28
Maman betreffend
Nachdem der Farbenmann tot war, wartete Lucien eine Woche, um seinen Zorn etwas abkühlen zu lassen, bis er bereit war, Régine zu erzählen, dass ihr Vater kein Schürzenjäger gewesen war und sie keine Schuld am Tod ihrer Schwester Marie trug. Der Trick bestand darin, es ihr zu erzählen, ohne die ganze bizarre Geschichte von Juliette und dem Farbenmann preiszugeben. Er war seinen Pflichten in der Bäckerei treu nachgekommen, hatte seine Schwester lange schlafen lassen und sie am Tresen abgelöst, sobald er fertig gebacken hatte, was einiges zu ihrer Aufheiterung beitrug.
Es war Donnerstagmorgen gegen zehn Uhr, als der größte Andrang des Tages vorüber war und er sie ein hübsches Lied vor sich hin singen hörte, während sie die Krümel hinter dem Tresen zusammenfegte. Da beschloss er, ihr das Geheimnis anzuvertrauen, von dem er glaubte, es würde seiner Schwester die Schuldgefühle nehmen.
»Régine, Maman ist ein Flittchen«, sagte er. »Ich dachte, das solltest du wissen.«
»Wusste ich’s doch«, sagte ein alter Mann, der auf einem der hohen Hocker am Fenster saß und sich bisher so still verhalten hatte, dass er Teil des Mobiliars geworden war.
»Kümmern Sie sich einfach um Ihre eigene Angelegenheiten, Monsieur Founteneau.« Sie wandte sich derart abrupt zu Lucien um, dass sie dem Besen, wäre er ihr Tangopartner gewesen, das Genick gebrochen hätte. »Vielleicht lieber hinten«, knurrte sie.
»Oh, von hinten gefällt ihr sicher auch!«, sagte Monsieur Founteneau. »Man sieht es schon daran, wie das Flittchen damit wackelt.«
Ritterlich trat Lucien zwischen seine Schwester und den Kunden. »Monsieur, Ihr sprecht hier von meiner Mutter.«
»Gebt nicht mir die Schuld. Ihr habt davon angefangen«, sagte Monsieur Founteneau.
Régine packte Lucien beim Ärmel und zerrte ihn durch den Vorhang in die Küche. »Warum, um alles in der Welt, sagst du so was? Und dann noch vor einem Kunden?«
»Es tut mir leid. Ich wollte es dir schon so lange sagen. Ich meinte nicht, dass Maman ein Flittchen ist, ich meinte, sie ist das Flittchen.«
»Jeden Moment könnte sie die Treppe herunterkommen. Wenn sie dich umbringt, brauchst du auf meine Hilfe nicht zu zählen.«
Régine wollte ihn stehen lassen. Lucien nahm sie beim Arm und drehte sie herum. »Du sollst es erfahren, aber du darfst es nicht Maman verraten.«
»Dass sie ein Flittchen ist?«
»Dass sie die Frau war, die du vor vielen Jahren beobachtet hast, wie sie in Papas Atelier ging.«
Régine schlug seine Hand von ihrem Arm. »Lass mich in Ruhe, Lucien. Mach dich nicht lächerlich.«
»Hast du sie dir richtig ansehen können? Die Frau, die bei Papa im Atelier war?«
»Nein, das weißt du doch. Deshalb war Marie oben auf dem Dach – um durchs Oberlicht zu schauen. Aber ich weiß, dass es nicht Maman war. Sie war bei Großmutter zu Besuch.«
»Nein, war sie nicht.«
»Die Frau, die ich gesehen habe, hatte lange, rote Haare. Sie trug ein blaues Kleid, das ich nie zuvor gesehen hatte. Meinst du denn, ich würde meine eigene Mutter nicht erkennen? Warum sagst du solche Sachen, Lucien? Ich weiß über Papa und dieses Flittchen Bescheid, seit …«
»Ich habe Papas Tagebuch gefunden. Beim Aufräumen im Lager. Er beschreibt, wie Maman zu ihm ins Atelier kam. Und tagelang bei ihm blieb.«
»Aber sie hat für Kunst nichts übrig. Nie hat sie ein gutes Wort über Papas Malerei verloren. Zeig mir dieses Tagebuch.«
Lucien hatte das Ganze nicht recht durchdacht. Er hatte geglaubt, wenn er Régine erzählte, dass ihre Mutter die geheimnisvolle Frau war, wäre sie so erleichtert, dass … nun, er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass sie ihn infrage stellen würde. »Das geht nicht. Ich habe es verbrannt.«
