19

Der dunkle Karpfen von Giverny

Mère Lessard bereitete einen Korb mit Brot und Pasteten vor, den Lucien mit nach Giverny nehmen sollte. »Bestell Madame Monet und den Kindern schöne Grüße von mir«, sagte die Matriarchin, während sie Croissants in ein Nest aus weißen Geschirrtüchern bettete. »Und erinnere Monsieur Monet daran, dass er ein Nichtsnutz ist, aus dem nie etwas werden wird, und dass er bitte in der Bäckerei hereinschauen soll, wenn er nach Paris kommt.«

Régine hielt ihn in der Bäckerei auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich finde nicht, dass du so bald schon gehen solltest, aber ich bin froh, dass du dich nicht auf die Suche nach dieser schrecklichen Frau machst.«

»Du bist die einzige schreckliche Frau, die ich mir in meinem Leben erlaube, chérie«, sagte er und umarmte seine Schwester.

Es dauerte zwei Stunden mit der Bahn vom Gare de Nord nach Vernon, und während der Fahrt saß Lucien in der Nähe einer jungen Mutter mit ihren beiden kleinen Töchtern, herausgeputzt wie hübsche Püppchen, auf dem Weg nach Rouen. Er skizzierte sie und plauderte und lachte mit ihnen, und Leute, die den Gang entlangkamen, lächelten ihn an und wünschten ihm einen schönen Tag, was er auf seinen magischen Charme zurückführte, den er sich in seiner Zeit mit Juliette im Atelier angeeignet hatte, obwohl es in Wahrheit daran lag, dass sein Korb nach frisch gebackenem Brot roch, worüber sich die Leute freuten.

Vom Bahnhof in Vernon lief er zwei Meilen über Land nach Giverny – eigentlich weniger ein Dorf als vielmehr eine Ansammlung kleiner Bauernhöfe, die rein zufällig am Ufer der Seine kauerten. Monets Haus stand auf einer sonnigen Anhöhe über einem Hain aus hohen Weiden, einst ein Sumpf, den der Maler in einen Wassergarten verwandelt hatte, mit zwei breiten Seerosenteichen und einer geschwungenen, japanischen Brücke.

Das Haus war ein klobiges, zweistöckiges Gebäude, rosa verputzt, mit hellgrünen Fensterläden.

Madame Monet, die noch gar nicht Madame Monet war, empfing Lucien an der Tür. Alice Hoschedé, eine hochgewachsene, elegante Frau, deren dunkler chignon einige graue Strähnen zeigte, war mit einem von Monets Gönnern, einem Bankier, verheiratet gewesen. Seit fünfzehn Jahren war sie nun schon mit dem Maler liiert, aber sie hatten nie geheiratet. Monet hatte auf dem Anwesen der Hoschedés im Süden gelebt und Auftragsarbeiten ausgeführt, als der Bankier plötzlich bankrott ging und seine Familie verließ. Monet und seine Frau Camille luden Alice und ihre vier Kinder ein, zu ihnen und ihren beiden Söhnen zu ziehen. Selbst noch lange nach Camilles Tod, als sie und Monet ein Paar wurden, bestand Alice, eine fromme Katholikin, darauf, die Fassade aufrechtzuerhalten, dass ihre Beziehung rein platonischer Natur sei und sie nach wie vor in getrennten Betten schliefen.

»Die sind verlockend, Lucien«, sagte sie, als sie den Korb mit Backwaren entgegennahm. Eine minderjährige Tochter namens Germaine schaffte sie eilig in die Küche. »Vielleicht können wir sie gemeinsam zu Mittag essen«, sagte Alice. »Claude ist im Garten und malt.«

Sie führte ihn durch das Haus, dessen Diele und Speisezimmer hellgelb gestrichen waren. An fast allen Wänden hingen gerahmte, japanische Drucke von Hokusai und Hiroshige, dazwischen hier und da der eine oder andere Cézanne, Renoir oder Pissarro. Im Vorübergehen warf Lucien einen Blick in den großen Salon, an dessen Wänden vom Boden bis zur Decke Monets eigene Werke hingen, doch Lucien wagte nicht, sich in den Gemälden des Meisters zu verlieren, da Alice bereits auf der hinteren Veranda stand und mit großer Geste den Garten präsentierte, als hieße sie eine gen Himmel gefahrene Seele im Paradies willkommen.

