25
Das bemalte Volk
Britannien, Nordgrenze des Römischen Reiches, 122 n. Chr.
Quintus Pompeius Falco, Provinzstatthalter Britanniens, ging auf der Veranda seiner Villa im Grenzgebiet auf und ab, während er seinem Sekretär einen Brief diktierte, einen Bericht an Kaiser Hadrian. Es war keine schwierige Aufgabe, doch eine, der er nur höchst ungern nachkam. Er hatte die Neunte Legion der Römischen Armee verloren.
Hocherhabener Caesar,
mit großer Bestürzung vermelde ich, dass es seit dreißig Tagen keine Nachricht von der Neunten Kaiserlichen Legion gibt, nachdem ich diese mit viertausend Legionären und Offizieren in den Süden Caledoniens, das nördlichste Gebiet Britanniens, geschickt hatte, um unter den Wilden die Ordnung wiederherzustellen und sie unter den Einfluss des Kaiserreiches zu bringen. Somit muss sie als verloren gelten.
»Was meinst du?«, fragte Falco seinen Sekretär.
»›Verloren‹, Herr?«, sagte der Schreiber.
»Stimmt«, sagte Falco. »Klingt etwas vage, oder?«
»Ein wenig.«
Daher fuhr der Statthalter fort:
Und mit »verloren« meine ich nicht, dass sie die Orientierung verloren hat. Ich will nicht andeuten, dass die Neunte irgendwo in diesem gottverfluchten, sonnenlosen, schimmligen Dreckloch von einer Provinz herumirrt und versucht, ein Navigationsproblem zu lösen. Was ich damit sagen will, ist: Sie wurde ausgelöscht, besiegt, dezimiert, vernichtet und bis auf den letzten Mann aufgerieben. Die Neunte existiert nicht mehr. Die Neunte hat sich nicht verirrt. Die Neunte lebt nicht mehr.
»Das müsste es doch klären, oder was meinst du?«, fragte Falco.
»Vielleicht ein wenig mehr Kontext«, schlug der Sekretär vor.
Der Statthalter knurrte, dann fuhr er fort:
In der Vergangenheit begegneten die Pikten unserer Expansion gen Caledonia mit sporadischem Widerstand durch kleine Banden von Wilden, die weder über eine erkennbare Organisation verfügten noch etwas anderes als die gemeinsame Sprache teilten. In jüngster Zeit jedoch haben sie sich zu einer gewaltigen Armee verbündet. Es scheint, als könnten sie unsere Taktik erahnen, und greifen auf unwägbarstem Gelände an, in dem wir mit unseren Kriegsmaschinen nichts ausrichten können. Zudem zwingt uns das Terrain, die Formationen aufzulösen, sodass wir uns koordinierten Attacken und Hinterhalten zahlloser kleiner Trupps ausgesetzt sehen. Mit Hilfe eines Sklaven, der ihrer abscheulichen Sprache mächtig ist, konnten wir aus einem Gefangenen herauspressen, dass sich die Stämme unter einem neuen König vereint haben, den sie den Farbenbringer nennen. Dieser reist mit einer geheimnisvollen Kriegerin, die seine Armee anführt. Ob Mythos oder nicht, hier am Ende der Welt stellt dieses »Bemalte Volk« eine außerordentliche Bedrohung für das Reich dar, und ohne Soldaten, welche die Neunte ersetzen, und zwei zusätzliche Legionen, welche uns mit Proviant versorgen, werden wir, wie ich fürchte, nicht in der Lage sein, die nördliche Grenze gegen sie zu halten.
Erwartungsvoll harre ich Eurer Instruktionen.
In ewiger Treue
Quintus Pompeius Falco
Statthalter, Britannien
Falco trat an den Rand der Veranda und blickte über die Hügel hinaus. Vor seinem inneren Auge sah er Olivenbäume, Zitronenbäume, einen Weinberg, der unter der warmen, etruskischen Sonne reifte. In Wahrheit sah er graue Steine, die wie zerklüftete Zähne aus den moosigen Hügeln aufragten, und einen tief hängenden Nebel, der unter aschfarbenen Wolken durch die Täler kroch.