»Warum solltest du es verbrennen?«
»Weil es kompromittierende Enthüllungen über Maman und Papa enthielt.«
»Die du mir gerade offenbart hast. Ich werde Maman danach fragen.«
»Das geht nicht. Sie kann sich nicht erinnern.«
»Selbstverständlich wird sie sich daran erinnern. Papa ist in diesem Atelier gestorben. Marie ist umgekommen, als sie in dieses Atelier hineinsehen wollte. Es wird ihr vielleicht nicht gefallen, aber sie wird sich bestimmt erinnern.«
»Nein, wird sie nicht, weil sie Opium genommen hatte. Ganz, ganz viel Opium. Papa hat davon geschrieben. Er schrieb, sie nahm Opium und kam in sein Atelier, und dann haben sie sich tagelang geliebt. Aber sie kann sich nicht daran erinnern. So, jetzt weißt du es.«
»Maman hat Opium genommen, ohne dass einer von uns es gemerkt hätte?«
»Ja. Überleg doch mal. Wie oft haben wir gesagt, Maman ist endgültig verrückt geworden? Stellt sich heraus, sie war gar nicht verrückt. Sie war drogensüchtig.«
»Und offenbar auch sexsüchtig.«
»Papa hat alles detailliert beschrieben, die widerwärtigen, abstoßenden Dinge, die sie miteinander getrieben haben. Das hast du an dem Abend gehört, als Marie aufs Dach geklettert ist. Deshalb musste ich das Tagebuch verbrennen. Um dich zu schonen, Régine. Ich habe es für dich getan.«
»Um mich zu schonen, hast du beschlossen, mich bei meiner Arbeit zu stören und mir zu enthüllen, dass unsere Mutter pervers und drogensüchtig ist und unser Vater diesen Umstand nicht nur ausgenutzt, sondern das Ganze auch noch detailliert aufgeschrieben hat? Und das soll mich schonen?«
»Weil du dich all die Jahre dafür verantwortlich gefühlt hast, diese Frau vor Maman geheim zu halten, und weil du dich für Maries Tod verantwortlich fühlst. Versteh doch: Für das alles kannst du nichts!«
»Aber jetzt, da ich die Wahrheit kenne, muss ich dieses Geheimnis vor Maman hüten?«
»Es würde ihre Gefühle verletzen.«
»Sie hat unseren Vater totgebumst.«
»Ja, aber es war doch nett gemeint. Wenn man es recht bedenkt, ist es eigentlich ganz süß.«
»Nein, ist es nicht. Es ist überhaupt nicht süß.«
»Ich glaube, nach Papas und Maries Tod war sie dermaßen schockiert, dass sie die Drogen sein ließ, und so hat sich doch im Grunde noch alles zum Besten gewendet.«
»Nein, hat es nicht.«
»Du hast recht. Wir sollten sie im Schlaf ermorden. Meinst du, Gilles würde uns mit der Leiche helfen? Immerhin ist sie ziemlich groß.«
»Lucien, du bist der schlechteste Lügner der Welt.«
»Mir liegt das Visuelle eben mehr als das Verbale. Schon allein wegen der Malerei und so.«
Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber es ist wirklich nett von dir, dass du mich trösten willst. Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwo unter deinem dicken Pelz von Dummheit hast du doch ein gutes Herz.«
»Was ist denn hier los?« Mère Lessards Stimme ertönte vom oberen Ende der Treppe.
Régine kniff Lucien in den Arm und drehte sich zu ihrer Mutter um. »Ich war gerade beim Ausfegen, da kam Lucien und hat mir erzählt, dass du Opium genommen und Papa in seinem Atelier totgebumst hast.«
Lucien zuckte zusammen, dann hechtete er durch den Vorhang in den Laden.
»Pah! Das hätte ihm so passen können«, sagte Mère Lessard.
Offensichtlich hatten Mütter und Töchter ein anderes Verhältnis zueinander als Mütter und Söhne, sonst wäre Régine jetzt wohl damit beschäftigt, sich ein Nudelholz aus ihrem derrière zu ziehen.