»Ich glaube, heute ist er drüben bei der Brücke.«

Lucien spazierte durch den hinteren Garten, vorbei an reihenweise blühenden Blumen, nicht nur auf der Erde, sondern auch an Spalieren und auf Gestellen. Von Augenhöhe abwärts war alles bunt, mit Rosen und Margeriten und Dahlien, groß wie Suppenteller, alle Farben wild gemischt, sodass es keine allmähliche Abstufung gab, kein Rosa neben Rot, kein Lavendel neben Violett, sondern harte Kontraste in Größe und Farbe, Blau neben Gelb, Orange inmitten von Lila, Rot von Grün umrahmt. Lucien fiel auf, dass an der Rückseite des Hauses von jedem Fenster aus zu sehen war, wie die Farbenpracht der Natur förmlich explodierte. Diesen Garten hatte ein Maler für einen Maler entworfen, für jemanden, der Farben liebte.

Er trat aus diesem Blütenmeer in einen kühlen Hain von Weidenbäumen, und dort, bei den spiegelglatten Teichen, fand er Monet an seiner Staffelei. Lucien unternahm gar nicht erst den Versuch, sich heimlich anzuschleichen. Stattdessen schlurfte er hörbar über den Weg und räusperte sich, als er noch gut zwanzig Meter entfernt war. Monet blickte kurz unter der breiten Krempe seines Strohhutes hervor, dann machte er sich gleich wieder daran, Farbe aufzutragen. Ein fertiges Gemälde lehnte am Stamm einer nahen Weide.

»Nun, Lucien, was führt dich zu uns aufs Land?« Monet schien sich zu freuen und klang freundlich, doch er unterbrach seine Arbeit keine Sekunde. Lucien nahm es ihm nicht übel. Einmal, als Monet sein Frühstück im Grünen beim Wald von Fontainebleau gemalt hatte, für das ihm Frédéric Bazille und seine geliebte Camille Modell saßen, war Monet derart in seiner Arbeit aufgegangen, dass er die Sportler gar nicht bemerkte, die zum Training auf die Wiese kamen, und so hatte es ihn außerordentlich überrascht, als ein verirrter Diskus ihm den Knöchel zertrümmerte. Bazille hatte Monets Genesung gemalt, sein Bein im Streckverband.

»Ich suche ein Mädchen«, sagte Lucien.

»Dann sind diese Paris endgültig ausgegangen? Nun, die Mädchen aus der Normandie sind nicht die schlechtesten.«

Lucien sah sich an, wie der Meister die Farbe auftrug, das Weiß und Rosa der Seerosen, das Graugrün der Weiden, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten, das gedämpfte Umbra und das Schieferblau des Himmels im Wasser. Monet arbeitete, als gäbe es nichts zu überlegen – sein Verstand war nur ein Werkzeug, das die Farbe vom Auge auf die Leinwand übertrug, wie bei einem Gerichtsstenografen, der einen Prozess aufzeichnete, wobei jedes Wort den Weg vom Ohr auf das Papier fand, ohne dass der Verstand wahrgenommen hatte, was im Gerichtssaal vorgefallen war. Monet übte sich darin, maschinengleich die Farben einzufangen. Mit dem Pinsel in der Hand war er kein Mensch mehr, kein Vater oder Gatte, sondern ein Instrument, das nur einem einzigen Zweck diente. Er war, wie er sich stets selbst vorstellte, der Maler Monet.

»Ein ganz bestimmtes Mädchen«, sagte Lucien, »und um sie finden zu können, muss ich Sie nach dem Blau fragen.«

»Dann hoffe ich, dass du ein paar Tage bleibst«, sagte Monet. »Ich werde Alice bitten, dir das Gästezimmer herzurichten.«

»Nicht nach Blau ganz allgemein. Ich meine das Blau, das Sie vom Farbenmann bekommen haben.«

Monet hörte auf zu malen. Lucien zweifelte keinen Moment daran, dass er wusste, welchen Farbenmann er meinte.

»Dann hast du seine Farben also benutzt?«

»Ja, habe ich.«

Da drehte sich Monet auf seinem Stuhl herum und schob die Krempe seines breiten Hutes hoch, damit er Lucien ansehen konnte. Sein langer, schwarzer Bart war grau durchschossen, doch in seinen blauen Augen brannte ein Feuer, als stünde er nackt vor irgendeiner Kommission. Lucien musste sich abwenden.

