27
Der Fall der qualmenden Schuhe
Zwei Männer mit breiten Hüten, einer sehr groß, einer nicht ganz so groß, standen bei den Droschken am östlichen Ende des Cimetière du Montparnasse und blickten zum Eingang der Katakomben auf der anderen Seite des Platzes hinüber. Einer trug eine schwarze Schiffslaterne mit einer Fresnel-Linse, die er möglichst unauffällig an seiner Seite hielt. Der größere der beiden hatte einen Leinwandköcher über seine Schulter gehängt, aus dem die Holzbeine einer Staffelei ragten. Beide trugen lange Mäntel. Sah man von den Laternen ab, machten sie sich nur insofern verdächtig, als sie bei den Droschken standen, zur Mittagszeit, ohne eine Droschke nehmen zu wollen, und zudem Rauch von den Schuhen des größeren Mannes aufstieg.
»Hey, Ihre Schuhe qualmen«, sagte ein Kutscher, der an seinem Wagen lehnte und mit düsterer Miene auf einer kalten Zigarre herumkaute. Dreimal hatte er sie schon gefragt, ob sie eine Droschke brauchten. Das war nicht der Fall. Beide lugten unter den breiten Krempen ihrer Hüte hervor und beobachteten heimlich einen kleinen Mann mit Melone, der einen Esel quer über den Platz führte.
»Das geht Sie nichts an, Monsieur«, sagte der große Mann.
»Ich glaube, er geht in die Katakomben«, sagte der kleinere. »Das könnte unser Moment sein, Henri.«
»Sind Sie beide etwa Detektive?«, fragte der Kutscher. »Denn wenn ja, sind Sie auffallend unfähig. Sie sollten mal diesen Engländer lesen, diesen Arthur Conan Doyle, wenn Sie wissen wollen, wie man so was macht. Das neue Buch heißt Das Zeichen der Vier. Sein Sherlock Holmes ist ein heller Kopf. Im Gegensatz zu Ihnen.«
»Die Katakomben?« Henri zog sein Hosenbein hoch, sodass die Aufschläge über seinen Schuhen schwebten und die schimmernden Messingknöchel zu sehen waren. »Jetzt bin ich endlich groß, da muss ich in die Katakomben. Es wird nicht eben zu meinem Vorteil sein.«
»Vielleicht könnte der Professeur ein neues Modell bauen, das mit Ironie betrieben wird«, sagte Lucien, neigte den Kopf nach hinten, sodass sich die Hutkrempe hob und sein Grinsen preisgab. Mit Hilfe der Lokomotoren konnten sie den Farbenmann schon seit über einer Woche verfolgen, ohne dass Henris mangelnde Körpergröße oder sein Hinken sie verrieten, nun jedoch schien es, als wären die Dampfstelzen ein deutlicher Nachteil.
»Uns bleibt noch etwas Zeit.« Lucien stellte die Laterne ab und kauerte zu Henris Füßen. »Wir müssen ihn vorausgehen lassen, wenn wir ihm folgen wollen. Heda, Kutscher, helft mir, seine Hosen auszuziehen!«
»Messieurs, für ein solches Ersinnen ist das hier sowohl die falsche Gegend als auch die falsche Tageszeit.«
»Erzähl ihm, dass du ein Graf bist, Henri«, sagte Lucien. »Das hilft meistens.«
Fünf Minuten später ging Toulouse-Lautrec über den Platz voraus, mit aufgerollten Hosenbeinen und dem langen Mantel auf dem Boden schleifend. Sie hatten dem Kutscher fünf Francs gegeben, damit er auf die Lokomotoren achtete, und zeigten ihm die doppelläufige Schrotflinte im Köcher, geborgt von Henris Onkel, um ihm klarzumachen, was passieren würde, falls er beschließen sollte, sich mit den Dampfstelzen aus dem Staub zu machen. Er hingegen nahm ihnen zwei Francs für eine garantiert – mehr oder weniger – vollständige Karte der Pariser Unterwelt ab.
Toulouse-Lautrec entfaltete die Karte, bis er zur siebten Ebene unter der Stadt kam, dann sah er Lucien an. »Die Gänge folgen den Straßen.«
»Ja, aber mit weniger Cafés und mehr Leichen. Und es ist dunkel.«
»Na, dann tun wir einfach so, als wären wir in London.«
Die Pariser Stadtverwaltung hatte auf den ersten paar hundert Metern der Katakomben Gaslaternen installiert und außerdem einen Mann am Eingang postiert, der fünfundzwanzig Centimes für das Vergnügen verlangte, die Gebeine der Stadt zu besichtigen.