»Genug Kontext?«, fragte der Statthalter. »Oder soll ich noch mehr auf die Dringlichkeit eingehen, diesen elenden Morast zu sichern und die blau gefleckten Affen im Namen des Römischen Reiches zu unterwerfen?«
»Stimmt es denn, Herr«, fragte der Sekretär, »dass die Pikten sich unter einem König vereint haben?«
Falco machte auf dem Absatz kehrt, um seinen Sekretär zu mustern, der unter dem Blick zusammenzuckte. »Sie haben eine Römische Legion vernichtet, die wirkungsvollste Kriegswaffe, die die Welt je gesehen hat. Wen interessiert es, ob es stimmt? Sie sind gefährlich.«
»Also sind wir sicher, dass die Neunte an die Pikten verloren ging?«
»Dann hast du ihre Botschaft nicht gesehen?«
»Nein, Herr. Ich verlasse die Villa nicht.«
»Wachen fanden den Kopf des Legionskommandeurs auf einem Stock. Draußen vor den Mauern des Forts – nicht an der Grenze, sondern direkt hier vor meiner Haustür. Er trug noch seinen Helm, an dem eine Botschaft hing, mit dem teuflischen Blau auf ein Schaffell geschrieben.«
»Geschrieben, Herr? Die Wilden haben eine Schrift?«
»Es war Lateinisch. So fehlerfrei, als hättest du die Buchstaben gemalt, Schreiber. Da stand: Tut mir leid. Ein Versehen. Ließ sich nicht vermeiden.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Schreiber.
In ebendiesem Augenblick hörten sie einen Schrei, als kreischten hundert Falken gleichzeitig, und Falco sah, wie eine gewellte, blaue Linie aus dem Nebel heranwuchs, drüben auf der nördlichen Hügelkette – eine Linie von Kriegern. Wieder dieses Kreischen, und die Hügel im Osten färbten sich blau. Dann noch einmal, und die westlichen Hügel wurden blau vor Kriegern, die wie eine gewaltige Woge auf das Fort und die Römische Garnison hinter ihren Toren zurollten.
»Es bedeutet, dass wir Rom nie wiedersehen werden«, sagte Falco.
Sie hatten den Wald verlassen und kamen in ein Dorf der Pikten, nachdem sie durch ganz Europa gereist waren, um dorthin zu gelangen – auf ein bloßes Gerücht hin, eine Sage, ein Geheimnis, das sich im Flüsterton unter jenen verbreitete, die erobert und dann von den Römern versklavt worden waren.
»Diese Spinner malen sich von Kopf bis Fuß blau an«, sagte Bleu. »Ich sage dir, Stinkfurz, hier sind wir richtig. Die Knirpse werden uns lieben!«
Sie trug nur einen Lendenschurz, der von einem breiten Ledergurt gehalten wurde, und zwei römische Kurzschwerter, die sie toten Legionären in Iberien abgenommen hatte. Ihre Haare waren zu fünf langen Zöpfen geflochten, verkrustet vom Sacré Bleu, das sie mit den Fingern grob auf ihrer Haut verschmiert hatte. Einst war sie ein Mädchen der groß gewachsenen, hellhäutigen Teutonenstämme oberhalb des Rheins gewesen, doch schon seit Monaten war sie nur noch Bleu.
»Hier ist es nass und kalt«, sagte der Farbenmann.
Er trug ein knöchellanges Gewand aus ungeschorenem Schaffell, an dessen Saum Stöckchen, Blätter und Kletten hingen, und dazu eine Schaffellmütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Aus der Ferne sah er aus wie ein misshandeltes, unattraktives Lämmchen.
