12
Le Professeur Deux
Émile Bastard wohnte in einem kleinen Haus im Maquis, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, gleich unterhalb des Moulin de la Galette, über dem Friedhof, am Nordwesthang des Montmartre. Inzwischen hatte er einen Holzfußboden und fließend Wasser eingebaut und die Käfige und Rennbahnen für die nagetierische Ben-Hur-Inszenierung entfernt, doch die Behausung war nicht weniger exzentrisch, als sie es unter Le Professeur I. gewesen war. Das Miniatur-Hippodrom war Tischen und Regalen mit allerlei wissenschaftlichem bricolage gewichen, von kleinen Dampfmaschinen über Messinstrumente bis hin zu gläsernen Laborbehältern, Chemikalienflaschen, Mineralienproben, Batterien und Tesla-Motoren, menschlichen Schädeln, ungeborenen Tieren in Gläsern, Dinosaurierknochen und Uhrwerkapparaten, die allerhand meist unsinnige Aufgaben erledigen konnten, darunter ein aufziehbares Insekt, das über den Boden huschte und heruntergefallene Nussschalen zählte, um dann deren Anzahl mit einer Folge von Glöckchenschlägen zu verkünden.
Wie schon sein Vater war auch Émile Bastard Wissenschaftler und Lehrer geworden, unterrichtete an der Académie des Sciences und führte Feldforschungen verschiedenster Disziplinen durch. In den Augen der Académie war er ein Mensch der Renaissance, in den Augen der Leute auf dem Montmartre war er ein exzentrischer, aber harmloser Spinner. Wie schon seinen Vater nannten sie auch ihn Le Professeur.
Le Professeur saß an seinem Schreibtisch und ordnete die Notizen, die er jüngst während einer Höhlenforschungsexpedition gemacht hatte, als ein Klopfen an der Tür ihn aufschrecken ließ, weil so gut wie niemals jemand bei ihm klopfte. Er machte die Tür auf und fand einen sehr kleinen, aber gut gekleideten Herrn vor, mit einer Melone auf dem Kopf und einer Ledertasche über der Schulter. Es war ein warmer Tag, und der kleine Mann hatte seinen Mantel über den Arm gelegt und die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt.
»Bonjour, Monsieur Bastard, ich bin Henri de Toulouse-Lautrec, der Maler.« Er hielt ihm seine Karte hin. »Ich komme im Interesse unseres gemeinsamen Freundes Monsieur Lucien Lessard.«
Le Professeur nahm Henris Karte entgegen und trat beiseite, um Toulouse-Lautrec eintreten zu lassen. »Kommen Sie herein. Bitte, setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Diwan, der vom teilweise rekonstruierten Skelett eines Faultiers besetzt war. »Das Faultier können Sie zur Seite schieben. Ein Projekt, an dem ich arbeite.«
Le Professeur zog den Stuhl von seinem Schreibtisch heran und setzte sich dem Diwan gegenüber. Er war so groß, wie Henri klein war, und sehr dünn. Wenn er einen Frack trug, erinnerte er an eine backenbärtige Sonnenanbeterin.
Henri zuckte zusammen, als unter seinem Schuh eine Haselnussschale knirschte.