Monet sagte: »Ich habe dir doch gesagt, du sollst keine Farbe bei ihm kaufen.«

»Nein, haben Sie nicht. Bis gestern konnte ich mich nicht mal erinnern, Sie mit ihm gesehen zu haben.«

Monet nickte. »Das kommt beim Farbenmann vor. Erzähl mir mehr.«

Und so berichtete Lucien von Juliette und dem blauen Akt, von Henri und Carmen, von ihrem Gedächtnisverlust, von seiner Hypnotisierung durch den Professeur und dem Phantomregen auf ihren Schultern, vom Tode Vincent van Goghs und dem Brief an Henri, in dem Vincent geschrieben hatte, dass er sich vor dem Farbenmann fürchtete und nach Arles gegangen war, um ihm zu entkommen.

»Dann glaubst du also, dass er jetzt weg ist?«, fragte Monet.

»Er hat Juliette mitgenommen, und ich muss sie finden. Sie wissen es doch, nicht wahr? Als Sie den Bahnhof Saint-Lazare gemalt haben, sechs Bilder in einer halben Stunde, wussten Sie es?«

»Keine halbe Stunde, Lucien, vier Stunden. Für mich waren es vier Stunden. Vielleicht mehr. Du weißt, wie die Zeit vergeht, wenn man malt.«

»Ich habe auf die Bahnhofsuhr gesehen.«

»Das Blau des Farbenmannes kann die Zeit anhalten«, sagte der Maler, als sei das so offensichtlich wie der Umstand, dass der Himmel blau war.

Lucien sank ins Gras, als würden seine Knie unter ihm nachgeben. »Das ist unmöglich.«

»Ich weiß. Dennoch ist es wahr. Du hast das Blau selbst verwendet, also weißt du es. Man kann es fühlen, man spürt es daran, wie sich die Oberfläche verhält. Kritiker können so etwas weder erkennen noch erklären. Sie denken immer, wir wollten mit der Farbe etwas sagen. Sie wissen nicht, dass die Farbe selbst zu uns spricht, durch Berührung, durch Reflexion. Du hast es gespürt, non?«

»Onkel Claude, ich verstehe nicht. Wir dachten, in der Farbe sei so etwas wie eine Droge und wir litten unter Halluzinationen.«

»Verstehe. Ich dachte damals, ich hätte den Verstand verloren, aber ich habe nicht aufgegeben. Ein Künstler darf sich in seiner künstlerischen Tätigkeit nicht vom Wahn behindern lassen. Er muss ihn lenken. Und ich dachte, genau das würde ich tun.«

»Wie lange? Wie lange haben Sie geglaubt, Sie wären wahnsinnig?«

»Bis vor etwa zwei Minuten«, antwortete der alte Maler.

»Sie haben nie etwas gesagt.«

»Was hätte ich denn sagen sollen? Ach, Lucien, übrigens ist mir aufgefallen, dass die Uhr nur um eine halbe Stunde vorgerückt ist, aber ich habe trotzdem sechs Bilder vom Gare Saint-Lazare gemalt, und der Rauch war so freundlich stillzuhalten, während ich ihn malte‹?«

»Ich schätze, ich hätte Sie für verrückt erklärt«, sagte Lucien.

»Es war das einzige Mal, dass ich Farbe direkt vom Farbenmann gekauft habe. An diesem Tag am Gare Saint-Lazare. Und er wusste, was ich vorhatte. Ich erinnere mich, dass er sagte, wenn ich meine Leinwand mit diesem Blau vormalte, würde mir das, was ich zu tun gedachte, leichter gelingen.«

»Sie sagten, es sei das einzige Mal gewesen, dass Sie die Farbe direkt von ihm bekommen hatten. Also haben Sie seine Farben auch schon vorher verwendet?«

»Vorher und nachher. Meine Frau, Camille, hat sie mir gebracht und auch gleich bezahlt. Nicht allein mit Geld, wie ich fürchte.«

Ein kalter Schauer durchfuhr Lucien. Auch er hatte die Farbe nicht vom Farbenmann gekauft. Stets war sie über Juliette zu ihm gekommen. Vielleicht hätte er zwischen den beiden nie eine Verbindung gesehen, hätte Henri ihn nicht darauf hingewiesen. Er sagte: »Dann kannte Ihre Camille den Farbenmann also?«