»Du wirst schon sehen«, sagte Bleu. »Sie werden uns lieben.«
Sie gaben alles Sacré Bleu, das sie bei sich hatten, den Pikten, die es mit Tierfett mischten und sich gegenseitig Gesicht und Körper bemalten. Vereint beteten sie zur selben Göttin und folgten ihrer Vision von Leidenschaft und Ruhm und Blut und Schönheit, denn die Kunst der Pikten war die des Krieges.
Die Griechen bezeichneten sie als daemon (der Künstlern innewohnte und in ihnen das Feuer wahnwitziger Ideen schürte), die Römer bezeichneten sie als genius (Denn sie glaubten nicht, dass man ein Genie war, sondern dass man ein Genie besaß, einen Schutzgeist der Inspiration, der mit intellektueller Brillanz gefüttert werden musste, da er sonst zu einem wacheren Wirt weiterzog, was einen trübe und leblos zurückließ wie die Brühe in einem Straßengraben.), doch das Bemalte Volk nannte sie Leanan Sidhe, eine einzigartige Macht, eine göttliche Liebhaberin, die einen – ob Mann oder Frau – ins strahlende Licht der Ekstase ritt. Und für diesen kurzen Blick in die Ewigkeit nahm sie einem Leben und Liebe und Frieden. Gemeinsam würden sie aufstehen und ficken und kämpfen und sterben für Leanan Sidhe! Preiset Leanan Sidhe! Heult in ihren Armen und krallt eure Nägel in den Mond! Zerschmettert auf den Felsen, leckt den süßen Nektar des Todes von den Brüsten der Leanan Sidhe! Macht eure Feinde nieder wie Unsterbliche! Für das Bemalte Volk! Für den Farbenbringer! Für Leanan Sidhe!
Und als sie fertig waren, erschöpft und ausgepumpt, die Leiber glänzend von Körpersäften, schürte der Farbenmann seine Feuer, sang seinen Singsang, stampfte seinen kruden Tanz, und mit einer unheilvollen, schwarzen Klinge kratzte er das heilige Blau direkt von der Haut der sich windenden Leanan Sidhe.
Sie hatte recht. Die liebten sie. Und wie!
Das Bemalte Volk rollte in einer mächtigen, blauen Woge von den Hügeln herab. Leanan Sidhe und der Farbenbringer, ihr König, standen auf einer Sänfte, auf dem Rücken zweier Ochsen, geführt von einem Dutzend Männern mit Schilden. Der König stand vorn, auf Hüfthöhe an einem Rahmen festgeschnallt, mit Köchern voller Speere an den Seiten. Leanan Sidhe stand hinter dem König, in ihrem Rücken ein Gerüst schwerer gaesum-Speere, deren breite, dornenbesetzte Spitzen den Palisaden auf dem Gartenzaun des Todes glichen.
Kein römischer Wachposten hatte lange genug gelebt, um Alarm schlagen zu können, bevor die Pikten in Sichtweite des Forts gekommen waren. Bis die Kavallerie auf den Pferden saß und die Bogenschützen auf den Mauern standen, hatten die piktischen Horden ihnen jede Fluchtmöglichkeit verstellt.
Die Pikten sammelten sich im Kreis, wo die Pfeile sie nicht erreichen konnten, schwangen Tontöpfe mit brennendem Pech und schleuderten sie in die Todeszone zwischen ihren Linien und den Mauern, bis der Boden um das römische Fort eine einzige qualmende Hölle war und die Pikten jenseits der Flammen aussahen wie blaue Dämonen.
Aus allen Richtungen hagelte es Pikten-Pfeile. Legionäre suchten Schutz vor der Gefahr, nur um festzustellen, dass der Tod durch eine andere Bedrohung auf sie herniederkam. Die Kavallerie wurde zu den Toren hinausgeschickt, um die piktischen Linien zu durchbrechen, doch kaum war die Kolonne draußen, da rumpelte eine Sänfte auf Ochsenschultern aus den Flammen hervor, und das Kreischen der Blaufrau ließ die Pferde scheuen.