Na gut, wenigstens habe ich es versucht, dachte Lucien.
An diesem Abend dinierte Henri Toulouse-Lautrec im Lapin Agile, in Gesellschaft seines Freundes Oscar, eines irischen Autors, der gerade aus London eingetroffen war. Lucien und Juliette hatte Henri seit jenem Abend nicht mehr gesehen, an dem der Farbenmann zu Tode gekommen war. Seit er die Meisterwerke verbrannt hatte, ertrug er die Gesellschaft seiner Künstlerfreunde nicht mehr, und selbst den Mädchen in den Bordellen war es unmöglich, ihn von der Schuld abzulenken, die er auf sich geladen hatte, also verkroch er sich ganz allein in eine große Flasche und blieb dort, bis Oscar an die Tür seiner Wohnung auf dem Hügel klopfte und darauf bestand, dass sie eine Runde durch die Cafés und Cabarets drehten.
Oscar, ein großer, dunkelhaariger Dandy und Geschichtenerzähler, zog die Cafés den Cabarets vor, weil ihn dort alle hören konnten, wenn er mit seinem wohlgeübten Witz brillierte, ungeachtet seiner miserablen Französischkenntnisse. Noch jedoch war es nicht so weit, dass Oscar auch in Paris den Ruf als großmäuliger Prahlhans erlangt hatte, dessen er sich in der englischsprachigen Welt längst erfreute, denn während Henris erster Mahlzeit seit einer Woche lallte dieser eine phantastische Geschichte, die den Iren fesselte und in beiden Sprachen beinah sprachlos machte.
»Du willst mir doch den Arm nehmen«, sagte Oscar auf Französisch. »Keiner einer will so ein Buch saufen.«
»Dein Französisch ist unter aller Sau, Oscar«, sagte Henri um einen Bissen von blutigem Steak herum. »Und es ist alles wahr.«
»Mein Französisch ist feist und flüssig«, sagte Oscar, womit er sagen wollte, dass er fabelhaft und fließend Französisch sprach. »Selbstverständlich ist es nicht wahr. Aber das ist mir völlig Kanone. Es gäbe ein leckeres Buch. Darf ich mir Notizen machen?«
»Mehr Wein!«, rief Henri dem Barmann zu. »Ja. Schreib, schreib, schreib, Oscar! Das tut der Mensch, wenn er keine echte Kunst erschaffen kann.«
»Ich höre«, sagte Oscar. »Es lag also an den Bildern, dass der kleine Mann nie sterben musste?«
»Ja«, sagte Henri.
Und so kam es, dass Henri, während er immer betrunkener und wirrer und auch Oscar Wilde immer betrunkener und sein Französisch immer wirrer wurde, noch eine ganze Stunde lang die Mär vom Farbenmann spann und wie dieser mit Hilfe der Gemälde großer Meister dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte. Als der Abend zu Ende ging oder zumindest für Menschen hätte zu Ende gehen sollen, die noch recht bei Sinnen waren, stolperten die beiden aus dem Lapin Agile, wobei Oscar sich auf Henris Kopf und Henri sich auf seinen Gehstock stützte. An einem Lattenzaun an der Rue des Saules blieben sie stehen, als ihnen schmerzlich bewusst wurde, dass keine Droschke kommen würde und sie sich irgendwie die Stufen den Hügel hinunter zum Pigalle manövrieren mussten, um dann dort eine Droschke zu nehmen oder ihren Kneipenbummel fortzusetzen, als sie eine Frau laut rufen hörten.
»Entschuldigen Sie«, rief sie. »Verzeihung, sind Sie Monsieur Toulouse-Lautrec?«
Gegenüber, auf einer Bank, auf der Lucien auch schon mit Juliette gesessen und über Paris geblickt hatte, saß im Dunkeln eine einsame Gestalt.
Henri hielt sich an Oscars Revers fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, zerrte den Dramatiker über die Straße und beugte sich ganz nah an das Gesicht der Frau, das er nun im Mondschein und dem Licht, das aus den Fenstern des Lapin Agile fiel, erkennen konnte.