Monet saß mit hängenden Schultern auf dem Hocker und starrte zu Boden. »Von Anfang an, als wir uns kennenlernten, als wir vor Hotelrechnungen flohen, als ich diese riesige Leinwand quer durch Frankreich schleppte, war Camille wie eine wilde Nymphe, interessierte sich aber immer für die Malerei, trieb mich an weiterzumachen, mehr zu wagen, selbst als sie schwanger wurde und es für uns so viel leichter gewesen wäre, wenn ich eine andere Arbeit angenommen hätte. Aber ich erinnere mich, wie sie mir ganz zu Anfang einen Kasten voller Farben schenkte, kurz nachdem wir uns begegnet waren, und von da an brachte sie mir immer wieder neue Tuben mit wie kleine Liebesgaben. Mach mir ein Bild, Claude‹, sagte sie dann. Manchmal wagten wir ein Abenteuer, und ich malte – wie es schien – monatelang im Wald von Fontainebleau oder an den Stränden von Honfleur und Trouville, und irgendwann wunderte ich mich, wieso der Wirt des Cheval Blanc uns so lange duldete, bis ich herausfand, dass wir erst seit ein, zwei Tagen in seinen Büchern standen. So ging es über Jahre. Monatelang spielte Camille die pflichtbewusste Ehefrau, die gute Mutter – sie sorgte sich um Geld und unsere Zukunft –, dann verwandelte sie sich urplötzlich wieder in das sorglose Mädchen, und wir waren wie Frischverliebte, fielen ständig übereinander her, sobald ich nicht malte und sie sich nicht um die Kinder kümmern musste. Wochenlang verlor ich mich in der Farbe und in ihr, glücklich, ekstatisch. Das ging so lange, bis ich beinah vor Erschöpfung zusammenbrach, und plötzlich war sie wieder die verantwortungsvolle Ehefrau, die ihre Familie umsorgte, während ich mich wie von einem Fieber erholte und einfach tagelang schlief.«

»Und Sie glauben, das lag am Blau des Farbenmannes?«

»Anfangs nicht. Wer kommt denn auf so was? Nach den Bildern vom Gare Saint-Lazare war ich jedoch überzeugt davon. Aber selbst wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich die Zeit anhalten konnte, weiß ich nicht, ob ich daran etwas geändert hätte. Ich malte. Ohne Unterlass. Ich malte gut. Warum sollte ich daran etwas ändern? Wie konnte ich? Letzten Endes jedoch – glaube ich – hat die Malerei Camille das Leben gekostet.«

Monets Stimme brach, als unterdrückte er ein Schluchzen. Lucien wusste nicht, was er tun konnte. Sollte er seinen Mentor in den Arm nehmen? Seinem Mitgefühl Ausdruck verleihen? Seinen Arm tätscheln und ihm sagen, dass alles wieder gut werden würde? Wie schon bei seinem Vater schien es Lucien nicht richtig, seine Maler-»Onkel« zu trösten. Sie waren Giganten der Kraft, der Entschlossenheit, des Genies – wie konnte er annehmen, dass er ihnen mehr als nur Bewunderung zu bieten hätte? Doch dann dachte er an seine Freunde, die ebenfalls Maler waren, Vincent, Henri, Bernard, sogar Seurat, die er mit seinen fest gefügten, intellektuellen Vorstellungen von Optik und Farbenlehre beurteilte – sie alle waren geplagt von Überheblichkeitsanwandlungen, gefolgt von seelenmarternden Selbstzweifeln. Waren Monet, Pissarro und Renoir denn anders? Wirklich?

Lucien sagte: »Jeder weiß, dass es nicht einfach ist, mit einem Künstler verheiratet zu sein, aber Sie …«

Monet hob seinen Pinsel, um Lucien zu unterbrechen. »Dein Mädchen, diese Juliette? Ist sie krank?«

»Was?« Luciens Blick strich über die Seerosen auf dem Teich, suchte nach einer Ordnung darin. Was hatte er zu hören gehofft? »Juliette? Nein, sie war nicht krank.«

»Gut«, sagte Monet. »Vielleicht hat sie dich verlassen, bevor es losging. Bei Camille zog es sich über Jahre hin. Ich habe versucht, sie zu retten. Ich gab die Hoffnung nicht auf.«

Danach legte Monet seine Palette auf die Erde, stellte seinen Pinsel in eine Dose mit Terpentin, die an einer Kette an der Staffelei hing, und stand auf.

