor auf Urlaub zu Hause war. Sie hatte nicht lange um den heißen Brei herumgeredet.
»Entweder sie oder wir.«
Sie: Das waren Gerda und Eva. Wir: Das war sie selbst, aber auch alle Verwandten und jeder einzelne Bewohner ihrer Stadt, ja ganz Kalabriens.
»Artikel 8: Ungebührliches, öffentlich Anstoß erregendes Verhalten vonseiten Angehöriger der königlichen Carabinieritruppe führt auf Vorschlag des jeweiligen Kommandanten und nach Beschluss des Generalkommandos zum Ausscheiden des Betroffenen aus der Truppe beziehungsweise zur Ablehnung seiner freiwilligen Weiterverpflichtung.«
In einem Atemzug, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick seiner blauen Augen zu heben, las der Tenente Colonnello wie ein Schüler den Artikel vor.
»Gegeben zu Rom, am 29. März 1946. Umberto von Savoyen. De Gasperi, Brosio, Romita, Corbino. Siegelbewahrer: Togliatti.«
Mehr gab es nicht vorzulesen. Und doch richtete der Oberleutnant den Blick weiter auf das Blatt.
Entweder sie oder wir. Das hatte Mariangela Anania, geborene Mollica, zu ihrem Sohn gesagt. Und die Gesamtheit der Kalabresen, obwohl durch jahrhundertelange Fehden, Rivalitäten, Zwistigkeiten und obskure Machtinteressen entzweit, war sich darin einig, die Eheschließung Vitos mit einer ledigen Mutter zu missbilligen. Einstimmig, was man seit den Zeiten der Magna Graecia, ja, der Phönizier nicht mehr erlebt hatte. Und angesichts der erstaunlichen Geschlossenheit dieses Urteils, das seine Landsleute da verkündet hatten, die lebenden, aber auch die toten, wie seine Mutter ihm klarmachte, wenn nicht sogar künftige Generationen, was konnte ihm da solch eine Dienstordnung schon anhaben? Welches neue Hindernis konnte sie seiner Liebe zu Gerda schon in den Weg legen, das nicht bereits da war, unverrückbar und unüberwindlich wie ein auf einen Eselspfad gestürzter Felsblock?
Der Tenente Colonnello hob den Blick seiner sanften Augen.
»Schwester eines Terroristen und ledige Mutter … Wo haben Sie die bloß aufgegabelt, Brigadiere Anania?«
»Gerda hat nie etwas Unrechtes getan.«
Der Oberleutnant seufzte, nicht ärgerlich, sondern eher hilflos, sogar bedauernd.
»Sie können das sehen, wie Sie wollen, Brigadiere, aber so steht es in der Dienstordnung. Öffentlichen Anstoß erregendes, ungebührliches Verhalten. Es wäre beides erfüllt. Kein Vorgesetzter wird Ihnen jemals erlauben, diese Frau zu heiraten. Als freier Bürger können Sie das natürlich tun, aber dann werden Sie verabschiedet. Das Reglement spricht da eine klare Sprache.«
Vito hatte sein ganzes Erwachsenenleben damit zugebracht, sich an die Vorschriften der Arma dei Carabinieri zu halten. Mit Stolz, Opferbereitschaft, Korpsgeist – Einstellungen, die kein Zivilist je verstehen würde. Daher wusste er jetzt auch nichts zu erwidern. Als er das Büro seines Vorgesetzten verließ, traf er Genovese auf dem Flur.
Der Neapolitaner hatte bereits den Mund geöffnet, um irgendeinen seiner Sprüche loszuwerden. Doch als er Vitos Gesicht sah, kniff er die Lippen zusammen. Ja, so sahen Verliebte aus, wenn die Geschichte bereits einen unglücklichen Verlauf zu nehmen begann: Und Anania hatte offenbar gerade einen mächtigen Dämpfer erhalten. Langsam hob und senkte Genovese den Kopf wie jemand, der etwas bereits lange Erwartetes bestätigt findet. Dann klopfte er Vito ganz unvermittelt brüsk, aber doch fast zärtlich zweimal auf die Schulter, drehte sich um und ging davon.
Der Brigadiere blieb allein im Gang zurück.