»Ihr wisst, dass das morbider Scheiß ist, non?«, sagte der Torwächter.
»Und Sie sind Türsteher auf einem Friedhof«, sagte Lucien. »Das wissen Sie, oder?«
»Schon, aber ich geh da ja nie rein.«
»Geben Sie mir mein Wechselgeld«, sagte der Bäcker.
»Wenn Sie einem Mann mit Esel begegnen, sagen Sie ihm, ich lösche die Gaslampen bei Einbruch der Dunkelheit. Danach muss er selber sehen, wie er rauskommt. Und geben Sie mir Bescheid, falls er da unten irgendwas Zwielichtiges im Schilde führt. Er bleibt immer stundenlang, wenn er da runtergeht. Es ist makaber.«
»Ihnen ist aber schon klar, dass Sie den Leuten Geld dafür abnehmen, damit sie sich menschliche Überreste ansehen können, non?«
»Wollt ihr zwei da jetzt rein oder nicht?«
Sie stiegen die Marmorstufen hinab in breite Tunnel, an deren Wänden sich Tibiae, Fibulae, Femurn, Ulnae, Radii und Schädel stapelten. Als sie zu dem Eisentor mit dem Schild FÜR BESUCHER BETRETEN VERBOTEN kamen, ging Lucien in die Knie, um die Signallaterne anzuzünden.
»Da gehen wir rein?«, fragte Henri mit starrem Blick in das endlose Schwarz jenseits der Gitterstäbe.
»Ja«, sagte Lucien.
Henri hielt die Karte des Kutschers vor die letzte Gaslampe. »Einige dieser Kammern sind riesig. Sicher wird der Farbenmann unsere Laterne sehen. Wenn er merkt, dass ihm jemand folgt, wird er uns nie und nimmer zu den Bildern führen.«
»Deshalb die Signallaterne. Wir schließen sie so weit, dass sie nur direkt vor unsere Füße leuchtet, damit wir nicht stolpern. Wir richten sie auf den Boden.« Lucien hielt ein Streichholz an den Docht, und als dieser brannte, regulierte er die Flamme so, dass sie kaum zu sehen war.
»Und woher wissen wir, wohin er geht?«
»Ich weiß es nicht, Henri. Wir halten nach seiner Laterne Ausschau. Vielleicht gibt der Esel einen Laut. Was weiß ich denn?«
»Du bist doch der Experte. Der Rattenfänger.«
»Ich bin kein Experte. Ich war damals sieben Jahre alt gewesen und habe mich gerade so weit in die Mine gewagt, dass ich meine Fallen aufstellen konnte, weiter nicht.«
»Und doch hast du Berthe Morisot nackt und blau gesehen. Wenn du kein Experte bist, so hast du doch unverschämtes Glück.«
Lucien nahm die Laterne und schob das Tor auf. »Vielleicht sollten wir lieber den Mund halten. Geräusche übertragen sich hier unten sehr weit.«
Der Durchgang, in dem sich das Eisentor befand, war niedriger als der Rest des Gewölbes, und Lucien musste sich bücken, um hindurchzupassen. Henri spazierte geradewegs hinein, bis die Staffelei, die er auf seinem Rücken trug, am Durchgang hängen blieb und ihn beinah von den Beinen riss.
»Vielleicht sollten wir die Staffelei hierlassen und nur die Flinte mitnehmen.«
»Gute Idee«, sagte Henri. Er zog die Flinte aus dem Leinwandköcher, dann stellte er die Tasche und die Staffelei neben das Tor ins Dunkel.
»Mit offenem Verschluss«, sagte Lucien, weil er fürchtete, wenn Henri stolperte, könnte die Waffe losgehen und sie den Kopf oder ein anderes lieb gewonnenes Körperteil kosten.
Henri entriegelte den Verschluss des Schrotgewehrs und legte zwei Patronen ein, die er in der Tasche gehabt hatte, dann hielt er inne.