»Komm mit.« Monet führte Lucien durch den Garten zurück in einen schlichten, kastenförmigen Anbau des Wohnhauses. Der Maler schloss die Tür mit einem Schlüssel an der Uhrenkette auf und ging voraus, trat in ein Atelier mit hoher Decke und von weißem Leinentuch verdeckten Oberlichtern, die das Licht streuten, ganz ähnlich wie in Luciens eigenem Atelier im Lagerraum.

An einer Wand gab es Holzregale, in denen Leinwände trockneten, und Dutzende und Aberdutzende Bilder, meist von Monets Garten und der Landschaft um Giverny, hingen dicht an dicht bis hinauf an die Decke der hinteren Wand. Reihenweise standen fertige Gemälde am Boden, jeweils zehn Stück tief, die bemalte Seite abgewendet, damit sich darauf kein Staub sammelte, bis sie so weit getrocknet waren, dass sie gefirnisst werden konnten.

»Vermutlich sollte ich die meisten davon Durand-Ruel schicken«, sagte Monet. »So viele Bilder sollte man nicht am selben Ort aufbewahren. Pissarro hat tausendsechshundert Gemälde verloren, als die Preußen im Krieg sein Haus besetzt haben. Sie missbrauchten sie als Schürzen für die Schlachterei, die sie dort eingerichtet hatten. Sie haben sogar den Boden damit ausgelegt, um ihn vor dem Blut zu schützen.«

Bei der bloßen Vorstellung lief Lucien ein kalter Schauer über den Rücken. »Ich habe gehört, Monsieur Renoirs Schwager hätte mit einigen seiner Bilder die Dächer der Kaninchenställe abgedichtet. Madame Renoir hat ihrem Bruder ein paar Maulschellen verpasst. Das Gezeter war auf dem ganzen Hügel zu hören.«

»Ah, Aline«, sagte Monet. »Renoir konnte sich glücklich schätzen, dass er sie hatte.«

Monet blätterte durch die Reihen der Bilder am Boden, hielt schließlich inne und zog das Porträt einer Frau hervor. Er lehnte es gegen die anderen, dann trat er einen Schritt zurück. Sie schlief, ihr Gesicht war von einem Farbensturm umrahmt, blaue und weiße Pinselstriche, wütender als Monets üblicher Stil. »Siehst du?«, sagte der Maler. »Ich wollte sie retten. Ich habe versucht, sie zurückzuholen.«

Lucien begriff nicht. Das Gesicht auf dem Bild war nicht deutlich dargestellt, nur eine Andeutung inmitten der Farbe. »Madame Monet?«, fragte er.

»Camille auf ihrem Sterbebett«, sagte Monet. »Das letzte Mal, dass ich dieses Blau verwendet habe. Alices Tochter Blanche war im Zimmer. Sie hatte Camille gepflegt. Ich dachte, sie würde mich für einen Unmenschen halten. Meine Frau stirbt, und ich male ihren Leichnam. Ich habe ihr erklärt, ich müsste den blauen Farbton einfangen, den Camille annahm, bevor er verflog. Blanche hat mich nicht infrage gestellt. Sie ließ mich einfach malen. Aber ich habe versucht, Camille zurückzuholen, die Zeit anzuhalten, wie ich sie an jenem Tag auf dem Gare Saint-Lazare angehalten hatte, wie ich sie stets angehalten hatte, wenn Camille und ich auf Reisen waren, wenn sie mir Modell saß. Ich hätte alles gegeben, um noch einen Augenblick mit ihr zu haben, um sie bei mir zu behalten.«

Da veränderte sich das Bild für Lucien. In den Pinselstrichen sah er, was Monet stets als seine Absicht erklärt hatte: den Augenblick einzufangen. Er versuchte, sie am Leben zu erhalten.

