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Wir sind Maler und daher zu nichts nütze

Acht Tage lag Lucien bewusstlos da. Als sich die Nachricht von seinem Zustand auf dem Hügel verbreitete, kamen Nachbarn und Freunde in die Bäckerei, um Essen und Hilfe und eine Ablösung für Mère Lessard anzubieten, die ihrem Sohn nicht von der Seite weichen wollte.

»Wenn er aufwacht«, erklärte die Matriarchin, »gebt ihm erst mal etwas Wasser, dann ruft ihm in Erinnerung, dass seine Mutter ihn vor diesem Mädchen gewarnt hat.«

Régine schaffte es, die Bäckerei in Schwung zu halten, mit Gilles’ Hilfe, der früh aufstand und den Brotteig auf dem schweren Eichenbrett knetete.

Zwei Pariser Ärzte wurden gerufen, untersuchten Lucien, fanden keine Ursache für sein Koma und nuschelten beide irgendwas von »Abwarten und Tee trinken« vor sich hin, als sie gingen. Mère Lessard wollte nicht zulassen, dass Lucien ins Hôtel-Dieu gebracht wurde, das alte Hospital neben der Kathedrale von Notre-Dame.

»Dorthin geht man zum Sterben, aber mein Sohn wird nicht sterben.«

Gegen Ende der Woche jedoch kamen die Besucher meist, um zu trauern, zündeten Kerzen an und sprachen Gebete. Von Genesung, Hoffnung oder Luciens Zukunft war kaum noch die Rede. Mère Lessard und Régine wechselten sich dabei ab, Luciens trockene Lippen mit einem Tuch zu befeuchten, da er von Zeit zu Zeit schluckte. So verhinderte man tröpfchenweise, dass er verdurstete.

Am siebten Tag nahm Régine den Morgenzug nach Auvers-sur-Oise, um Dr. Gachet zu holen. Nachmittags brachte sie nicht nur den guten Doktor mit, sondern auch Camille Pissarro, der dort gerade zu Besuch gewesen war. Dr. Gachet, dessen Heilungsmethoden zur Homöopathie neigten, begann, dem steten Tropfen, den die Frauen dem Kranken verabreichten, Kräutertinkturen hinzuzufügen. Am achten Tag schlug Lucien die Augen auf und sah etwas, das ihm das weißbärtige Gesicht Gottes zu sein schien.

»Willkommen daheim, Rattenfänger«, sagte Pissarro.

Mère Lessard presste ein Taschentuch an ihren Mund und eilte hinaus, um ihre Tränen zu verbergen.

»Onkel Camille«, sagte Lucien. »Wie das?«

»Ich bin mit Gachet gekommen. Ich war in Auvers und habe mit Gauguin gemalt.«

»Ist Minette bei dir?« Luciens Stimme war staubtrocken.

Régine hielt eine Tasse an Luciens Lippen, und er nahm einen Schluck Wasser, was Pissarro Zeit gab, sich von der Erinnerung an seine Tochter zu erholen, die schon seit achtzehn Jahren tot war.

Er warf dem Doktor einen Blick zu, als wollte er fragen, ob er dem offensichtlich verstörten Jungen die Wahrheit sagen durfte.

Einen Moment lang strich Dr. Gachet über seinen roten Spitzbart, als könnte ihm die Reibung eine Prognose bescheren, dann nickte er.

»Minette ist von uns gegangen, Lucien«, sagte Pissarro. »Vor vielen Jahren schon. Erinnerst du dich nicht?«

»Das Blau!«, sagte Lucien, setzte sich eilig auf und packte Pissarro am Revers. »Hat es sie geholt?«

Pissarro starrte an Lucien vorbei in die Ecke des Zimmers. Dort gab es nichts zu sehen, nur die Farbe an den Wänden, doch er konnte Luciens Blick nicht ertragen, der um Antwort flehte. Der alte Maler hatte Tränen in den Augen.

»Sie war krank, hatte Fieber«, sagte er. Er schüttelte den Kopf und blickte beschämt zu Boden. »Vor langer Zeit, Rattenfänger.«

Lucien sah Dr. Gachet an. »Hat das Blau sie geholt?«

Der Arzt stellte einen Hocker neben das Bett und setzte sich darauf. »Lucien, du warst über eine Woche ohne Bewusstsein. Weißt du, was dir zugestoßen ist?«

»Es geht mir gut«, sagte Lucien. »Ich habe gemalt. Augenblick mal. Juliette? Ach, Onkel, das Bild! Du musst dir das Bild ansehen!«

Pissarro schüttelte sein Unbehagen ab und lächelte Gachet an. »Er wird schon wieder werden«, sagte er, als wäre er nun der Arzt.