Ihr erster Speer traf den Hauptmann der Kavallerie in die Brust, warf ihn zurück, als hinge er an einem Pfahl fest. Der Farbenbringer schleuderte mit beiden Händen Speere, holte mit dem ersten Wurf einen Bogenschützen von der Mauer, während der zweite Speer den hölzernen Wehrgang durchschlug und einen Sklaven aufspießte, der Wasser trug, um die Flammen auf den Mauern zu löschen. Als die Pikten sahen, dass ihr König das Töten begonnen hatte, ging ein Schrei durch die Reihen der Wilden, und die brodelnde Masse blauer Krieger schloss sich um das Fort.
Römische Pfeile schlugen dumpf ins hölzerne Gestell. Ein Schildträger der Pikten stürzte und wurde von den schweren Ochsen niedergetrampelt. Leanan Sidhe bekam einen Pfeil in den Oberschenkel, und ihre nächste Lanze spaltete dem Bogenschützen den Helm, trennte die obere Hälfte seines Kopfes ab. Während sie sich den Pfeil herausriss, wurde der Farbenmann von einem … von zwei … drei Pfeilen getroffen, deren Eisenspitzen ihn durchbohrten und aus seinem Rücken ragten.
Ein Zornesschrei unter den Pikten wurde laut. Nun konnten die Römer sie erreichen, und ein halbes Dutzend Pfeile nagelte den Farbenmann an das Holzgestell, an dem er festgeschnallt war.
»Autsch«, sagte der Farbenmann. »Ich hasse Pfeile.«
»Ich weiß«, sagte Leanan Sidhe. Sie beugte sich vor und riss die Pfeile aus seinem Rücken, hielt die blutigen Schäfte hoch und schrie zu den Römern hinüber. Gellend ging ihr Schrei über deren Reihen hinweg. Der Farbenmann sank in seinem Gurtzeug zusammen, und sein Kopf rollte mit dem Schwanken der Ochsen hin und her. Sie zog die restlichen Pfeile aus seiner Brust, warf sie beiseite, dann packte sie den kleinen Mann bei den Ohren und schüttelte seinen Kopf.
»Los, Stinkfurz, hoch mit dir!«, sagte sie. »Die sollen sehen, dass dich die Pfeile treffen und du wiederauferstehst. Kämpfe!«
Der Farbenmann blinzelte kurz, und sein Kopf kam hoch. »Es ist kalt. Ich hasse diese Kälte«, sagte er, nahm in jede Hand einen Speer und schleuderte sie über die Mauern ins Fort. »Und ich hasse Pfeile.«
Als die Sänfte die Mauern erreichte, sprang Leanan Sidhe von ihrem Schild auf, hielt sich oben am Wehrgang fest und schwang sich auf die Mauer, als ein Pfeil sie in die Seite traf. Sie fuhr herum, zückte beide Schwerter gleichzeitig und blickte in die großen Augen eines entsetzten Bogenschützen, der noch versuchte, den nächsten Pfeil aufzulegen. Er wollte fliehen, als sie sich auf ihn stürzte, ihm die Arme abschlug und ihn in seinem Blut liegen ließ, um sich einen Weg durch römisches Fleisch zu hacken, während die Pikten ihre Leitern gegen die Mauer stellten und im blauen Blutrausch in Schwärmen darüberkletterten.
Eine halbe Stunde später waren alle Römer erschlagen, alle caledonischen Sklaven befreit, und der verkrüppelte, kleine König der Pikten stand auf dem Dach der Villa, noch mit Pfeilen in Brust und Rücken, und hielt den Kopf des Quintus Pompeius Falco hoch, des Statthalters von Britannien, dessen letzter Gedanke gewesen war: Diese Typen sind tatsächlich blau.