Lucien ließ den haarfeinen Lichtstrahl über das Gesicht seines Freundes gleiten. »Was?«
»Wir gehen in diesen Tunnel, um einen Menschen zu töten.«
Lucien hatte versucht, nicht an die konkrete Tat zu denken. Er hatte versucht, die Gewalt abstrakt zu halten, sie zu idealisieren, als gute Tat, so wie sein Vater ihn dabei unterstützt hatte, die Ratten zu töten, wenn er als kleiner Junge notleidende Nager zappelnd in seiner Falle gefunden hatte. »Es ist ein Gnadenakt, Lucien. Es geschieht, um die Pariser vor dem Hungertod zu retten, Lucien. Es geschieht, um Frankreich vor der Tyrannei der Preußen zu schützen, Lucien.« Und einmal, als Père Lessard ein zweites Glas Wein zum Mittag getrunken hatte: »Es ist nur eine beschissene Ratte, Lucien. Sie ist ekelhaft, und wir machen sie schmackhaft. Jetzt schlag sie mit dem Knüppel tot, wir können Pasteten zubereiten.«
Lucien sagte: »Er hat Vincent ermordet, er hat Manet ermordet, er hält Juliette wie eine Sklavin: Er ist eine beschissene Ratte, Henri. Er ist ekelhaft, und wir machen ihn schmackhaft.«
»Bitte?«
»Schschscht. Guck mal, da ist ein Licht.«
Nach nur einer Minute jenseits der Gaslampen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. In der Ferne sahen sie ein kleines Licht tanzen wie eine Motte am Fenster. Lucien hielt die Laterne so, dass Henri den Zeigefinger erkennen konnte, den sich sein Freund an die Lippen hielt, dann gab er ihm Zeichen, dass sie weitergehen sollten. Er richtete das Licht auf den Boden, sodass nicht einmal ihre Füße Schatten warfen. So folgten sie der Flamme in der Ferne. Henri watschelte regelrecht, um die schweren Schritte seines Hinkens zu dämpfen und den Umstand auszugleichen, dass er seinen Gehstock nicht dabeihatte.
Bisweilen verschwand die Flamme und ihnen blieb nur, irgendwo im Dunkeln einen kleinen Fleck zu suchen. Henri erinnerte sich, wie er als kleiner Junge abends die Augen geschlossen hatte und dann hinter seinen Lidern Bilder sah, die sich bewegten wie Gespenster. Keine Nachbilder, keine Erinnerungen, sondern etwas, das er tatsächlich in der absoluten Finsternis von Nacht und Kindheit sah.
Während sie leise über den glatten, staubigen Boden schlichen, fielen ihm diese Bilder wieder ein. Er erinnerte sich an das elektrisierende Blau, welches das Schwarz durchzüngelte, und manchmal kam ein Gesicht auf ihn zu, keine eingebildete Spukgestalt, nichts, was er heraufbeschworen hatte, sondern eine reale Figur aus Blau und Finsternis, die ihn in der endlosen Leere des Nichts attackierte. Da hatte er dann aufgeschrien. Damals – so viel wurde ihm nun in den Katakomben klar – hatte er das Sacré Bleu zum ersten Mal gesehen. Weder auf einem Gemälde noch in einem Kirchenfenster oder als Schal einer Rothaarigen, sondern als etwas, das im Dunkeln über ihn herfiel. Und da wurde ihm bewusst, warum er den Farbenmann töten würde. Nicht, weil er böse oder grausam war oder weil er sich eine schöne Muse als Sklavin hielt, sondern weil er Henri Angst einjagte. Er wusste, dass er dem Albtraum ein Ende machen konnte und würde.
»Kannst du uns mit Hilfe der Karte hier herausführen?«, flüsterte Lucien, dessen Lippen beinah Henris Ohr berührten.
»Vielleicht, wenn wir die Laterne heller drehen«, wisperte Henri zurück. »Angeblich sind die Gänge nach den Straßen über uns ausgerichtet.«
Das Licht des Farbenmannes hörte kurz auf zu hüpfen, und Lucien griff hinter sich, um Henri aufzuhalten. Er schloss die kleine Klappe der Laterne. Der Esel schrie, und angesichts des Echos wurde ihnen klar, dass sie das Licht des Farbenmannes nicht in einem langen Tunnel sahen, sondern unter einem riesigen, offenen Gewölbe. Ganz vorsichtig, ganz langsam verriegelte Henri den Verschluss des Schrotgewehrs, dämpfte das Geräusch mit dem Handballen. Das leise Klicken ließ sie erstarren, doch was sie für die Reaktion des Farbenmannes auf ihre Anwesenheit hielten, war in Wahrheit nur das Spiel des Lichts seiner Laterne auf einer Wand, welches einen schweren Messingring in der Wand beleuchtete.