»Das bleibt abzuwarten«, sagte Gachet. »Lucien, hast du irgendetwas Ungewöhnliches gegessen? Muscheln vielleicht? Pilze, die du nicht kanntest?«

»Ich hatte Fish and Chips. In London. Mit Juliette«, sagte Lucien. »Wo ist Juliette?«

»Mutter hat ihr eine crêpe-Pfanne auf den Kopf geschlagen«, sagte Régine, die in der Tür stand. »Danach ist sie nicht wiedergekommen.«

»Aber ich liebe sie«, sagte Lucien. »Und das Bild ist noch nicht fertig.«

Gachet stand auf. »Ruh dich ein wenig aus, Lucien. Camille und ich werden uns dein Bild mal ansehen.«

In Luciens Atelier standen Dr. Gachet und Camille Pissarro vor dem blauen Akt von Juliette.

»Extraordinär«, sagte Gachet.

»Ich fühle mich an Renoirs Olivenbäume erinnert. Damals war er in den Süden gefahren und versuchte zu beweisen, dass aller Schatten aus blauem Licht besteht – er war nicht bereit, ihn in einer anderen Farbe zu malen. Seine gesamte Palette bestand aus Blautönen.«

»Tatsächlich, Camille? Sie erinnert dich an Olivenbäume? Lass mich deinen Puls fühlen, mein Freund. Vielleicht bist du schon tot.«

»Ich meinte die Farben.«

Die Ateliertür ging auf, und als sie sich umdrehten, sahen sie Henri Toulouse-Lautrec, ziemlich zerzaust, als wäre er erst kürzlich ausgepackt worden, nachdem er lange Zeit eingequetscht in einer kleinen Kiste zugebracht hatte.

»Bonjour, Messieurs.« Henri war Pissarro bereits in Theo van Goghs Galerie begegnet, wo beide ihre Bilder zum Verkauf anboten. Im selben Moment, als Toulouse-Lautrec eintrat, wich der schwere, nussige Duft nach Leinöl (mit einer leicht strengen Note von Terpentin) dem erstickenden Pesthauch von Patschuli, Moschus, Absinth, Tabak und weiblichen Körpersäften, vermutlich von Verblichenen. Dr. Gachet wischte verstohlen seine Hand an der Hose ab, nachdem er Lautrec begrüßt hatte.

»Ich habe Eure Arbeiten gesehen, Monsieur«, sagte der Doktor. »Besonders Eure Lithographien sind bemerkenswert. Ich bin selbst Grafiker.«

»Das habe ich gehört«, sagte Henri. »Ich freue mich darauf, mir Euer Werk anzusehen. Doch nun zu Lucien. Man sagte mir, er sei wach?«

»Seit einer Stunde etwa«, erklärte Gachet.

»Dann wird er sich erholen?«

»So scheint es. Er ist sehr schwach. Dehydriert.«

Henri nahm den Hut ab und wischte mit einem Taschentuch über seine Stirn. »Gott sei Dank. Ich habe versucht, ihn zu retten, konnte ihn jedoch nicht davon überzeugen, dass er sich in Gefahr befand.«

Pissarro, der das Bild betrachtete und versuchte, Henris abscheulichen Gestank zu ignorieren, sagte: »Ihn retten? Wovor?«

»Vor ihr«, sagte Henri und wies zu dem Bild hin.

»Gefahr ist keineswegs das Erste, was mir einfällt, wenn ich sie betrachte«, sagte Gachet.

»Nicht vor ihr allein«, sagte Toulouse-Lautrec. »Auch vor dem Farbenmann.«

Nun starrten sowohl Gachet als auch Pissarro den kleinwüchsigen Maler an.

»Sie sind ein Paar«, sagte Lautrec.

»Vincent erwähnte einen Farbenmann, kurz bevor er starb«, sagte Gachet. »Ich dachte, er spräche im Delirium.«

»Vincent kannte ihn«, sagte Henri. »Ein ganz bestimmter Farbenmann. Klein, braun, sieht aus wie abgebrochen.«

»Und dieses Mädchen, Luciens Modell, steht mit ihm in Verbindung?«, fragte Pissarro.

»Sie leben zusammen in Batignolles«, sagte Henri.