»Verzeihung«, sagte Bastard. »Ich habe eine Maschine, die Schalen zählt.«
»Aber wieso liegen überall Schalen herum?«
»Ich sagte doch, ich habe eine Maschine, die sie zählt. Soll ich sie Ihnen vorführen?«
»Danke, ein andermal vielleicht«, sagte Henri. Er nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Schädel des Faultiers, das einen beklemmend melancholischen Ausdruck besaß, vermutlich, weil es nur teilweise zusammengebaut war. »Die Sache mit Lucien Lessard …«
»Ja, wie geht es dem Jungen?«
»Sie kennen ihn schon lange?«
»Seit über zwanzig Jahren. Wir haben uns kennengelernt, als er noch ganz klein war, während des Preußenkrieges. Mein Vater hatte ihn allein auf Rattenfang in die alte Gipsmine beim Friedhof geschickt. Als ich davon erfuhr, ging ich hin, um ihn herauszuholen. Ich fand den armen Lucien, als er zu Tode erschrocken aus der Mine gelaufen kam. Mein Vater war ein brillanter Wissenschaftler, aber im Umgang mit Kindern hatte er nicht immer eine glückliche Hand. Er behandelte sie wie kleine Erwachsene. Ohne dass ich Ihnen damit zu nahe treten möchte.«
Henri winkte ab. »Ich mache mir Sorgen um Lucien. Es ist schwer zu erklären, aber ich habe das Gefühl, er könnte unter dem Einfluss einer Art Droge stehen.« Mit diesen Worten öffnete er seine Tasche und holte eine Handvoll Farbtuben hervor. »Ich glaube, dass diese Tuben eine Art Halluzinogen enthalten könnten, die Luciens körperliche und geistige Gesundheit beeinträchtigt.«
»Ich verstehe«, sagte der Professeur, der die Farbtuben von Henri entgegennahm, eine nach der anderen aufschraubte und daran roch. »Es riecht, als wäre das Bindemittel Leinöl.«
»Professeur, könnten Sie die Farben vielleicht in der Académie testen und herausfinden, ob etwas Schädliches darin ist?«
»Das will ich tun, doch sagen Sie mir erst, welcherart Verhalten Grund für Ihre Sorge ist. Auch normale Ölfarbe enthält Substanzen, die toxisch wirken können und Symptome von Wahnsinn hervorrufen.«
»Er hat sich mit einem hübschen Mädchen im Atelier hinter der Bäckerei eingeschlossen und kommt so gut wie nie heraus. Seine Schwester ist in größter Sorge. Sie sagt, er backt kein Brot mehr und scheint nicht einmal mehr zu essen. Sie sagt, er bumst und malt nur noch.«
Der Professeur lächelte. Lucien hatte ihm von seinem Freund, dem Grafen, und seiner Neigung zu Tanzsälen und Bordellen erzählt. »Bei allem Respekt, Monsieur Toulouse-Lautrec, unterscheidet sich das so sehr von Ihrem eigenen Lebenswandel?«
»Bitte, Monsieur Professeur! Ich habe mit Absinth experimentiert und kann bestätigen, dass er gefährliche, halluzinogene Kräfte besitzt, besonders die Kraft, unansehnliche Frauen attraktiv erscheinen zu lassen.«
»Nun, es handelt sich um achtzigprozentigen Alkohol, und der Wermut darin ist giftig. Ich vermute, man wirft wohl einen Blick auf seinen eigenen Tod.«
»Ja, aber mit exquisiten Brüsten. Können Sie die auch erklären?«
»Das ist eine gute Frage«, sagte der Professeur, der nichts lieber tat, als gegen alle Vernunft nach Antworten auch auf die absurdesten Fragen zu suchen.
»Wie dem auch sei«, fuhr Henri fort. »Ich vermute, da ist etwas in dieser Farbe, das Ähnliches hervorruft, und unser Freund Lucien steht unter dessen Wirkung. Ich glaube, dass auch ich in der Vergangenheit schon unter dem Einfluss dieser Droge gestanden habe.«
»Aber nicht in jüngster Zeit?«
»Nein, mittlerweile bin ich nur noch Freigeist und Hurenbock. Früher gab es in meinem Leben Liebe und Besessenheit, in deren Hände, wie ich vermute, auch unser Lucien gefallen ist.«
»Und wen verdächtigen Sie, ihn zu vergiften?«
»Ich glaube, es handelt sich um eine Verschwörung des Mädchens mit ihrem Komplizen, einem Farbenhändler.«
»Und ihr Motiv?«
»Lucien zu verführen.«
»Und Sie sagten, sie sei hübsch?«
»Bezaubernd. Entzückend. Fast zu sehr.«