Der Farbenmann stellte seine Lampe ab, packte den Ring mit beiden Händen und trat nach hinten, wobei er etwas zurückzog, das ein Teil der steinernen Wand zu sein schien. Im Schutz des plötzlichen Lärms eilten die beiden Maler weiter und blieben abrupt stehen, als der Farbenmann seine Laterne hochhob. Inzwischen waren sie kaum fünfzig Meter entfernt. Jedes Scharren seiner Füße, jedes Schnauben des Esels hörte sich an, als wäre es direkt in ihren Köpfen.
Dann war der Farbenmann nicht mehr zu sehen, war in einem Gang oder einem Raum verschwunden, doch der Esel wartete am offenen Portal.
Lucien stellte die Laterne auf den Boden, beugte sich vor, bis er Henris Hutkrempe an seinem Nasenbein spürte, und flüsterte: »Erschieß mich bitte nicht.«
Er spürte, dass sein Freund den Kopf schüttelte, hörte ihn sogar lächeln, was er bis dahin kaum für möglich gehalten hätte, und sie schlichen weiter, Schulter an Schulter. Als sie nur noch zwanzig Meter entfernt waren, blieb Henri stehen und spannte die Flinte. Der Esel zuckte zusammen, als er es klicken hörte.
»Was ist das?«, hörten sie den Farbenmann sagen. »Wer ist da?«
Er erschien in der Tür, die Lampe hoch erhoben. »Zwerg! Ich sehe dich!« Er zog einen Revolver aus dem Hosenbund und zielte in ihre Richtung. Lucien hechtete aus dem Lichtschein der Laterne, als der Farbenmann schoss. Wie eine wütende Hornisse prallte die Kugel von den Felswänden ab. Der Esel trat aus und floh ins Dunkel, zog eine Spur verängstigten Geschreis hinter sich her wie das perverse Gelächter eines schwindsüchtigen Psychopathen. Lucien kam eben auf die Beine, als er den zweiten Schuss aufblitzen sah. Der Knall explodierte in seinen Ohren, und das Echo verlor sich in einem hohen Ton.
»Ich sehe dich, Zwerg!«, rief der Farbenmann. Er hob die Lampe hoch über seinen Kopf und stürmte voran, den Revolver in der ausgestreckten Hand. Er spannte den Hahn und zielte, doch statt des lauten Knalls des Revolvers hörte man den Donner einer großkalibrigen Schrotflinte, und die Lampe des Farbenmannes explodierte über seinem Kopf, sodass brennendes Öl auf ihn und den Steinboden hinter ihm regnete. Er schrie wie am Spieß, mehr aus Empörung als vor Schmerz, und lief weiter, eine wandelnde Feuersäule, schoss mit dem Revolver in die Finsternis, bis es klickte – leer. Dennoch stolperte er seinen Angreifern entgegen.
»Ihr blöden Wichser!«, knurrte er, dann fiel er der Länge nach hin und lag zischend da, während die Flammen an seinem Körper auf- und abtanzten – dunkelblaue Flammen.
Im Licht des brennenden Farbenmannes konnte Lucien sehen, dass Henri die Leiche betrachtete, die Flinte offen über seinem Unterarm drapiert.
»Henri, alles in Ordnung?«
»Ja. Bist du verletzt?« Er ließ den Farbenmann nicht aus den Augen.