Pissarro warf Gachet einen Blick zu. »Glaubst du, Lucien ist kräftig genug, dass er sprechen kann?«

16.eps

Régine fütterte Lucien mit Brühe und ein wenig Brot, und allmählich bekam er wieder Farbe im Gesicht. Madame Lessard brachte eine Schüssel herein und rasierte ihn mit einer Klinge, während Pissarro und Dr. Gachet ihr dabei zusahen. Als sie ging, schloss Dr. Gachet die Tür und setzte sich auf den Hocker neben Luciens Bett. Pissarro und Toulouse-Lautrec standen daneben.

Lucien sah jeden an, dann verzog er das Gesicht. »Gütiger Gott, Henri, kommt dieser Gestank von dir?«

»Ich wollte sofort herkommen, als ich hörte, dass du wieder bei Bewusstsein bist, aber die Mädchen bestanden darauf, mich vorher noch zu baden. Eine Woche habe ich für dich gewacht, mein Freund.«

»Man wacht über jemanden, und zwar nicht zehn Blocks entfernt, mit einem Haufen Huren, umnebelt von Absinth und Opium.«

»Jeder trauert auf seine Weise, Lucien. Und angesichts der Tatsache, dass du leben wirst, scheint mir meine Methode doch eine gewisse therapeutische Wirkung zu zeigen. Allerdings will ich mich gern dem Urteil des braven Doktors beugen.« Henri sah Gachet über seinen pince-nez hinweg an.

»Nein, ich glaube nicht, dass das der Fall ist«, sagte der Doktor.

»Dann bitte ich um Verzeihung, Lucien. Du wirst doch nicht leben.«

Gachet suchte nach Worten. »Das habe ich damit keineswegs gemeint …«

»Wenn nicht, darf ich dann dein neues Bild haben? Es ist ein Meisterwerk.«

»Es ist noch nicht fertig«, sagte Lucien.

»Sollten wir besser gehen?«, fragte Pissarro den Doktor, deutete auf sich selbst und Toulouse-Lautrec.

»Nein. Möglicherweise brauche ich euch beide, um Luciens Problem zu diagnostizieren.«

»Aber wir sind Maler …«

»Und daher zu nichts nütze«, sagte Lautrec.

Der Doktor hob einen Finger. »Ihr werdet es sehen.« Zu seinem Patienten sagte er: »Lucien, als du aufgewacht bist, hast du als Erstes nach Minette gefragt. Du sprachst von dem Blau‹ und hast gefragt, ob es sie geholt habe. Was meintest du damit?«

Lucien versuchte nachzudenken, doch in seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Er erinnerte sich an London und daran, die Turners und die Venus von Velázquez gesehen zu haben, aber er war noch nie in London. Alle waren sich dessen sicher, außer ihm. Sie sagten, er sei tagelang in seinem Atelier gewesen, bis man ihn fand, und niemand hatte ihn herauskommen sehen.

»Ich weiß nicht«, sagte Lucien. »Vielleicht war es ein Traum. Ich kann es nicht sagen. Ich habe einfach gespürt, dass Minette nicht mehr da war. Als wäre es eben erst passiert, und irgendetwas hätte sie mir genommen.«

»Du hast gefragt, ob das Blau sie geholt hat«, sagte der Doktor.

Lucien sah Gachets Augen, die groß und immer etwas traurig waren, als sähe er den Kummer im Herzen aller Dinge.

»Das klingt wirr, oder?«, fragte Lucien.

»Der Junge ist müde«, sagte Pissarro. »Lassen wir ihm seine Ruhe.«

»Keine Sorge«, sagte Gachet. »Aber du erinnerst dich nicht, oder? Du weißt nicht mehr, dass Minette krank war?«

»Nein«, sagte Lucien. Er spürte den Schmerz in seinem Herzen, weil sie weg war, doch er konnte sich nicht daran erinnern, wie seine erste große Liebe damals erkrankt war. Nur noch an den Pfeil in seinem Herzen, als man ihm berichtete, dass sie nicht mehr lebte. Den spürte er noch immer.

»Ihr etwa auch nicht?« Gachet wandte sich an Pissarro.

Der Maler schüttelte den Kopf und betrachtete seine Hände. »Vielleicht ist es ein Segen.«

»Und doch wart ihr beide dabei«, sagte der Doktor. »Ich habe Minette wegen ihres Fiebers behandelt. Ich erinnere mich, dass ihr dabei wart.«

»Ja«, sagte Pissarro, »ich hatte mehrere Bilder von Lucien gemalt, also habe ich …« Pissarro wusste nicht mehr weiter.

»Wo sind sie?«, fragte der Doktor.