23.eps

Ihm wollte nichts einfallen, was er über das Bild sagen konnte. Es als Kunstwerk zu beurteilen, hätte kalt geklungen. Etwas zum Thema zu sagen, nun, angesichts solcher Trauer konnte nichts wirklich genügen. »Es tut mir leid«, sagte Lucien schließlich und ließ die Worte einen Moment im Raum stehen, bevor er fortfuhr. Er erinnerte sich an Madame Monet, aus der Zeit, als die Monets noch auf dem Montmartre wohnten, und obwohl er sie nicht gut gekannt hatte, war sie doch immer nett zu ihm gewesen. »Wie sind Sie darauf gekommen? Sie war schon lange krank, oder? Was hat Sie schließlich dazu gebracht, es noch mal mit dem Blau zu versuchen?«

»Sie wollte es so«, sagte Monet. »Sie bekam kaum noch Luft, und das schon eine ganze Weile. Selbst zum Husten fehlte ihr die Kraft. Doch irgendwann nahm sie meine Hand, und das Licht kehrte in ihre Augen zurück. Für einen Moment nur war sie dieses wilde Mädchen, das mich all die Jahre begleitet hatte, und sie sagte: Mach mir ein Bild, Claude. Mach mir ein Bild.‹ Da wusste ich es. All die Jahre hatte sie nicht gesagt, ich solle ein Bild für sie machen, sondern sie bat mich, aus ihr ein Bild zu machen. Noch heute klingt es verrückt, wenn man es laut ausspricht.«

»Nein«, sagte Lucien nur. Schweigen erfüllte den Raum.

Monet schob das Bild von Camille wieder in die Reihe, dann schlurfte er umher, ordnete Pinsel in Bechern, sammelte Lappen ein und rollte Farbtuben auf, während Lucien so tat, als begutachtete er die Bilder an der Wand, damit er nicht die Tränen in den Augen seines Mentors sehen musste.

Lucien hatte tausend Fragen, doch er wollte nicht, dass seine Angst um Juliette ihn dazu trieb, herzlos zu klingen. Als er hörte, dass Monet ein Streichholz anriss, um seine Pfeife anzustecken, legte er los.

»Was ist mit den anderen? Renoir? Cézanne? Haben die auch mit dem Farbenmann Geschäfte gemacht?«

Monet paffte an seiner Pfeife, als dächte er über eine akademische Frage nach und nicht über etwas, das seinem Herzen so nah war wie Camille. »Du erinnerst dich an Renoirs Margot, nicht?«

»Natürlich. Sie wohnte auf dem Montmartre.«

»Sie starb wenige Monate nach Camille. Auguste war am Boden zerstört. Sein Herz war gebrochen. Ich war bei ihrer Beerdigung, und an diesem Abend haben wir getrunken, Renoir und ich und noch ein paar andere, und er sprach davon, dass er sie gemalt hatte, aber keine Bilder finden konnte, obwohl er genau wusste, dass er sie gemalt hatte. Es war so kurz nach Camilles Tod, dass ich damals dachte, seine mangelnde Erinnerung könnte vom selben Blau herrühren und Renoir hätte zufällig dasselbe entdeckt wie ich. Aber ich hatte nicht den Mut, ihn danach zu fragen, und bald darauf ging er fort, bereiste das gesamte Mittelmeer, um – wie ich glaube – zu vergessen. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.«

»Und die anderen?«

Monet verdrehte die Augen und malte mit seinem Pfeifenrohr Kreise in die Luft, als dirigierte er das Orchester seiner Erinnerung. Schließlich sagte er: »Vielleicht alle, vielleicht keiner, Lucien. Du weißt, wie Maler sind. Wenn der Louvre anböte, deinen Blauen Akt zu kaufen und zum nationalen Kulturgut zu erklären, würdest du dann auch nur einen Gedanken daran verschwenden, welche Ehre der Farbe gebührt?«

»Nein, vermutlich nicht, aber Pissarro …«

»Lucien, sieh her.« Mit seiner Pfeife lenkte Monet Luciens Blick auf die Wand voller Bilder, deutete nacheinander darauf, als wären es Zeichen auf einem Notenblatt. »In meinen Seerosenteichen gibt es einen großen, grauen Karpfen. Ich glaube, er muss wohl aus der Seine hereingekommen sein, als wir die Teiche angelegt haben. Er ist von derselben Farbe wie der Schlamm am Grund und der Schatten der Weiden. Manchmal sieht man nur einen hellgrauen Strich, den Rand seiner Rückenflosse. Immer, wenn ich den Garten male, male ich auch das Licht auf den Teichen, die treibenden Seerosen, die Spiegelungen von Himmel und Sonne, und während ich male, ist er da. Ich muss genau hinsehen, um ihn zu erkennen, und manchmal kann ich erst sicher sein, dass er da ist, wenn er sich bewegt, aber er ist immer da. Auf keinem dieser Bilder ist er zu sehen, aber er ist überall mit drauf, unter der Wasseroberfläche. Ich weiß, dass er da war. Ich kann ihn in diesen Bildern fühlen, obwohl er nicht zu sehen ist. Verstehst du?«

»Ich glaube schon«, sagte Lucien. Er verstand kein Wort.