»Bonsoir, Mademoiselle«, sagte er. Er nahm den Rand seines pince-nez, und während er an Oscars Revers hing, inspizierte er schwankend das Gesicht der Frau. »Und was führt Sie an diesem Abend auf den Montmartre?«
»Ich bin gekommen, um mit Euch zu sprechen«, sagte sie. »Die Concierge in Eurem Haus sagte, ich würde Euch hier finden.«
Henri beugte sich noch einmal ganz nah heran, und – ja – er sah das Leuchten in ihren Augen, das Wiedererkennen, das Lächeln, das er so sehr vermisst hatte. Das war seine Carmen. Er ließ Oscars Revers los und fiel ihr in den Schoß.
»Oscar Wilde, ich möchte Euch Carmen Gaudin vorstellen, meine Wäscherin. Ich fürchte, Ihr werdet unseren kleinen Ausflug allein fortsetzen müssen.«
»Enchanté, Mademoiselle«, sagte Oscar mit einer angedeuteten Verbeugung über Carmens Hand, an der Henri zu lecken versuchte, als sie an seinem Gesicht vorbeikam.
»Dann will ich euch zwei eurem süßlichen Schicksal überlassen«, sagte der Ire und dachte, er hätte etwas erheblich Klügeres und Galanteres gesagt. Er stolperte die Stufen zum Pigalle hinab und landete im Moulin Rouge, wo er einen jungen Marokkaner kennen und lieben lernte, der dem Iren unter anderem beibrachte, wie man den Zuckerwürfel auf einem Glas Absinth entzündete, um die grüne Fee zu befreien.
Am nächsten Morgen wachte Oscar auf und fand in seiner Brusttasche einige Zettel mit Notizen in seiner Handschrift. Er konnte sich nicht erinnern, sie gemacht zu haben, und größtenteils waren sie völlig wirr, bis auf die wiederkehrende Idee eines Gemäldes, das einen alten, verkrüppelten Mann auf ewig lebendig hielt. Eine Idee, die er zum Thema seines nächsten Romans machen sollte, der Das Bildnis des Dorian Gray heißen würde.
Auf der Bank gegenüber vom Lapin Agile strich Carmen mit der Hand über Henris Bart und sagte: »Oh, mein süßer Graf, wie habe ich dich vermisst. Lass uns in deine Wohnung gehen oder gleich in dein Atelier.«
»Aber meine Liebe«, sagte Henri, hin- und hergerissen zwischen Freude und Ohnmacht, »ich fürchte, es könnte sein, dass ich meinen Mann nicht stehen kann.«
»Das ist mir egal. Du kannst doch malen, oder?«
»Absolut. Solange ich atmen kann, kann ich auch malen.«
In dem Monat, der auf den Tod des Farbenmannes folgte, fiel Lucien das Malen schwer, trotz der Inspiration durch Juliette, denn sie sahen sich nur jeden zweiten oder dritten Tag, und dann auch nur für ein paar Stunden. Und obwohl er gehofft hatte, sie würde zu ihm in seine kleine Wohnung auf dem Montmartre ziehen, bestand sie darauf, das Apartement im Quartier Latin zu behalten, das sie sich mit dem Farbenmann geteilt hatte.
»Aber, cher«, hatte sie gesagt, »die Miete ist für Monate im Voraus bezahlt. Es wäre die reinste Verschwendung. Und außerdem spiele ich mit dem Gedanken, die Universität zu besuchen, und die Sorbonne ist so nah.«
»Dann könnte ich doch bei dir wohnen«, hatte er vorgeschlagen, aber sobald es ausgesprochen war, wusste er, dass es nicht funktionieren würde. Bis seine Bilder sich besser verkauften, musste er morgens um vier Uhr in der Bäckerei sein. Vom Quartier Latin auf den Montmartre lief man eine Stunde, und um diese Uhrzeit fuhren noch keine Droschken. Schließlich fügte er sich und blieb nur samstagabends bei Juliette.
Er hatte ihr sogar vorgeschlagen, etwas vom letzten Sacré Bleu zusammenzumischen, das der Farbenmann hergestellt hatte, um damit die Zeit zu verschieben, damit er sie wochenlang malen und trotzdem pünktlich in der Bäckerei sein konnte, um Teig für die Brote zu kneten, doch davon wollte sie nichts wissen.