»Wer?«

»Camille, ich kenne alle Eure Bilder. Nur ein Porträt von Lucien habe ich noch nie gesehen.«

»Ich habe ihn gemalt. Drei-, vielleicht viermal. Ich habe ihn im Malen unterrichtet. Ihn und meinen Sohn Lucien. Frag ihn.«

Gachet wandte sich an Lucien. »Kannst du dich an diese Sitzungen erinnern?«

Lucien gab sich alle Mühe. Sicher hatte er Stunde um Stunde stillsitzen müssen, und das zu einer Zeit, in der ihm das Stillsitzen schwergefallen sein dürfte, und doch empfand er nur so eine unbestimmte Angst, die tief in ihm zu einer Art Panik heranwuchs. »Nein. Nein, ich erinnere mich nicht.«

»Und du hast die Bilder nie gesehen?«

»Nein.«

Pissarro packte seinen Freund beim Arm. »Gachet, was hat das zu bedeuten? Minette ist vor über achtzehn Jahren gestorben.«

»Auch ich habe Erinnerungen verloren«, sagte Toulouse-Lautrec. »Und ich kenne noch andere, nun, eine andere, ein Modell. Es ist die Farbe, nicht?«

»Was ist die Farbe?«, fragte Pissarro, dessen Trauer sich in Ärger verwandelte. »Wir erinnern uns nicht wegen welcher Farbe?«

»Ich weiß es nicht. Sehen wir es uns genauer an.« Gachet tätschelte Pissarros Hand, um ihn zu beschwichtigen. »Dieser Farbenmann, habt Ihr mit ihm zu tun gehabt, Camille? Besonders damals, als Ihr Lucien gemalt habt?«

Pissarro schloss die Augen und nickte. »Ich erinnere mich an einen solchen Mann. Vor vielen Jahren. Er kam an dem Tag in die Bäckerei, als Père Lessard eines meiner Bilder verloste. Ich habe ihm keine Beachtung geschenkt. Er gab mir eine Tube mit Farbe zum Ausprobieren. Ultramarin, glaube ich. Ja, ich erinnere mich, ihn gesehen zu haben.«

»Habt Ihr die Farbe verwendet?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich vermute, das habe ich wohl getan. Es waren magere Zeiten. Ich konnte es mir nicht leisten, Farbe zu vergeuden.«

»Und, Lucien …«, sagte der Doktor. »Erinnerst du dich an diesen Farbenmann?«

Lucien schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, dass ein hübsches Mädchen das Bild gewonnen hat. Ich erinnere mich an ihr Kleid, weiß, mit großen, blauen Schleifen.« Lucien wandte sich von Pissarro ab. »Ich weiß noch, dass ich mir wünschte, Minette hätte auch so ein Kleid.«

»Margot«, sagte Pissarro. »Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr. Sie stand Modell für Renoir. Sein Schaukelbild und das große Gemälde vom Moulin de la Galette.«

»Ich kannte sie«, sagte Gachet. »Renoir bestellte mich nach Paris, um sie zu behandeln. Mit vollem Namen hieß sie Marguerite Legrand. Wisst Ihr, ob Renoir bei diesem Farbenmann gekauft hat?«

»Warum?«

»Weil auch er diese Gedächtnislücken hatte«, sagte der Doktor. »Ihm fehlen ganze Monate, und auch Monet erging es so. Ich bin nicht sicher, was Degas oder Sisley oder Berthe Morisot angeht, die anderen Impressionisten, aber ich weiß, dass alle Maler vom Montmartre Gedächtnislücken hatten.«

»Und Vincent van Gogh auch?«, fragte Henri.

»Davon gehe ich mittlerweile aus«, sagte Gachet. »Ihr wisst, dass Ölfarben schädliche Chemikalien enthalten können. Allein das Quecksilber im Zinnober kann einen zu etwas treiben, das sich Hutmacherwahn‹ nennt. Wir alle kennen jemanden, der durch Bleiweiß vergiftet wurde. Das Chrom im Chromgelb, Cadmium, Arsen, alles Elemente der Farben, die ihr verwendet. Deshalb habe ich meinen Malerfreunden stets davon abgeraten, mit den Fingern zu malen. Viele dieser Chemikalien dringen über die Haut in den Körper ein.«

»Und Vincent hat die Farbe sogar gegessen«, sagte Henri. »Lucien und ich haben es im Atelier Cormon gesehen. Der Meister hat ihn dafür gescholten.«

»Vincent konnte … nun … impulsiv sein«, sagte Lucien.

»Ein Irrer«, sagte Henri.

»Aber brillant«, sagte Lucien.