»Der Farbenmann ist wie dieser Karpfen, Lucien. Er ist in allen unseren Bildern, denen von Pissarro, Renoir, Sisley, Morisot – selbst in denen des armen Bazille, bevor er im Krieg erschossen wurde, sogar damals schon, in unserer Anfangszeit, als wir uns alle in Paris begegnet sind, war er da, in jedem unserer Werke, knapp unter der Oberfläche.«

Unter der Oberfläche des Boulevard Saint-Germain hinkte der Farbenmann über den Kalksteinboden einer Kammer, die fast zweitausend Jahre zuvor ins linke Ufer der Seine gehauen worden war. Er hob eine Sturmlaterne über seinen Kopf, suchte nach dem markierten Stein, der den Standort und die Tiefe des Raumes anzeigte, doch dieser war so gigantisch, dass sich das Licht in der Finsternis verlor.

»Wir müssen an der Wand bleiben«, sagte er zu Etienne, dem Esel, der nicht sonderlich erpicht darauf war, Treppen hinabzusteigen oder sich durch schmale Gänge zu zwängen, der dachte, Dunkelheit sei ein Zeichen, dass man schlafen sollte, nicht etwas, in dem man herumspazierte, und außerdem fand er diese ganze unterirdische Expedition schlicht unsinnig. Etienne kam mit, weil der Farbenmann nicht gern allein im Dunkeln war und nicht zulassen konnte, dass Bleu von diesem Ort erfuhr.

Das gesamte Quartier Latin war auf diese Weise unterminiert, und zwar im denkbar buchstäblichsten Sinne. Die Reste der Gruben, in denen man Kalkstein, Lehm und Sand abgebaut hatte, reichten zehn Stockwerke tief. Die oberen Ebenen waren die ältesten, stammten noch aus Zeiten der Gallier, weit vor den Römern, doch da jede Generation am Ufer der Seine Stein abbaute, um die Stadt zu erweitern, musste man immer tiefer graben, bis sich 1774 in der Rue d’Enfer ein riesiger Schlund auftat und einen ganzen Häuserblock verschlang. Daraufhin wurde ein Mann namens Charles-Axel Guillamot von den königlichen Architekten Ludwigs XVI. beauftragt, die Gruben zu begutachten, freizulegen und zu reparieren, bevor das ganze Quartier Latin im Erdboden versank. Über zwanzig Jahre hinweg, selbst während der Revolution, in der nur wenige Bürokraten die Guillotine überlebten, baute Guillamot den Untergrund um, kennzeichnete die einzelnen Kammern und Gänge entsprechend der Straßen, die sich darüber befanden, bis er eine stabile, unterirdische Stadt erschaffen hatte, die doppelt so tief hinabreichte, wie das höchste damalige Gebäude in den Himmel ragte. Als die Mauern der städtischen Friedhöfe buchstäblich unter dem Druck der Jahrhunderte barsten, wurden die Knochen von Millionen Toten in die Kammern unter dem Montparnasse geschafft, um Platz für die nouveau Toten zu schaffen, und man taufte das Beinhaus »Katakomben«, nach den alten Krypten von Rom.

Der Farbenmann hatte den Katakombeneingang am Boulevard Saint-Jacques genommen. Eine Viertelstunde lang war er mit Etienne an den Gebeinen der Geschichte entlanggestolpert und hatte sich einen Weg in den tiefsten Teil der unterirdischen Stadt gebahnt, in den kein Mensch je ging.

Sie kamen zu dem markierten Stein, und der Farbenmann stellte seine Lampe auf die Erde, holte eine pergamentene Karte aus seiner Tasche und breitete sie auf dem Boden aus.

»Ist nicht mehr weit«, sagte er zu Etienne, der die Spinnweben betrachtete, die von der Krempe seines neuen Hutes hingen und seiner Meinung nach noch einmal deutlich vor Augen führten, wie schwachsinnig diese Mission war.