Heiraten. Er und sie. Nichts anderes wollten sie. Aber wie sollten sie das anstellen, wenn alle Welt dagegenstand? Jedenfalls durften sie jetzt nicht den Mut verlieren. Sie liebten sich doch. Nur darauf kam es an.
Man würde ihn aus dem Dienst entlassen? Na wenn schon? Die Arma dei Carabinieri war ja nicht die ganze Welt. Sie würden es trotzdem schaffen. Gerda war Köchin, und auch er hatte einen Beruf gelernt, war diplomierter Buchhalter. Und sobald er eine Stelle fände, würde sie sich auch nicht mehr in der Hotelküche abrackern müssen, weil er dafür sorgen wollte, dass es ihr an nichts fehlte. Eva würde irgendwo in der Nähe zur Schule gehen, und sie konnten endlich alle drei zusammenleben. Er würde sie adoptieren und ihr seinen Namen geben: Eva Anania, das klang richtig gut.
Sie würden glücklich sein, alle drei, und noch mehr Kinder bekommen. Eva wäre froh, alle Mädchen freuten sich über kleine Geschwister, mit denen sie schmusen und spielen konnten. Und sie würde sie so liebhaben, dass sie gar nicht auf den Gedanken käme, eifersüchtig zu werden.
Aber seine Mutter? Nun, die brauchte einfach etwas Zeit, früher oder später würde sie ihre Meinung ändern, spätestens dann, wenn das erste Enkelkind zur Welt kam, und ihm verzeihen. Da war er sich sicher.
Vito redete in einem fort, unter der Bettdecke, mit leiser Stimme.
Gerda hörte ihm wortlos zu. Sie drängte sich an ihn, suchte ihn mit den Händen. Sie begehrte ihn, seinen Mund, wollte spüren, wie er sich in ihr bewegte, ihr ganzes Leben lang würden sie das Bett miteinander teilen, aber jetzt konnte sie es nicht erwarten.
Vito war sofort bereit, wie immer für sie. Sie eng umschlungen im Arm haltend, drehte er sie auf den Rücken, während sie sich ihm entgegenbäumte. Mein Gott, wie leicht es doch war, in sie einzudringen, wie selbstverständlich, wie unverzichtbar.
Danach schlief Vito ein.
Seinen Kopf an ihrer Brust, hielt Gerda ihn wie ein Kind im Arm. Sie blickte auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem er seine Uniform abgelegt hatte. Die Hose war exakt gefaltet, und der rote Längsstreifen hob sich genau in der Mitte von der Sitzfläche ab, während die Schultern seines Hemdes auf den Knäufen der Lehne steckten. Wie ordentlich er doch war, ihr Vito, wie zuverlässig, wie vertrauenswürdig. Ein Ehrenmann. Sie streichelte sein schwarzes Haar. Es war schon ein wenig schütterer als zu dem Zeitpunkt, als sie sich kennengelernt hatten. So häufig hatte sie seine Stirn berührt, seinen Nacken, seine Augenbrauen, dass sie, wäre sie jetzt erblindet, tastend seinen Haaransatz unter Tausenden wiedererkannt hätte. Gerda seufzte tief, während sich Vitos Kopf mit ihrem Busen hob.
Sie wusste, was zu tun war.
Als Vito aufwachte, stand sie rauchend am Fenster. Er sah sie an und bekam Angst. Ihre Stimme war verändert, ihr Gesicht, ihre Augen. Während er schlief, war Gerda in ein Danach eingetreten, das mit dem Davor nichts mehr zu tun hatte.
Sie sagte:
»Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
Sie sagte nicht: Wenn du den Dienst quittierst, bist du nicht mehr du selbst und verlierst alles, woran du glaubst. Und sie sagte auch nicht: Deine Mutter hat nur dich, dies hier ist nicht dein Zuhause, hier wärst du immer unglücklich, du würdest eingehen vor Heimweh. Und auch nicht: Sag mir, dass das alles nicht stimmt, was ich da rede, überzeug mich, lass nicht zu, dass wir uns trennen.