»Nein. Er hat mich verfehlt.«
»Ich habe absichtlich über ihn hingweggeschossen. Ich wollte ihm nur Angst einjagen. Ich wollte ihn nicht treffen.«
»Hast du auch nicht.«
»Du wirst Juliette doch nicht erzählen, dass ich ein Feigling war, oder?«
»Nein, das wäre gelogen.«
»Hättest du was dagegen, wenn ich mir einen Schluck Cognac genehmigen würde? Meine Nerven liegen blank.«
»Ich schließe mich dir an.«
»Aus rein medizinischen Gründen«, sagte Toulouse-Lautrec. Er zog den silbernen Flachmann aus seiner Innentasche, schraubte den Deckel ab und reichte ihn, mit einem deutlichen Zittern seiner Hand, seinem Freund. »Nicht, weil wir etwas zu feiern hätten.«
»Auf das Leben«, sagte Lucien und prostete dem verkohlenden Farbenmann zu. Er trank und gab Henri den Flachmann zurück. »Ich sollte besser unsere Laterne holen, solange ich sie noch finden kann. Ich bin nicht sonderlich erpicht darauf, den Rückweg nur mit den paar Kerzen zu suchen, die ich in der Tasche habe.«
Als Lucien mit der Laterne wiederkam, hatte Henri bereits eine Kerze angezündet und betrachtete eines der Gemälde, die in drei Reihen an die Wand gelehnt standen, nach Größen sortiert. Henri hielt die Kerze an das mittelgroße Porträt eines Jungen mit dunklen Augen und einem Schopf von dunklen Haaren, der ihm in die Stirn fiel.
»Lucien, hol die Laterne! Sieh dir das an! Ich glaube, das ist ein Pissarro. Als wäre Manets Stil mit Cézannes vermischt. So ein Pissarro-Porträt habe ich noch nie gesehen.«
»Na ja, er hat seit den Sechzigern gemeinsam mit Cézanne gemalt. Möglicherweise siehst du hier seinen Einfluss auf Cézanne.« Lucien beleuchtete das Bild mit der Laterne.
»Aber diese dunklen Augen, wie gehetzt, die Haare, diese …« Henris Blick wanderte von dem Gemälde zu Lucien, dann wieder zurück.
»Das bin ich«, sagte Lucien.
»Du? Aber das ist doch eines von diesen Bildern, die Pissarro damals angeblich malte, die aber nie jemand zu Gesicht bekommen hat.«
»Ja.«
»Und du erinnerst dich nicht, dafür Modell gesessen zu haben?«
»Nein.«
»Nun, du warst noch ein kleiner Junge. Kindheitserinnerungen verblassen …«
»Nein. Juliette hat gesagt, sie ist nur zweimal gleichzeitig Maler und Modell gewesen. Ein Mal bei Berthe Morisot, das andere Mal bei mir. Sie war ich.«
Henri stand vor der Reihe mit den größten Leinwänden. Die vorderste war ein stürmisches Seestück, auf dem ein Schiff von Sacré Bleu überspült wurde.
»Turner«, sagte Henri. »Das verstehe ich nicht. War sie auch mal ein Schiff?«
»Sie muss nicht unbedingt Modell sitzen. Der Maler muss nur von ihr besessen sein«, sagte Lucien trocken. Er formulierte eine Tatsache, nicht mehr und nicht weniger, und eine kalte Ruhe kam über ihn, als ihm langsam der Einfluss bewusst wurde, den die Muse auf sein Leben, auf so viele Leben gehabt hatte.
Lucien kniete am Boden, um die Reihe kleinerer Bilder durchzugehen. Das erste war ein Monet, ein Lupinenfeld. Den nächsten Maler erkannte er nicht, irgendetwas Flämisches, eine bäuerliche Szene, alt. Das dritte Bild zeigte Carmen Gaudin, Henris Carmen, die breitbeinig auf der Erde saß, das blaue Kleid halb ausgezogen, zeigte ihren nackten Rücken, die Haare hochgesteckt, dieselben losen, roten Strähnen, dieselbe blasse Haut, doch im Gegensatz zu allen anderen Bildern, die er je von ihr gesehen hatte, lächelte sie, blickte kokett über ihre Schulter den Maler an, blickte mit gespielter Keuschheit auf. Lucien kannte diesen Blick. Dutzende Male hatte er ihn schon auf Juliettes Gesicht gesehen, doch nur Henri Toulouse-Lautrec kannte ihn von Carmen Gaudin. Er gab den Bildern einen Stoß, als knallte er den Deckel eines verbotenen Buches zu, und trat zurück.
Toulouse-Lautrec kippte das große Gemälde von Turner nach vorn, um das Bild dahinter betrachten zu können, und ließ es vor Schreck los, sodass es fast umfiel.
»Ogottogott«, sagte er.
Lucien trat zu ihm und betrachtete das Bild. Eine nackte Frau räkelte sich auf einem Diwan, über den ein ultramarinblaues Seidentuch geworfen war.