»Absolut brillant«, stimmte Lautrec zu.

Gachet sah Pissarro an. »Ihr wisst, dass Gauguin erzählt hat, er hätte in Arles mit van Gogh gestritten? Vincent wurde so wütend, dass er sich ein Stück von seinem eigenen Ohr abgeschnitten hat. Gauguin sah sich gezwungen, nach Paris zurückzukehren.«

»Danach hat sich van Gogh in ein Sanatorium einweisen lassen, oder?«, fragte Pissarro.

Da setzte Lucien sich auf. »Vincent ging es nicht gut. Das weiß jeder.«

»Sein Bruder sagt, er hätte seit Jahren Anfälle gehabt«, sagte Toulouse-Lautrec.

»Vincent konnte sich an den Streit nicht erinnern«, sagte der Doktor. »Absolut nicht. Mir hat er erklärt, er wüsste nicht, wieso Gauguin aus Arles abgereist sei. Er dachte, Gauguin hätte ihn wegen künstlerischer Differenzen verlassen.«

»Gauguin meinte, Vincent hatte Wutausbrüche, an die er sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnte«, sagte Pissarro. »Die Gedächtnislücken waren beunruhigender als die Ausbrüche selbst.«

»Alkohol«, sagte Lucien. »Henri fehlen manchmal ganze Wochen.«

»Ich ziehe es vor, sie als Investition zu betrachten, nicht als Verlust«, sagte Toulouse-Lautrec.

»Gauguin meinte, er hätte an dem Tag nichts getrunken«, sagte der Doktor. »Vincent war der Ansicht, seine Leiden hätten mit einem blauen Bild zu tun, das gerade fertig geworden war. Mit blauer Farbe wollte er nur nachts malen.«

Lucien und Pissarro sahen sich an, und ihre Augen wurden immer größer.

»Was?«, fragte Gachet, während sein Blick von dem jungen Maler zu dem älteren und wieder zurück wanderte. »Was, was, was?«

»Ich weiß nicht«, sagte Pissarro. »Wenn ich an diese Zeit denke, spüre ich etwas Unheimliches, Unheilvolles. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es kommt mir vor wie ein Traum. Wie ein Phantomgesicht am Fenster.«

»Wie die Erinnerung eines geprügelten Hundes«, sagte Henri. »So ergeht es mir zumindest mit der Zeit, die mir fehlt. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es ängstigt mich.«

»Genau!«, sagte Lucien. »Als würde die Erinnerung vor mir fliehen, je öfter ich daran denke.«

»Aber sie ist blau«, sagte Pissarro.

»Ja. Blau.« Lucien nickte.

Gachet strich über seinen Bart und blickte wieder hin und her, suchte auf den Mienen der Maler einen Anflug von Ironie, Arglist oder Belustigung. Doch da war nichts.

»Ja, da ist es wieder, das Blau«, sagte Henri. Dann zum Doktor: »Was ist mit Halluzinationen? Wenn man sich an etwas erinnert, das nie passiert ist?«

»All das könnte durch etwas ausgelöst werden, mit dem der Farbenmann die Farbe mischt. Selbst geringe Spuren könnten schuld sein. Es gibt Gifte, die so wirkungsvoll sind, dass eine stecknadelkopfgroße Menge genügt, um zehn Menschen zu töten.«

»Und du glaubst, dass Vincent deshalb Selbstmord begangen hat? Weil er Farbe von diesem kleinen Farbenmann gekauft hat?«, fragte Lucien.

»Da bin ich mir nicht mehr sicher«, sagte Dr. Gachet.

»Nun«, sagte Henri, »bald schon könnt Ihr sicher sein. Ich habe einen Wissenschaftler von der Académie beauftragt, Farbe zu analysieren, die ich bei dem Farbenmann gekauft habe. Wir werden das Ergebnis bald erfahren.«

»Das meinte ich nicht«, sagte Gachet. »Ich meine, ja, möglicherweise stand er unter dem Einfluss einer Chemikalie, nur bin ich nicht mehr überzeugt davon, dass Vincent wirklich Selbstmord begangen hat.«

»Aber Eure Frau sagte doch, er hätte es zugegeben, als er zu Euch kam«, sagte Pissarro. »Er meinte: Ich war es selbst.«

»Das genügte dem Gendarmen, und anfangs habe ich es auch nicht infrage gestellt. Aber überlegt doch mal: Wer schießt sich in die Brust und läuft dann meilenweit zum Arzt? Das tut niemand, der seinem Leben ein Ende setzen will.«