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Porträt eines Rattenfängers
Paris 1870
Als Lucien sieben Jahre alt war, kam der Krieg auf den Montmartre. Wegen des Krieges wurde Lucien zum Rattenfänger und hatte seine erste Begegnung mit dem Farbenmann.
Natürlich war der Krieg auch schon früher auf den Hügel gekommen. Im ersten Jahrhundert vor Christus hatten die Römer einen Tempel für Mars, den Gott des Krieges, dort errichtet, und vom selben Moment an konnte man keine Kuh mehr nach Paris katapultieren, ohne dass irgendwer lautstark die Belagerung des Montmartre forderte. Angesichts seiner sieben Frischwasserquellen, seiner Windmühlen, seiner Gemüsegärten und seines weiten Blicks über die ganze Stadt Paris hinaus waren sich alle einig, dass es keinen besseren Hügel gab, auf dem man sich belagern lassen könnte.
Und so begab es sich, dass Louis Napoleon den Preußen im Juli 1870 den Krieg erklärte, da er sich von Kanzler Bismarcks Vorschlag, einen preußischen derrière auf den spanischen Thron zu setzen (und daraufhin feindliche Truppen sowohl an der Nord- als auch an der Südgrenze Frankreichs zu bekommen) unter Druck gesetzt fühlte, wobei ihm seine erfolgreichen Feldzüge gegen Russland und Österreich Auftrieb verliehen und er dem Ruf seines illustren Onkels als größter Militärstratege seit Alexander zu folgen gedachte. Bis zum September hatten die Preußen die Franzosen schon grün und blau geprügelt, und Paris befand sich im Belagerungszustand.
Die Boulevards waren verbarrikadiert, und die Stadt sah sich von der preußischen Armee umzingelt. Die großen Krupp-Kanonen feuerten sporadisch, was lediglich dazu führte, dass die Feuerwehr von einem Viertel zum anderen hasten musste, um Brände zu löschen. Mitten auf dem Champs-Élysées standen Heißluftballons aufgereiht, die bei Nacht Briefe hinausschmuggeln sollten, was zumeist auch tatsächlich gelang.
Der erste Frost des Jahres lag an jenem Morgen auf dem Pflaster des Place du Tertre, als Lucien und Père Lessard am Rand des Hügels standen, gleich hinter dem Zaun, am Ende des Platzes, während sie darauf warteten, dass die Brote fertig wurden, und sahen, wie französische Soldaten mit Hilfe von Pferden hundert Kanonen die Rue des Abbesses heraufschafften.
»Sie werden sie in der Kirche von Saint-Pierre verstecken«, sagte Père Lessard. »Und als letzte Rettung einsetzen, falls die Preußen versuchen sollten, die Stadt einzunehmen.«
»Maman sagt, dass die Preußen uns schänden und töten werden«, sagte Lucien.
»Wirklich? Das hat sie zu dir gesagt?«
»Oui. Wenn die Treppe nicht perfekt gefegt ist, werden sie uns alle schänden und töten. Zweimal.«
»Aha, verstehe. Nun ja, die Preußen sind gründliche Menschen, aber ich glaube nicht, dass du dir darum Sorgen machen musst.«
»Papa, was ist schänden?«
Père Lessard tat so, als wäre ihm die Pfeife ausgegangen, und rieb mit einem Streichholz an einem der eisernen Gitterstäbe des Zauns herum, während er nach einer Antwort suchte, ohne tatsächlich antworten zu müssen. Wäre es um eine seiner Töchter gegangen, hätte er sie vielleicht wieder zurück zu ihrer Mutter geschickt, doch Madame hatte so eine Art an sich, dem Jungen einzureden, die Schuld für alles Übel, alle menschlichen Plagen sei mehr oder weniger dem unglückseligen Bäcker vom Montmartre zuzuschreiben, und er war nicht in der Stimmung, seinem einzigen Sohn zu erklären, wie und wann er die Idee mit der Schändung gehabt hatte.
Und das verdammte Streichholz versengte ihm die Finger.