Hinter dem Farbenbringer schmierte die Muse, Leanan Sidhe, Sacré Bleu auf den goldenen, römischen Adlerstab und hob ihn über ihren Kopf, während das Bemalte Volk ihren Namen rief.
Paris, Île de la Cité, 1890
Da ihm nur die Macht einiger versteckter Bilder zur Verfügung stand und nicht die von Zehntausenden blau bemalter Piktenkrieger, brauchte der Farbenmann bis zum nächsten Abend, um sich von seinen Schusswunden zu erholen, die Bleu ihm beigebracht hatte. Zum Glück kam ihm in der Leichenhalle ein Arbeiter zu nah, der dort ausfegte und nun vertrocknet am Boden lag, alles Leben ausgelöscht.
Der Farbenmann glitt von der Bahre auf den kalten Boden. Kugeln furzten aus seinen Wunden und kullerten über den Stein, während er nackt in der Leichenhalle herumlief, auf der Suche nach etwas, das er anziehen konnte. Alle Toten waren entweder nackt oder halb verwest oder zu groß, als dass er mit ihren Kleidern etwas anfangen konnte, also entschied er sich für einen weißen Bestatterkittel, der beim Gehen hinter ihm auf dem Boden schleifte. Der Wärter gab vor, ihn nicht zu sehen, als er an ihm vorbeikam, denn er dachte sich, eine spontane Wiederauferstehung brachte nur Scherereien, und darauf konnte er gut verzichten.
Es waren nur drei Blocks bis zur Wohnung, und wenn es auch drei ausgesprochen belebte Blocks sein mochten, dazu noch früher Abend, eine Zeit, in der alle Welt unterwegs war, ging er dennoch zu Fuß. Feine Herren sahen über ihn hinweg, und Damen wandten ihren Blick ab, als er die Brücke von der Île de la Cité zum Quartier Latin überquerte. Er befand sich in der Nähe der Kathedrale von Notre-Dame, wo sich oft Krüppel und Kranke herumtrieben, in der Hoffnung auf Almosen, sodass der verwachsene, kleine Mann mit der ausgeprägten Stirn, der seinen langen, weißen Kittel hinter sich herschleifte, nicht mehr Aufmerksamkeit erregte als jede andere arme Seele.
Er läutete an der Tür des Hauses an der Rue des Trois Portes, und die Concierge quiekte und machte einen Satz, als sie ihn sah, eine Frau, deren Umfang und Zynismus erahnen ließen, dass seit ihrem letzten Quieken oder Hüpfen schon manches Jahr ins Land gegangen war. Die Überraschung bereitete dem Farbenmann unendliches Vergnügen, und es drängte ihn, zur Feier des Tages seinen Kittel für eine vollständige Penispräsentation aufzureißen, doch er fürchtete, es könne des Guten dann doch zu viel sein.
»Bonsoir, Madame«, sagte der Farbenmann. »Seid so gut und lasst mich ein. Wie es scheint, habe ich meinen Schlüssel vergessen.«
»Aber Monsieur …«, sagte die Concierge, wobei sie misstrauisch eine professionell wankende Augenbraue hochzog. »Ich dachte, Ihr wäret tot.«
»Nur ein Kratzer. Ein Versehen. Ließ sich nicht vermeiden. Die neue Dienstmagd hat die Waffe gereinigt, und da hat sich ein Schuss gelöst.«
»Fünfmal wurde auf Euch geschossen. Ich habe es selbst gehört.«
»Sie ist keine besonders gute Dienstmagd. Ich denke, wir sollten uns von ihr trennen.«
»Eure Nichte sagte, Ihr hättet das Mädchen bedrängt.«
»Ich habe sie für ihr schlechtes Putzen gescholten. Madame, lasst mich ein, bitte!«
»Die ganze Wohnung ist von blauem Pulver überzogen, Monsieur.«
»Ach ja? Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Dienstmagd ist gefeuert!«
»Sie war nackt. Sie sprach kaum Französisch. Die Polizei hat sie in eine Decke gehüllt und mitgenommen.«
»Ich gebe Ihnen fünfzig Francs, Madame, aber mein Geld ist in der Wohnung, also müsstet Ihr mich erst hereinlassen.«
»Willkommen daheim«, sagte die Concierge, öffnete die Tür weit und trat beiseite.