»Sie ist eine große, aber ungemein einnehmende Frau. Ich hätte nicht vermutet, dass sie rothaarig ist, eher rotbrünett, aber schließlich trägt sie die Haare stets zu einem chignon gebunden. Wenn sie offen sind wie hier und über ihre Hüften fallen, ja, dann ist sie in der Tat ausgesprochen einnehmend.«
Lucien stellte die Laterne zu Henris Füßen und riss ihm die brennende Kerze aus der Hand, wobei er Wachs auf das Gemälde spritzte. »Verbrenn sie«, sagte er, wandte sich ab und marschierte zur Tür hinaus. »Verbrenn sie alle. Nimm etwas von dem Öl aus der Lampe, um sie anzuzünden.«
»Ich begreife deine Bestürzung, aber es ist gut gemalt«, sagte Henri, der die Lampe genommen hatte und sich kaum von dem Akt abwenden konnte.
»Das ist meine Mutter, Henri.«
»Guck mal, es ist signiert: ›L. Lessard‹.«
»Verbrenn es.«
»Willst du denn die anderen nicht sehen? Es könnten Meisterwerke darunter sein, die noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hat.«
»Und so wird es auch bleiben. Wenn wir sie uns ansehen, bringen wir es vielleicht nicht mehr fertig. Verbrenn sie.« Lucien trat aus der Kammer und stand unter dem riesigen Gewölbe, wo nach wie vor blaue Flammen auf den verkohlten Resten des Farbenmannes züngelten. Er schüttelte sich.
Henri klappte den Turner wieder vor den Akt von Madame Lessard, dann trat er einen Schritt zurück. »Ich habe den Farbenmann getötet. Ich finde es nicht fair, dass ich auch noch die Bilder verbrennen soll. Es kommt mir vor wie ein Sakrileg.«
»Du hast doch immer gesagt, du entstammst einer langen Reihe alteingesessener Ketzer.«
»Auch wieder wahr. Hier, halte deine Kerze, damit ich etwas sehen kann. Ich muss die Laterne kurz ausmachen, um ein bisschen Öl auszugießen.«
Eine Minute später leuchtete die kleine Kammer wie der Ofen eines Glasbläsers. Wie Schlangenzungen leckten die Flammen in das Gewölbe hinaus. Pechschwarze Rauchschwaden zogen an der Decke entlang.
Henri las die Karte im Licht des Feuerscheins. »Wenn wir uns an diese Wand halten, bringt sie uns zur Treppe, die nach oben führt.«
»Dann sollten wir gehen.«
»Was ist mit dem Esel des Farbenmannes?«
»Wir wissen nicht, wie weit er gelaufen ist, Henri. Wir haben ohnehin kaum noch Öl in der Lampe. Vielleicht findet er den Weg von allein. Er war schon mal hier unten.«
Toulouse-Lautrec faltete die Karte zusammen und machte sich auf den Weg die Wand entlang, benutzte die ungeladene Schrotflinte als Krücke und hinkte schwer, da er nun nicht mehr leise sein musste.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Lucien und hielt die Laterne hoch, damit sein Freund vorn etwas sehen konnte.
»Ich? Was soll mir das noch ausmachen, nachdem ich einen Menschen getötet und in einer Höhle voller Meisterwerke verbrannt habe?«
»Tut mir leid, Henri«, sagte Lucien.
»Aber das ist doch gar nichts, wenn man bedenkt, dass du unter Umständen deine Mutter gevögelt und deinen Vater ermordet hast.«
»So war das ganz sicher nicht.«
»Und wie war es dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Meinst du, deine Mutter würde mir Modell sitzen? Mein Interesse ist rein künstlerischer Natur.«
»Du hast Minette ermordet!«
Das waren die ersten Worte, die er zu Juliette sagte, als er sie in Henris Atelier vorfand, wo sie schon wartete.
»Wen?«, fragte sie.