Inzwischen waren sie so tief, dass nicht einmal mehr Ratten umherhuschten, da es für sie hier unten nichts zu holen gab. Der Farbenmann blieb an der Wand, etwa einen Häuserblock weit, führte Etienne am Strick, bis er zu einem Bronzering kam, der auf seiner Kniehöhe im Stein befestigt war.

»Schschscht«, machte der Farbenmann. Er neigte den Kopf und lauschte. Etienne horchte ebenfalls in den großen Raum hinein: das Geräusch ihres Atems und ganz in der Ferne tropfendes Wasser.

»Hast du Schritte gehört?«, fragte der Farbenmann.

Etienne antwortete nicht, wie es seine Art war. Allerdings meinte er, das Scharren eines Schuhs gehört zu haben. Vielleicht aber auch nicht.

Der Farbenmann ergriff den Bronzering, und während sein Körper sich bog wie der Buchstabe C, zerrte er an dem Ring. Ein Scharren wurde laut, und die Wand tat sich auf. Es war eine dicke Eichentür, mit Steinfliesen verblendet.

»Voilà!«, sagte er und hielt die Laterne hoch. Die Kammer dahinter war nicht größer als der Salon ihrer Wohnung, und die Laterne leuchtete sie voll und ganz aus. Abgesehen von einem glänzenden Bronzeleuchter und zahllosen Leinwänden, die an der hinteren Wand lehnten, war der Raum leer. Der Farbenmann schlurfte zu den Bildern und wählte eines aus, das fast so groß war wie er, ein Manet, der Akt einer hellhäutigen, dunkelhaarigen Frau, im Licht eines Fensters. Sie saß an ihrer Frisierkommode vor einem verzierten, goldenen Spiegel und sah den Maler über ihre Schulter hinweg an, als hätte sie schon erwartet, dass jemand hereinkäme, und freute sich darüber. Den Zwecken des Farbenmannes dienlicher war jedoch der zarte Sessel, auf dem sie saß, gepolstert mit prunkvollem, ultramarinfarbenem Samt. Es war eine selten gelungene Komposition und wäre sowohl ein nationales Kulturgut als auch ein Skandal gewesen, wenn denn jemand gewusst hätte, dass es existierte, selbst jetzt, acht Jahre nach dem Tod des Malers. Nur der Farbenmann, Manet und das Modell hatten das Gemälde je zu sehen bekommen.

Auch für den Farbenmann war es ein Schatz, und ihm gefiel nicht, dass er es benutzen musste, aber sie brauchten das Blau. Er trug das Bild hinüber in den größeren Raum und lehnte es an die Wand, während er die steinverschalte Tür schloss.

»Ich sollte dir die Lampe um den Hals hängen«, sagte der Farbenmann zu Etienne. »Ich brauche beide Hände, um das hier zu tragen.«

Er kämpfte mit der Lampe, versuchte, sie Etienne um den Hals zu hängen, musste jedoch feststellen, dass sein behufter Gefährte nicht gewillt war, den Geruch von brennendem Eselshaar zu ertragen.

»Wir werden Goyas Trick anwenden müssen«, sagte der Farbenmann. Er hatte ein halbes Dutzend dicke Kerzen in seine Tasche gepackt, die er nun an Etiennes Hutkrempe befestigte und dann anzündete. So wies ihnen der Esel den Weg aus der Unterwelt, wobei er wie eine langohrige Geburtstagstorte aussah, während der Farbenmann ihm hinterherstolperte und versuchte, die Leinwand durch die Gänge zu bugsieren.

»Hast du was gehört?«, fragte der Farbenmann, als sie fast wieder am Eingang der Katakomben waren.

Etienne antwortete nicht, weil er nicht zugehört hatte, aber er hätte sowieso nichts gesagt, denn das geschmolzene Wachs hatte seinen neuen Hut ruiniert, was – wie er fand – endgültig bewies, dass dieser kleine Ausflug absolut blödsinnig war.

Der Farbenmann schob die Leinwand durch eine schmale Tür in eine Kammer, in der sich vom Boden bis zur Decke Menschenschädel türmten. »Wir bringen das Bild in die Wohnung, Etienne, dann gehen wir auf den Markt und kaufen dir ein paar Möhren. Außerdem brauche ich einen neuen Revolver. Bleu räumt nicht ordentlich hinter sich auf.«