»Nein, cher, wir dürfen das Bleu nicht benutzen. Das ist alles, was davon noch übrig ist. Es wäre nicht recht.«
Sie ging nie näher darauf ein, wieso es nicht recht sein sollte, sondern lenkte ihn – wie sie es oft tat – mit ihren weiblichen Reizen von seinen Fragen ab.
Als Lucien dann also eines Nachmittags in der Bäckerei fertig war, Juliette verkündet hatte, sie sei anderweitig beschäftigt, und er Henri nirgendwo auftreiben konnte, machte er sich auf den Weg den Hügel hinab zum Maquis, um Le Professeur zu besuchen, in der Hoffnung, dass ein Mann der Wissenschaft ihm helfen würde, den Sinn des Ganzen zu erfassen.
»Mein Junge, ich bin ja so froh, dass du kommst!«, sagte der Professeur mit einer Begeisterung, die er nur selten für eine Angelegenheit zeigte, mit der andere Menschen etwas anfangen konnten. »Komm herein, komm herein! Ich wollte dich schon in der Bäckerei aufsuchen. Eben habe ich ein Telegramm von einem Kollegen bekommen, Dr. Vanderlinden aus Brüssel. Er arbeitet in einem Ort namens Pech Merle nahe Albi und hat gerade ein neues Höhlensystem mit Malereien entdeckt. Ich dachte, das solltest du vielleicht wissen.«
»Ach, das ist ja wunderbar«, sagte Lucien, der nicht verstand, wieso er das wissen musste, aber nicht unhöflich sein wollte.
»Anhand der Tierknochen, die man in der Asche der Feuerstellen gefunden hat, konnte nachgewiesen werden, dass die Höhlen von Menschen benutzt wurden, und zwar schon lange vor den anderen Höhlen, die wir erforscht haben.«
»Prächtig«, sagte Lucien, ohne eine Ahnung zu haben, wieso das prächtig sein sollte.
»Es wäre möglich, dass sie schon vor zehn- bis zwanzigtausend Jahren bewohnt waren. Wir wissen es nicht.«
»Nein?« Es fiel Lucien schwer, noch mehr Begeisterung vorzutäuschen, also täuschte er Ungläubigkeit vor.
»Ja. Und unter diesen Malereien, die älter sind als alle, die wir bisher studiert haben, finden sich Figuren, die mit blauem Pigment gezeichnet wurden.«
»Aber Ihr sagtet, das alte, blaue Pigment hielt nicht, es …«
»Genau. Morgen früh reise ich ab, um das Pigment mit jenen Farbproben zu vergleichen, die mir Toulouse-Lautrec gebracht hat.«
»Sie glauben, es könnte …«
»Ja! Willst du mitkommen? Der Zug nach Albi fährt um Punkt acht Uhr am Gare du Nord.«
»Unbedingt«, sagte Lucien. In jüngster Zeit war unter den Pariser Künstlern einiges Interesse an primitiver Kunst erwacht, doch keiner hatte bisher etwas so Altes gesehen, und offenbar hatte auch noch niemand etwas so Altes und Blaues gesehen. Und für ihn lief es in Paris nicht so richtig. Was sprach also dagegen?
»Und Monsieur Toulouse-Lautrec?«
»Henri stammt aus Albi. Gewiss wird er sich uns anschließen wollen. Ich suche ihn, und wir treffen uns um halb sieben Uhr hier.«
Doch Henri war nirgends aufzufinden, also hinterließ Lucien nur eine Nachricht für Juliette bei der Concierge in ihrem Haus.
»Möchten Sie, dass ich es ihrem Dienstmädchen gebe?«, fragte die Frau.
»Sie hat ein Dienstmädchen?«
»O ja. Seit fast einem Monat schon. Die Erste, die bei ihr bleiben will. Dieser Onkel von ihr – nun, Monsieur, die letzte Dienstmagd hat ihn erschossen, und ich will Ihnen gern anvertrauen …«
»Schon gut«, unterbrach Lucien. »Bitte geben Sie die Nachricht Juliette persönlich. Vielen Dank, Madame.«
Für Henri hinterließ Lucien eine Nachricht im Moulin Rouge, denn dort tauchte er am ehesten wieder auf, und so stieg Lucien nur mit dem Professeur in den Zug nach Albi. Am Bahnhof wurden sie von Dr. Vanderlinden in Empfang genommen, einem silberbärtigen Walross von einem Mann mit eckigem, holländischem Akzent, der seine förmliche, akademische Haltung noch verstärkte, obwohl er sich wie ein Bergsteiger in Segeltuch und Leder kleidete, die Stiefel staubig und an den Hacken abgelaufen.