»Minette Pissarro. Ein kleines Mädchen. Ich habe sie geliebt, und du hast sie ermordet.«
»Ich musste mich zwischen euch entscheiden, Lucien. Einer von euch beiden musste bezahlen. Da habe ich sie gewählt.«
»Du hast gesagt, der Farbenmann hätte die Wahl getroffen.«
»Ja, und er wollte dich. Ich habe es ihm ausgeredet.«
»Du bist ein Ungeheuer.«
»Dafür ist deine Mutter eine Hure.«
»Aber nur, weil sie von dir besessen war.«
»Oh, das weißt du?«
»Ich habe das Bild gesehen.«
»Dann ist der Farbenmann also tot? Wirklich tot? Mir war, als hätte ich gespürt, wie er losließ.«
»Ja«, sagte Henri, »ich habe ihn erschossen. Und die Bilder sind verbrannt. Du bist frei.«
»Der kleine Scheißkerl. Mir hat er erzählt, er hätte den Akt von deiner Mutter schon vor Jahren verbraucht.«
»Dann hast du meinen Vater also auch auf dem Gewissen?«
»Was? Pfff. Nein. Quatsch. Natürlich nicht. Weißt du, Lucien, dein Vater war ein ausgesprochen liebenswerter Mann. Er liebte die Malerei. Ausgesprochen liebenswert.«
Henri sagte: »Wenn du Lucien warst und außerdem Luciens Mutter, dann hat er – technisch gesehen – mit seiner eigenen …«
»Mein Vater starb in seinem Atelier«, sagte Lucien. »Und keines seiner Bilder wurde je gefunden. Erklär mir das.«
»Hey, guck mal, was ich hier habe!«
»Die nützen dir jetzt auch nichts mehr«, sagte Lucien.
»Wovon sprachen wir noch?«, fragte Henri.
»Ich habe deinen Vater nicht umgebracht, Lucien. Es war sein Herz. Er ist einfach gestorben. Aber immerhin ist er bei etwas gestorben, das ihm große Freude bereitete.«
»Malen?«
»Klar, nennen wir es malen.«
»Meine Schwester Régine glaubt schon ihr Leben lang, mein Vater hätte meine Mutter betrogen.«
»Obwohl er sie in Wahrheit mit deiner Mutter betrogen hat«, sagte Henri.
»Und sie glaubt, sie sei schuld am Tod meiner Schwester Marie. Das warst du dann auch, oder?«
»Weißt du noch, wie gut sich die beiden hier anfühlen? Hm, fass mal an!«
»Knöpf deine Bluse zu, Juliette. Das wird nichts werden.«
»Aber wenn du es schon anbietest«, sagte Henri. »Während ihr zwei euch unterhaltet …«
»Dann eben nicht«, sagte Juliette, wandte sich ab und knöpfte ihre Bluse wieder zu. »Dass Marie starb, kam mir gelegen. Ich habe nicht dafür gesorgt, dass sie vom Dach fällt, aber es diente unserem Zweck, und so wurde sie das Opfer. Der arme Père Lessard starb nicht fürs Sacré Bleu. Das war die alte Schlampe Schicksal.«
»Schicksal ist auch ein Mensch?«, fragte Henri.
»Nein, das sagt man nur so. Und, ja, Lucien, ja, ja, ja, das Leben deiner Schwester war der Preis fürs Sacré Bleu. Tut mir leid. Aber ich bin kein Ungeheuer. Ich liebe dich. Ich liebe dich, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
»Und du hast von mir Besitz ergriffen.«
»Um dich kennenzulernen. Keiner kennt dich so wie ich, Lucien. Ich weiß, wie sehr du deinen Papa geliebt hast. Ich weiß es wirklich. Ich weiß, dass Minettes Tod dir dein kleines Herz gebrochen hat. Ich weiß um deine Leidenschaft für die Malerei wie kein anderer. Ich weiß, wie es sich anfühlt, jeden Morgen ein perfektes Baguette um die Ohren geschlagen zu bekommen. Ich war dabei, als du die elastischen, magischen Möglichkeiten deines Pimmels entdeckt hast. Ich …«
»Das reicht.«
»Du bist mein Ein und Alles, Lucien. Jetzt bin ich frei. Ich bin dein. Deine Juliette. Wir können zusammen sein. Du kannst malen.«
»Und was willst du machen?«, fragte Lucien. »Im Hutladen arbeiten?«
»Nein, ich habe Geld. Ich werde Modell sitzen für dich. Ich werde dich inspirieren.«
»Du hast ihn mit der Syphilis angesteckt, stimmt’s?«, sagte Toulouse-Lautrec.
»Nein, habe ich nicht. Aber es scheint, als müsste Monsieur Lessard unser Glück erst noch bedenken. Lieber Henri. Lieber, tapferer, Henri, du hast hier doch sicher irgendwo Cognac, oder?«
»Aber gewiss doch«, sagte Toulouse-Lautrec.