»Habt Ihr Etienne gefüttert?«, fragte der Farbenmann.
Paris, Montmartre, 1891
»Ihr seht also, es reicht nicht, ihn einfach zu erschießen«, sagte Juliette. »Ich muss zurück.«
Sie tranken Kaffee und teilten sich ein gebuttertes Baguette im Café Nouvelles Athènes am Place Pigalle. Juliette hatte angeboten, das Frühstück zu bezahlen, da sie als Einzige noch Geld besaß.
Draußen, um den Brunnen auf dem Platz, standen Modelle, junge Frauen und ein paar Männer, und warteten darauf, engagiert zu werden. Die Maler mussten nur zur sogenannten »Parade der Modelle« gehen, und mit ein paar Francs war der Vertrag besiegelt. Die Mädchen, die nicht das Glück hatten, von einem Künstler engagiert zu werden, konnten dann den Boulevard entlangschlendern, um ihre Dienste andernorts an den Mann zu bringen. Die Grenze war fließend zwischen Prostituierter und Modell, Tänzerin und Hure, Maitresse und Madame. Sie alle lebten in der demimonde.
»Und du bist wirklich überhaupt nicht verkatert?«, fragte Lucien, der jedes Mal ein bisschen seekrank wurde, wenn er sich im Café umsah.
»Muse«, erklärte Henri. Zu Juliette sagte er: »Du und der Farbenmann, ihr seid also der Grund, weshalb Hadrian seinen Wall quer durch Britannien gebaut hat?«
Sie nickte bescheiden. »Inspiration ist mein Geschäft.«
»Er hat diesen Wall nur errichtet, weil er Angst vor den Pikten hatte«, sagte Lucien eifersüchtig, der auch gern Kaiser von Rom gewesen wäre und ihr einen Wall quer durchs Land gebaut hätte.
»Oder weil sie ihn genervt haben«, sagte Henri.
»Mon Dieu! Dafür, dass ihr Maler seid, versteht ihr ja herzlich wenig von Inspiration«, sagte die Muse.
»Du bist nicht zufällig auch Jane Avril, oder?«, fragte Henri, dem ein böser Verdacht kam.
»Nein«, sagte Juliette, »ich hatte noch nie das Vergnügen ihrer Gesellschaft.«
»Oh, gut«, sagte Henri. »Denn ich glaube, sie steht kurz davor, mit mir das Bett zu teilen, und es wäre mir lieb, wenn sie auf meinen Charme und nicht auf ihren Hang zur blauen Farbe reagierte.«
»Ich versichere dir, Henri, es liegt an deinem Charme«, sagte Juliette und lachte melodiös, dann beugte sie sich vor und strich mit den Fingerspitzen über Henris Hand.
»Vielleicht, Mademoiselle, möchtet Ihr mich dann heute Abend mit Lucien ins Moulin Rouge begleiten und mir dabei behilflich sein, meine Herzensdame dazu anzuleiten, mich in der Horizontalen zu betrachten, da mein Charme dort am aufrichtigsten wirkt.«
»Es kommt mir vor, als würde ich mit einem Bock frühstücken«, sagte Lucien.
»Tut mir leid, Henri, aber ich kann nicht«, sagte Juliette.
»Einem Bock mit Hut«, sagte Lucien.
»Ich muss wirklich zum Farbenmann zurück. Ich habe keine andere Wahl.«
»Das kannst du nicht machen«, sagte Lucien. »Bleib bei mir. Soll er dich verfolgen. Ich werde dich beschützen.«
»Das kannst du nicht«, sagte sie.