Vanderlinden brachte sie in einem bescheidenen Gasthaus unter, in dem auch er Quartier genommen hatte, und am Morgen fuhren sie mehrere Meilen mit Pferd und Wagen in die Berge hinauf, dann wanderten sie zwei weitere Meilen über steile Waldwege, die für ein Pferd zu schmal gewesen wären, von einem Wagen ganz zu schweigen.
Der Eingang zur Höhle von Pech Merle war lang und niedrig, als hätte ein gigantisches Wesen den Stein mit seinen Klauen abgewetzt, um seine Beute auszugraben. Sie mussten fast zwanzig Meter auf allen vieren kriechen, bis sie in eine Kammer kamen, in der sie stehen konnten. Dr. Vanderlinden hatte sie allerdings auf das Kriechen vorbereitet: Sie trugen Handschuhe und hatten Lederpolster um die Knie gebunden.
Dem Belgier fiel das Kriechen besonders schwer, doch als sie dann in der Höhle standen und ihre Laternen heller stellten, konnte man gar nicht mehr sagen, ob seine Atemlosigkeit von der Anstrengung oder der Aufregung herrührte.
»Seht und staunt, Bastard!«
Die Höhle, in der sie standen, war mindestens sechs Meter hoch, und die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Pferden, Bisons und so etwas wie Antilopen bemalt, in Weiß und Rot und braunem Ocker. Jedes Tier war mit Punkten überzogen, die manchmal auch darüber hinausreichten. Lucien bewunderte das Geschick des Künstlers, denn trotz der rauen Oberfläche ließ sich die Andeutung einer Perspektive erkennen. Schattierungen der Pferde deuteten die Tiefe an.
»Je weiter man in die Höhlen vordringt, desto besser sind die Bilder erhalten«, sagte Vanderlinden.
»Warum gehen diese Punkte über die Umrandungen hinaus?«, fragte Lucien.
»Dazu habe ich eine Theorie«, sagte Vanderlinden. »Ich glaube nicht, dass es sich hier um Tiere im eigentlichen Sinn handelt. Sehen Sie hier und dort die menschlichen Figuren? Klein im Vergleich zu den Tieren. Keine Tiefe, nur Schatten, nicht wahr? Aber die Tiere sind allesamt voll ausgeformt.«
»Jäger?«
»Eindeutig«, sagte der Belgier. »Wir haben in dieser Höhle mehrere Feuerringe ausgegraben. Nach den verschiedenen Schichten und dem Ruß an der Decke zu urteilen, haben hier jahrtausendelang immer wieder Menschen gelebt, doch finden sich nirgendwo größere Tierknochen. Zahllose Exemplare kleinerer Tiere, wie Hasen, Murmeltiere, Dachse, selbst menschliche Knochen, meist Zähne. Diese Leute haben kein Großwild gejagt.«
»Sondern?«
»Schließen Sie die Augen«, sagte Vanderlinden.
Lucien tat wie ihm geheißen.
»Was sehen Sie?«
»Nichts. Dunkel.«
»Nein, was sehen Sie wirklich? Was sehen Sie in der Dunkelheit?«
»Kreise wie Auren, wo eben noch unsere Laternen waren. Nachbilder.«
»Genau!«, rief der Belgier und klatschte in die Hände. »Es handelt sich hier um Bilder, die im Dunkeln entstehen. Vor dem inneren Auge. Ich glaube, dass diese Leute Bilder von Tieren malten, die sie in Trance gesehen hatten. Es sind Geisterwesen, immateriell. Deshalb sind die Menschen auch nicht ganz ausgearbeitet. Diese Zeichnungen sind schamanischen Ursprungs. Religiös, wenn man so will. Sie sollen nichts berichten. Sie erzählen keine Geschichten. Sie beschwören die Götter.«
»Interessant«, sagte Professeur Bastard.
»Na, das ist ja ganz toll«, sagte Lucien. Er hatte genug davon, sich dauernd mit der Geisterwelt zu versöhnen, und sich ein wenig handfeste, empirische Wissenschaft erhofft, die man auch greifen konnte.