»Monsieur Toulouse-Lautrec, ich kann einsehen, wieso man sich verschwören würde, um Sie zu verführen. Sie besitzen einen Titel und werden – wie ich vermute – ein nicht unerhebliches Vermögen erben, doch Lucien ist ein armer Bäckersohn, und wenn er auch ein talentierter Maler sein mag, gibt es – wie Sie wissen – keine Garantie dafür, dass ihm je Erfolg oder finanzieller Lohn zuteilwerden wird. Also noch einmal: Was sollte das Motiv sein?«
Henri stand auf und lief vor dem Diwan hin und her, trat bei jedem zweiten Schritt auf eine Nussschale. »Ich weiß es nicht. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Als mir dasselbe passiert ist, haben mich Lucien und einige andere Freunde aus der Lage befreit, und die Manie verflog. Allerdings habe ich Zeit verloren. Viel Zeit. Erinnerungen. Es gibt ganze Monate, von denen ich nichts mehr weiß. Es gibt Bilder, von denen ich mich nicht erinnere, sie gemalt zu haben, und ich erinnere mich, andere gemalt zu haben, die gar nicht existieren. Ich habe keine andere Erklärung dafür. Falls Sie also etwas in diesen Tuben fänden, das den Zeitverlust erklärt, könnte sich daraus eine Möglichkeit ergeben, ihn daran zu hindern.«
»Ihren Freund daran zu hindern, dass er malt und eine schöne Frau liebt?«
»Wenn Sie es so sagen, klingt es gar nicht mehr gut.«
»Aber das ist es, Monsieur Toulouse-Lautrec. Sie sind Lucien ein guter Freund. Besser, als Sie glauben. Hat Luciens Schwester Ihnen erzählt, woran der Vater gestorben ist?«
»Nein, und Lucien spricht nur von der Liebe seines Vaters für die Malerei.«
»Seine Schwester glaubt, eine ähnliche Liebe für die Malerei hätte ihn umgebracht. Ich will die Farbe prüfen. Es kann ein paar Tage dauern, aber ich werde herausfinden, woraus sie besteht, doch selbst wenn ich etwas feststellen sollte … solange Lucien nicht gerettet werden möchte, dürfte es Ihnen schwerfallen, ihn aus seiner gefährlichen Lage zu befreien.«
»Ich habe einen Plan«, sagte Henri. »Ich kenne die beiden Türsteher des Moulin Rouge, stämmige Burschen, die mit Knüppeln umgehen können. Sollten Sie etwas finden, stürmen wir sein Atelier, schlagen Lucien bewusstlos, reißen ihn von ihr herunter und sperren ihn in mein Atelier, bis er wieder bei Sinnen ist.«
»Sie sind ein noch besserer Freund, als ich dachte«, sagte der Professeur. »Soll ich Sie in Ihrem Atelier aufsuchen, wenn ich meine Ergebnisse habe?«
»Die Adresse steht auf der Karte, aber ich bin oft unterwegs, also sollten Sie mir vorher Nachricht geben«, sagte Henri. »Lucien spricht von Ihnen mit Worten, die er sonst seinen Künstlerhelden vorbehält, und selbst seine Mutter hat freundliche Worte für Sie, was an sich schon ein kleines Wunder ist, also weiß ich, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Ich habe Grund zu der Annahme, dass der Farbenmann gefährlich ist.«
In diesem Moment wurde das Surren eines Motors laut, und etwas huschte unter dem Diwan hervor. Henri schrie auf und hüpfte auf das Sofa. Ein metallisches Insekt von der Größe eines Eichhörnchens fuhr auf dem Boden herum, von einer Nussschale zur nächsten, stieß jede an, dann fuhr es surrend weiter.
»Ah, es muss wohl Mittag sein«, sagte der Professeur.
»Zeit für einen Cognac«, sagte Henri etwas atemlos. »Möchten Sie sich anschließen, Professeur?«
Schon der bloße Gedanke an Carmen vernebelte seine Urteilskraft. Das hätte er merken sollen. Warum sonst konnte er annehmen, eine rothaarige Wäscherin zu finden, von der seit drei Jahren niemand mehr gehört hatte, und dazu in einem arrondissement, in dem fast hunderttausend Menschen lebten? Und dabei sollte er an einer Lithographie für das Moulin Rouge arbeiten, einem Plakat von Jane Avril, und wenn er denn ein wahrer Freund war, sollte er einen weiteren Versuch unternehmen, Lucien zu retten, doch sein Traumbild von Carmen lockte ihn. War es ein Traumbild? Sie war hübsch, aber nicht schön, doch sie besaß eine gewisse Unverfälschtheit, eine Echtheit, die ihn berührte, und er hatte niemals besser gemalt. Worum ging es ihm denn eigentlich? Um das Mädchen oder um das Malen?