Stattdessen sagte sie: Ich will dich nicht heiraten. Das ist meine Entscheidung. Ich habe lange darüber nachgedacht, ich kann nicht mit dir leben, wir sind zu verschieden, das würde niemals gut gehen, und wenn wir noch Kinder bekämen, wäre Eva dir nichts mehr wert.
Sie zuckte mit den Achseln, und diese leichte Bewegung ließ sie fast zusammenbrechen. Schnell zündete sie sich eine weitere Zigarette an, obwohl die erste noch nicht aufgeraucht war.
Vito hatte sich im Bett aufgesetzt und sagte kein Wort.
Gerda stieß den Rauch aus, kraftvoll, blies ihn weit fort, als wolle sie die Berge jenseits des Fensters treffen.
Vito schwieg weiter.
Gerda rauchte die Zigarette zu Ende.
Vito hätte nie geglaubt, dass es ihm einmal so schwerfallen könnte, ihr in die Augen zu schauen.
Und Gerda begriff, dass sie das Richtige getan hatte, das Einzige, was ihnen übrig blieb, als er jetzt nicht zu ihr sagte: Nein, meine große Liebe, du Licht meines Lebens, ich liebe dich, und wir werden diese Probleme meistern, wie wir auch alle weiteren Probleme meistern werden, die uns unser gemeinsames Leben noch bringen wird, verlass mich nicht, dann werde ich dich auch nie verlassen. Stattdessen sagte er:
»Aber ich möchte es Eva sagen.«
Es war ihm wichtig, sich einzeln von allen zu verabschieden. Von Sepp, Maria, Eloise, Ulli. Er schaute auch bei dem Hof vorbei, wo Ruthi eingeheiratet hatte, und brachte eine Kleinigkeit für das Neugeborene mit. Er habe seine Versetzung beantragt, erklärte er. Zu lange schon sei er von zu Hause fort. Seine Mutter sei alt, und sie habe ja nur ihn, deshalb müsse er heimkehren. Niemand stellte Fragen. Niemand sagte: Und was ist mit Gerda? Maria umarmte ihn und gab ihm Schüttelbrot und Kaminwurze und selbst gebrannte Schnäpse aus Latschenkiefern, Himbeeren und Enzian als Geschenke für seine Mutter mit. Graukäse nicht, der wäre nicht heil in Kalabrien angekommen. Sepp hatte eine Holzkiste für ihn geschnitzt, in der er seine Andenken an Südtirol aufbewahren sollte, aber das eigentliche Souvenir war der Duft, der frei wurde, wenn man sie öffnete, der Duft von Stube und Heuboden. Ulli weinte und wollte ihn nicht loslassen. Eva war nicht da.
Sie saß oben auf dem Nanga Parbat, auf den Holzbrettern unter dem Dach, und ließ die Beine durchs Geländer baumeln. Sie blickte hinunter auf den Platz zwischen Stall und Haus, auf die Hühner, die auf dem Misthaufen herumscharrten, die Katze, die dösend in einer Ecke lag. Die ganze Zeit, während sich Vito verabschiedete, rührte sie sich nicht. Die anderen bemerkten sie erst, als sie herauskamen, um Abschiedsfotos zu machen – alle wollten ein Bild von sich mit Vito darauf, aber in der Stube war nicht genug Licht dafür.
Gerda rief, sie solle sofort herunterkommen.
Den Kopf im Nacken, die Stirn in Falten gelegt, sah Vito wortlos zu ihr hinauf.
Über die Geländer der hölzernen Balkone vor dem Heuspeicher kletterte Eva aus ihrem Versteck hinunter. Normalerweise hätte Vito sie ausgeschimpft, denn es war gefährlich, auf diesem Weg abzusteigen. Aber heute sagte er kein Wort und sah ihr nur zu, wie sie sich an der Fassade des alten Heuschobers hinabließ mit nackten Beinen, die unter dem Kleidchen hervorschauten, die Knie aufgeschürft, während ihre Strümpfe bis zu den Knöcheln hinuntergerutscht waren. Mit einem kleinen Satz landete sie vor dem Stallfenster, und Vito ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und sagte etwas zu ihr. Eva hörte nicht zu, zu sehr war sie eingenommen von dem, was ihr durch den Kopf ging: Und ich habe gedacht, er ist anders als die anderen, dabei ist er der Schlimmste von allen.