»Dann flüchten wir. Du kannst doch durch Raum und Zeit reisen, oder? Wir verstecken uns irgendwo.«
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Er kann mich zwingen, zu ihm zurückzukehren. Wie gesagt, ich bin seine Sklavin.«
»Und was dann?« Lucien fiel fast von seinem Stuhl, als er versuchte, neben sie zu rücken, dann hielt er sich am Tisch fest.
»Solange er lebt, werde ich niemals frei sein.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass man ihn nicht töten kann«, sagte Henri.
»Man kann ihn nicht töten, solange es noch Bilder mit ungeerntetem Sacré Bleu gibt. Das ist meine Theorie. Als ich Manets Akt sah, witterte ich meine Chance. Ich dachte, dieses Bild würde ihn beschützen, aber inzwischen weiß ich, dass es noch andere Bilder gibt. Oder es steckt etwas ganz anderes dahinter. Er lebt. Ich spüre, wie er mich zu sich zieht.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Lucien. »Was können wir tun?«
Sie beugte sich zur Mitte des Tisches, und die beiden Maler gesellten sich verschwörerisch dazu. »Ich habe das Sacré Bleu mitgenommen, das wir aus dem Manet-Akt gewonnen haben. Es befindet sich in der Mine bei deinem Blauen Akt. Er wird mehr Bilder brauchen. Gauguin ist auf dem Weg nach Tahiti, also werde ich zu dem Maler gehen, den er für mich ausgesucht hat. Ein gewisser Monsieur Seurat.«
»Seurat ist ein peintre optique«, sagte Henri. »Er malt mit kleinen Punkten reiner Farbe. Auf riesigen Leinwänden. Es dauert Jahre, solch ein Bild fertig zu stellen.«
»Genau«, sagte sie. »Der Farbenmann wird dorthin gehen müssen, wo er die anderen Bilder versteckt hält. Ich weiß, dass es irgendwo in der Nähe sein muss, weil ich nur einen Tag fort war, als er mit dem Manet ankam. Und die Leinwand war noch aufgespannt, also konnte er damit nicht weit gereist sein. Sie war nicht einmal in einer Kiste. Wenn er sich das nächste Gemälde holt, um Sacré Bleu herzustellen, könnt ihr ihm folgen, die Bilder vernichten und ihn angreifbar machen.«
»Und wieso hast du das noch nicht getan?«, fragte Henri.
»Meinst du, ich hätte es nicht schon versucht? Ich kann es nicht. Einer von euch muss es tun.«
»Und wenn wir es machen, bist du frei?«, fragte Lucien. »Und wir können zusammen sein?«
»Ja.«
»Und Jane Avril wird mit mir ins Bett steigen?«, fragte Henri.
»Das hat rein gar nichts damit zu tun«, sagte Juliette.
»Ich weiß, aber ich dachte nur, ob du dich vielleicht in meinem Sinne einsetzen würdest, nachdem du mir immerhin das Herz gebrochen hast. Du sollst lediglich positiv auf sie einwirken, bis ich sie im Bett habe, aus Dankbarkeit, dass ich dir zur Freiheit verhelfe.«
»Nichts da!«, sagte Lucien.
Juliette lächelte. »Lieber Henri, sie wird die Deine sein, und zwar ohne jeden Zauber, bis auf den dir eigenen.«
»Gut, dann bin ich dabei«, sagte Henri. »Befreien wir die Welt vom Farbenmann.«
»Ach, meine Helden«, sagte sie, nahm die Hände der beiden und küsste sie. »Aber ihr müsst sehr vorsichtig sein. Der Farbenmann ist hinterhältig und gemein. Er war der Untergang Hunderter Maler.«
»Hunderter?«, sagte Henri mit einem Beben in der Stimme.