»Hast du Schmerzen, mein Kleiner?«, sagte sie oft, die einzige Frau neben seiner Mutter, die so etwas zu ihm sagen durfte. »Soll ich dir die Beine massieren?«
Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Was wäre, wenn sie – wie der Farbenmann sagte – gestorben war, vielleicht aus Trauer, weil er sie verlassen hatte? Weil er sie im Stich gelassen hatte?
Als er von einer Wäscherei zur nächsten fuhr, wobei die Droschke stets draußen auf ihn wartete, fand er sich im Marais wieder, dem jüdischen Viertel am rechten Ufer der Seine. Dabei handelte es sich keineswegs um ein Ghetto, denn diese Gegend war ebenso von Baron Haussmann erneuert worden wie die meisten Pariser Stadtviertel, und die Architektur war geprägt von denselben uniformen, sechsstöckigen Gebäuden mit Mansardendächern, sodass sich Hinweise auf einen ökonomischen oder ethnischen Unterschied allein in der zahlenmäßigen Überlegenheit der Goldschmiede, den hebräischen Schildern in den Schaufenstern der Bäckereien und den allgegenwärtigen Chassidim fanden, die sogar in der Augusthitze in ihren langen Mänteln herumliefen. Die Menschen im Marais bemühten sich in letzter Zeit um eine gewisse Unauffälligkeit, da der Antisemitismus als politische Kraft in der Stadt an Einfluss gewann, und ein Jude, den es in die falsche Gegend verschlug, mochte sich den Beschimpfungen eines Trunkenboldes wegen imaginärer Beleidigungen ausgesetzt sehen oder als Zielscheibe einer paranoiden Verschwörungstheorie enden. Zu Henris großem Kummer hatte sich sein Freund, der Maler Adolphe Willette, ansonsten ein ausgesprochen umgänglicher Mensch, mit Hilfe einer antisemitischen Wahlplattform um den Posten des Bürgermeisters vom Montmartre beworben und war glücklicherweise kläglich gescheitert.
»Willette, du Spatzenhirn«, hatte Henri zu ihm gesagt. »Ich würde dich ja gern unterstützen, aber da ich selbst von edler Herkunft bin, müsste ich – wenn ich jemanden aufgrund seiner Geburt diskriminieren wollte – auch eurer aller Gesellschaft meiden, da ihr nur hundsgemeine Bürgerliche seid. Und mit wem sollte ich dann trinken?«
Manchmal fiel es schwer, die Talente eines Menschen mit seiner Persönlichkeit in Einklang zu bringen. Selbst der große Degas, der als Künstler für Henri ein Held war und vermutlich der beste Zeichner unter allen Impressionisten, hatte sich als Pissnelke erwiesen. Eine Weile hatte Henri sogar im selben Haus gewohnt wie Degas, doch statt ein wenig von der Weisheit des Meisters einzufangen, erntete er nichts als Verachtung. Anfangs widmete dieser ihm nur ein abschätziges Schnauben auf dem Hinterhof, wenn sie einander passierten, doch später, als Henri ihm bei einer Ausstellung begegnete, in der sie beide ihre Bilder zeigten, tat Degas, als sähe er ihn nicht, und sagte: »Die Rothaarigen von Toulouse-Lautrec sehen alle aus wie syphilitische Huren.«
»Aus Eurem Munde klingt es, als sei das etwas Schlimmes«, sagte Henri über seine Schulter hinweg, dennoch fühlte er sich beleidigt. Gekränkt von seinem Helden, hinkte er in eine Ecke der Galerie, wo die Leute nicht so sauertöpfisch waren. Degas hatte ihn inspiriert, und er war in seiner Bewunderung für ihn gänzlich unverblümt gewesen, hatte Degas’ Einfluss auf sein Werk ganz offen eingeräumt, was die Zurückweisung umso schmerzlicher machte. Gerade wollte Henri seine Freunde zurücklassen, um sich in einem billigen Tanzlokal zielstrebig zu betrinken, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und sah, dass ein hagerer Mittfünfziger mit weißem Ziegenbärtchen und grobem Schlapphut ihn musterte: Pierre-Auguste Renoir.