»Ich weiß«, sagte Vanderlinden, dem der Sarkasmus entging. »Warten Sie, bis Sie den Rest gesehen haben.«
Er führte sie weiter in die Höhle hinein, duckte sich durch niedrige Passagen, folgte an Gabelungen Kreidezeichen, die er offenbar selbst bei früheren Erkundungen hinterlassen hatte. An einer Stelle mussten sie auf dem Bauch durch eine Öffnung robben, wobei sie ihre Laternen vor sich herschoben. Der schmale Durchgang führte in einen gigantischen Saal.
»Dieser Durchgang muss jahrtausendelang blockiert gewesen sein, aber einem meiner Studenten fiel auf, dass die Steine nach oben hin immer kleiner wurden. Sie waren aufgeschichtet worden. Man hatte den Gang absichtlich verschlossen. Wie froh bin ich um junge, frische Augen! Ich selbst hätte das nie gesehen.«
Vanderlinden richtete seine Laterne auf die Wände.
»Das hier, Bastard, sind die Malereien, derentwegen ich die Nachricht geschickt habe.« Die Bilder weiter oben an der Wand glichen denen, die sie zuvor gesehen hatten, doch weiter unten wiederholte sich ein Motiv, wobei die meisten Figuren schwarz waren.
»In diesem gelben Licht können Sie nichts erkennen. Moment, lassen Sie mich die Magnesiumlampe anzünden. Diese kleine Bogenlampe, die Sie zur Verfügung gestellt haben, Bastard. Die Batterie hält nur ein paar Minuten, aber Sie werden es sehen. Sie können Proben für Ihre Analyse entnehmen.«
Vanderlinden holte eine seltsame Messinglampe aus seinem Rucksack und dann eine Batterie von der Größe einer Honigmelone, doch so, wie der Doktor damit herumhantierte, schien sie sehr schwer zu sein, und Lucien bekam ein schlechtes Gewissen, weil er dem alten Mann nicht geholfen hatte, diese Bürde zu tragen.
»Sehen Sie nicht direkt ins Licht. Es würde Sie blenden. Ich richte es auf die Wand.« Er befestigte Drähte an den Kabeln der Lampe, dann drehte er einen kleinen Knopf, was einen dünnen Magnesiumstab einer Elektrode entgegenschob. Als der Strom einen Lichtbogen beschrieb, erstrahlte die Höhle wie im grellen Sonnenschein, und Lucien sah zum ersten Mal das ganze Ausmaß dieses Saales. Er war größer als das Hauptschiff von Notre-Dame, und überall fanden sich Darstellungen von menschlichen Figuren, den unterschiedlichsten menschlichen Figuren: tanzend, kämpfend, jagend, reisend. In jedem Motiv wurden jedoch zwei Figuren immer und immer wiederholt: eine kleine, verwachsene Gestalt, kleiner als die anderen, in braunem Ocker gehalten, mit einem schwarzen Messer in der Hand, und eine große, schlanke, weibliche Gestalt in leuchtendem Ultramarin.
»Da sehen Sie es! Das Blau ist mineralisch, da bin ich mir ganz sicher«, sagte Vanderlinden. »Das Blau ist leicht abzu- bürsten, also wurde es nie angerührt. Ich habe etwas davon im Feuer getestet. Um Kupfer handelt es sich jedenfalls nicht. Vielleicht mit Ihrer Chromatographiemethode …«
Professeur Bastard hob eine Hand, um seinem Kollegen anzuzeigen, dass er innehalten sollte. »Und für wie alt halten Sie diese Bilder?«
»Es ist nur eine Theorie. Dieser Saal liegt seit Jahrtausenden trocken, aber weil wir draußen vor der künstlich errichteten Barriere einige Stalaktiten und Stalagmiten entfernen mussten und eine gewisse Vorstellung davon haben, wie lange diese brauchen, um zu wachsen, abhängig von der Menge an Mineralien, die sich in dieser Gegend im Wasser befinden, könnten diese Bilder ohne Weiteres vor vierzigtausend Jahren entstanden sein.«
Le Professeur sah Lucien an, der die Bilder betrachtete – das Gesicht des Malers war vor Schreck erstarrt.
»Sacré Bleu«, sagte er. »Das sind seine. Er lebt.«