»Nur Mut, Monsieur. Degas hasst alles und jeden. Er mag der beste Bildhauer unserer Zeit sein, nachdem sein Augenlicht der Malerei nicht mehr genügt, aber ich will Euch ein Geheimnis anvertrauen: Seine Tänzerinnen sind für ihn Dinge. Objekte. Er empfindet keine Liebe für sie. Eure Tänzerinnen, Monsieur, leben. Sie leben auf der Leinwand, weil Ihr sie liebt, non?«
Henri wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm fehlten die Worte. Eben noch wollte er nach Degas’ Kritik in bitterer Selbstverachtung versinken, da wurde ihm angesichts Renoirs überbordender Freundlichkeit ganz leicht ums Herz, regelrecht schwindlig, und er musste sich auf seinen Gehstock stützen.
»Nein. Ich meine, ja. Ich meine merci beaucoup, Monsieur Renoir. Ich denke, Ihr wisst …«
Renoir tätschelte seinen Arm, um ihn zu beruhigen. »Wartet. Gleich gehe ich rüber und blamiere ihn mit seinem Judenhass, bis er empört den Saal verlässt wie ein beleidigtes Muttersöhnchen. Das wird lustig. Degas hat schon immer Distanz zu seinen Motiven gehalten. Er tut es absichtlich. Das war schon immer so. Er weiß nicht, wie es ist, mit einem dicken Mädchen zu lachen, im Gegensatz zu uns, nicht wahr?«
Unter der Hutkrempe war der Anflug eines lüsternen Grinsens auszumachen, ein Funkeln des Vergnügens. »Lasst Euch nicht von Degas’ Garstigkeit erschüttern. Mein Freund Camille Pissarro ist Jude. Ihr kennt ihn?«
»Wir sind uns mal begegnet«, sagte Henri. »Wir hängen beide in Theo van Goghs Galerie. Und ich teile mir ein Atelier mit Lucien Lessard, der ihm sehr nahe steht.«
»Ja, Lucien. Einer meiner Schüler. Malt ständig Bilder von rammelnden Hunden. Ich glaube, mit dem Jungen stimmt irgendwas nicht. Vielleicht liegt es daran, dass er ständig in der Bäckerei ist. Vielleicht hat er einen Hefepilz. Jedenfalls, Pissarro sieht aus wie ein Rabbi mit seinem langen Bart und der Hakennase, wenn auch wie ein Piratenrabbi, bei den hohen Stiefeln, die er immer trägt. Ha, ein Piratenrabbi!« Renoir lachte über seinen eigenen Scherz. »Wenn er heute nach Paris kommt, muss er sich im Hotelzimmer verstecken, weil er so jüdisch aussieht, dass die Leute ihn auf der Straße anspucken. Diese Borniertheit! Pissarro! Unser aller Meister! Und dabei ahnen sie nicht, dass er in seinem Zimmer am Fenster sitzt und das beste Werk seines Lebens erschafft. Tut es ihm nach, Monsieur Toulouse-Lautrec! Nehmt Degas’ bornierten Kommentar und erschafft daraus große Werke!«
Henri war, als müsste er gleich weinen, wenn er noch länger hier stehen blieb. Erneut bedankte er sich bei Renoir, verneigte sich tief und bat, ihn zu entschuldigen, er müsse zu einer Verabredung, was frei erfunden war, doch Renoir packte seinen Arm.
»Man muss sie alle lieben!«, sagte Renoir. »Das ist das Geheimnis, junger Mann. Man muss sie alle lieben.« Der Maler ließ Henris Arm los und zuckte mit den Schultern. »Denn wenn die Bilder scheiße sind, hat man sie wenigstens alle geliebt.«
»Man muss sie alle lieben«, wiederholte Henri lächelnd. »Ja, Monsieur. Das will ich tun.«
Und er hatte versucht und versuchte immer noch, genau das in seinen Bildern auszudrücken, doch wenn die Distanz zu seinen Motiven auch nicht von Verachtung getrieben war wie bei Degas, so doch von Selbstzweifeln. Er liebte sie für ihre Menschlichkeit, ihre vollkommene Unvollkommenheit, denn die hatten alle gemeinsam, auch mit ihm. Nur eine hatte er wirklich geliebt, vielleicht die Einzige, die genauso unvollkommen war wie er. Er fand sie in der dritten Wäscherei, die er im Marais besuchte.
Der Besitzer der Wäscherei war ein liederlicher, hohlwangiger Mann, der aussah, als wäre er irgendwann einmal aufgeknüpft und dann wiederbelebt worden. Gerade schimpfte er mit einem Botenjungen, als Henri eintrat.
»Pardon, Monsieur, ich bin Toulouse-Lautrec, der Maler. Ich suche eine Frau, die für mich vor Jahren Modell gesessen hat und zu der ich den Kontakt verloren habe. Arbeitet hier eine Mademoiselle Carmen Gaudin?«
»Wer will das wissen?«
»Verzeiht, ich ahnte nicht, dass Ihr sowohl taub als auch ein Witzbold seid. Ich bin – wie schon vor zehn Sekunden – Graf Henri Raymond Marie de Toulouse-Lautrec-Monfa und suche eine gewisse Carmen Gaudin.« Henri stellte fest, dass die Detektivarbeit nicht mit seiner Verfassung harmonierte, da er sich mit Leuten auseinandersetzen musste, die absonderlich oder dumm waren, und das gänzlich ohne die beruhigende Wirkung des Alkohols.
»Es ist mir egal, ob du einen Titel und einen hübschen Namen hast. Hier gibt es keine Carmen«, sagte der liederliche Mann. »Und jetzt verpiss dich, du Zwerg.«
»Nun denn«, sagte Henri. Für gewöhnlich weichte sein Titel solcherart Widerstand auf. »Dann werde ich mein Anliegen andernorts vortragen und sehe mich gezwungen, die Ermordung eines Wäschereibesitzers in Auftrag zu geben.« In Zeiten wie diesen wünschte Henri, er besäße die Haltung seines Vaters, der – umnachtet, wie er war – doch mit großem Pomp auftrat und keinen Moment zögerte, seinen Spazierstock auf den Tresen zu schlagen und neunhundert Jahre aristokratischer Autorität auf den erstbesten Diener herniederregnen zu lassen, der so unklug war, ihm zu missfallen. Henri hingegen ließ seine leere Drohung fallen und hinkte davon.
Als er schon an der Tür war, hörte er, dass eine Frau ihn rief. Er drehte sich um und sah sie durch den Vorhang aus dem Hinterzimmer kommen
»Ich bin Carmen Gaudin«, sagte sie.
»Carmen!« Beim bloßen Anblick ihrer ungewöhnlich roten Haare, zu einem wirren chignon hochgesteckt, mit zwei langen geschwungenen Strähnen, die ihr Gesicht umrahmten, schlug ihm das Herz bis zum Hals, und benommen vor Freude kehrte er an den Tresen zurück.
»Carmen, ma chère, wie geht es dir?«
Verdutzt sah sie ihn an. »Verzeihen Sie, Monsieur, aber kennen wir uns?«
Henri sah, dass ihr Erstaunen echt war und offenbar auch ansteckend, denn er staunte nicht minder. »Natürlich kennst du mich. Die vielen Bilder. Unsere Abende? Ich bin’s, Henri, ma chère. Vor drei Jahren?«
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Und jetzt gehen Sie«, sagte der liederliche Mann. »Sie hat zu tun.«
Streng sah Carmen ihren Brotherrn an. »Moment!« Zu Henri sagte sie: »Monsieur, vielleicht sollten wir kurz vor die Tür treten.«
Am liebsten hätte er sie geküsst. Sie in die Arme geschlossen. Sie mitgenommen und ihr zu Hause etwas gekocht. Ihre Gabe, stark und zerbrechlich zugleich zu sein, war unverändert, und das weckte etwas in ihm, das er gewöhnlich verdrängte. Sie mit nach Hause nehmen, mit ihr essen und Wein trinken, still über traurige Dinge lachen, sie lieben und in ihren Armen einschlafen – das wollte er am liebsten tun. Dann aufwachen und die süße Melancholie auf Leinwand bannen.
»Bitte, Mademoiselle«, sagte er und hielt ihr die Tür auf. »Nach Ihnen.«
Auf dem Bürgersteig trat sie eilig in den Eingang eines Nachbarhauses, von der Wäscherei nicht einzusehen, und wandte sich ihm zu.
»Monsieur, vor drei Jahren war ich sehr krank. Ich wohnte auf dem Montmartre und arbeitete am Place Pigalle, aber ich kann mich an nichts davon erinnern. Ich habe alles vergessen. Der Doktor meinte, das Fieber hätte mein Gehirn angegriffen. Meine Schwester hat mich mit zu sich nach Hause genommen und wieder gesund gepflegt, aber von der Zeit davor weiß ich so gut wie nichts mehr. Vielleicht sind wir uns begegnet, aber es tut mir leid, ich kenne Sie nicht. Sie sagen, ich hätte Ihnen Modell gesessen? Sind Sie Maler?«
Henri spürte, wie sein Gesicht ganz taub wurde, als hätte man ihn geschlagen, und der Schmerz brannte. Sie erkannte ihn tatsächlich nicht. »Wir standen uns sehr nah, Mademoiselle.«
»Befreundet?«, fragte sie. »Wir waren befreundet, Monsieur?«
»Mehr als befreundet, Carmen. Viele Abende, viele Nächte haben wir zusammen verbracht.«
Erschrocken hob sie ihre Hand zum Mund. »Ein Liebespaar? Wir waren doch kein Liebespaar …«
Henri suchte in ihrer Miene einen Anflug von Täuschung, den Schimmer eines Erkennens, der Scham, der Heiterkeit, fand aber nichts.
»Nein, Mademoiselle«, sagte er, und die Worte schmerzten ihn, als würde ihm ein Zahn gezogen. »Wir haben zusammen gearbeitet. Wir waren mehr als nur befreundet. Das Modell ist dem Künstler mehr als eine Freundin.«
Das schien sie zu beruhigen. »Und ich war Ihr Modell?«
»Das beste, mit dem ich je gearbeitet habe. Ich könnte Ihnen die Bilder zeigen.« Doch schon als er dies sagte, wusste er, dass er es keineswegs konnte. Nur einige wenige Bilder waren geblieben. Drei Stück hatte er noch. Und doch erinnerte er sich oder meinte, sich zu erinnern, dass damals ein gutes Dutzend entstanden war. Er hatte einen bestimmten Akt vor Augen und wusste noch genau, wie widerwillig sie posierte, aber er konnte sich nicht erinnern, das Bild verkauft zu haben, und ganz sicher besaß er es nicht mehr. »Vielleicht könnten Sie zu mir ins Atelier kommen. Vielleicht könnte ich ein paar Skizzen von Ihnen machen, und vielleicht kehrt Ihre Erinnerung dann zurück, wenn Sie die Bilder sehen.«
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete dabei ihre Schuhe. »Nein, Monsieur, ich könnte nie Modell sitzen. Ich kann nicht glauben, dass ich je Modell gesessen haben soll. Ich bin so unscheinbar.«
»Du bist schön«, sagte er. Er meinte es so. Er sah es. Er hatte es auf Leinwand gebannt.
Da trat der Wäschereibesitzer auf die Straße hinaus. »Carmen! Es ist mir völlig einerlei, ob du arbeiten oder mit einem Zwerg durchbrennen willst, aber falls du diese Stelle behalten möchtest, solltest du wieder an die Arbeit gehen, und zwar sofort.«
Sie wandte sich von ihm ab. »Ich muss gehen, Monsieur. Danke für Ihr Angebot, aber diese Zeit liegt hinter mir. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich mich nicht erinnere.«
»Aber …« Er sah ihr nach, wie sie an ihrem Lohnherrn vorbei in die Wäscherei hastete. Der Mann knurrte Henri an, dann schloss er die Tür hinter sich.
Toulouse-Lautrec stieg in seine wartende Droschke.
»Zur nächsten Wäscherei, Monsieur?«, fragte der Kutscher.
»Nein, fahren Sie mich zum Bordell an der Rue d’Amboise im Neunten. Und nicht so schnell um die Ecken. Ich möchte meinen Cognac nicht verschütten.«