»Lucien, hast du schon einmal den Begriff ›Liebe machen‹ gehört?«
»Ja, Papa, das ist, wenn du und Maman, wenn ihr euch küsst und kitzelt und zusammen lacht. Das weiß ich von Régine.«
Père Lessard schluckte. Die Wohnung war klein, aber er hatte immer geglaubt, die Kinder würden schlafen, wenn … Diese spöttische Frau mit ihrem ewigen Gekicher. »Ja, das stimmt. Nun, eine Schändung ist genau das Gegenteil. Es ist Hass machen.«
»Verstehe«, sagte Lucien und gab sich glücklicherweise mit der Antwort zufrieden. »Glaubst du, wir können mit den Kanonen schießen, bevor uns die Preußen schänden und töten?«
»Die Kanonen sind nicht unsere Sache. Unser Teil des Kampfes besteht darin, die hungrigen Menschen auf dem Hügel zu versorgen.«
»Das tun wir doch sowieso. Vielleicht kommt Monsieur Renoir und schießt mit den Kanonen, da er jetzt Soldat ist.«
»Vielleicht«, sagte der Bäcker. Renoir war zur Kavallerie eingezogen worden, obwohl er in der Stadt aufgewachsen war und noch nie auf einem Pferd gesessen hatte. Ein Ausbildungsoffizier, dem aufgefallen war, wie unbeholfen Renoir mit den Pferden umging, zeigte Mitleid mit dem Maler und heuerte ihn an, seiner Tochter das Malen beizubringen, womit er ihn vor den Kampfhandlungen bewahrte. Monet und Pissarro waren nach England geflohen. Bazille befand sich in der militärischen Ausbildung in Algier. Cézanne, der Haudegen der Bande, hielt sich in seiner geliebten Provence versteckt.
»Und wirst du deine notleidende Ehefrau nun endlich zum Tanz ausführen, nachdem deine Busenfreunde weg sind?«, sagte Madame Lessard. »In einem neuen, schwarz-weiß gestreiften Kleid, wie der Heilige Vater es verfügt hat?«
»Der Papst hat kein Wort davon gesagt, dass du ein schwarzweiß gestreiftes Kleid anziehen sollst, Weib.«
»Nun, nachdem deine Freunde nicht mehr da sind, kannst du ja nun zur Messe gehen, statt den ganzen Morgen Kaffee zu trinken und über Kunst zu palavern. Dann wirst du hören, was der Heilige Vater sagt.« Madame Lessard wandte sich ihren Töchtern Marie und Régine zu, die dabeistanden und taten, als stopften sie Strümpfe. »Fürchtet euch nicht, meine Küken, Maman wird nicht zulassen, dass ihr einen Ketzer heiratet.«
»Dann bin ich jetzt also ein Ketzer?«
»Wer behauptet denn so was?«, sagte Madame. »Ich werde ihm von Monsieur Robelard, unserem kernigen Portier, eine Ohrfeige verpassen lassen. Ich glaube, er nimmt zwei Francs dafür.« Madame hielt ihm die offene Hand hin. »S’il vous plaît.«
Père Lessard griff tief in seine Tasche. In gewisser Weise schien es ihm absolut sinnvoll, Monsieur Robelard, den Portier des Moulin de la Galette, dafür zu bezahlen, dass er die Ehre des Bäckers gegen einen Vorwurf der Ketzerei verteidigte, den niemand erhoben hatte. Père Lessard mochte vielleicht kein Künstler sein, doch er besaß den Geschäftssinn eines solchen.
Obwohl sich die Stadt im Belagerungszustand befand, sparte Madame auf ein schwarz-weiß gestreiftes Kleid, in dem sie zum Tanzen ausgeführt werden wollte. Doch im Moulin de la Galette wurde nicht getanzt und auch in keinem anderen Lokal der Stadt. Die Männer, die dageblieben waren, selbst solche, die ihre Familien noch aus der Stadt schicken konnten, bevor die Preußen kamen, verbrachten ihre Abende und Sonntagnachmittage mit der Verteidigung der Barrikaden, und die Frauen – sofern sie sich nicht in die Keller flüchteten – fütterten und umsorgten ihre Kinder. Die Krämer, Schlachter und Bäcker gaben sich alle Mühe, die Pariser zu versorgen, obwohl es nichts mehr gab.
Als Erstes verschwand das Federvieh aus den Hinterhöfen des Montmartre. Anfangs nur die Enten und die zarten Fleischhühner, doch als es kein Futter mehr gab, landeten selbst die Legehennen im Topf, bis schließlich kein einziger, uhrzeitsicherer Hahn, der den Sonnenaufgang hätte verkünden können, ungeschmort blieb. Da mit der Eisenbahn kein Vieh mehr vom Lande kam, lungerten die Schlachter des großen Marktes von Les Halles den lieben langen Tag in Cafés herum, mit Gläsern voll Pernod in den schinkengroßen Händen, bis auch davon nichts mehr da war. Die beiden Milchkühe auf dem Montmartre gehörten Madame Jacob von der crémerie und blieben eine Weile verschont, weil sie auf der Rückseite des Hügels und auf dem Brachland des Maquis, des Elendsviertels beim Friedhof, weideten, doch als auch die letzten Halme zu Stummeln abgegrast waren und schon die Pferde der städtischen Garde geschlachtet wurden, fanden auch Astrid und Sylvie mit den traurigen Augen ihren Weg ins pot-au-feu, das Madame Jacob mit ihren Tränen salzte.
Als die Belagerung im August begann, strotzten die Gemüsegärten von Montmartre und Maquis nur so vor Mais und schneckennarbigem Kürbis, doch schon zwei Wochen nach Ankunft der Preußen, als nichts mehr vom Land in die Stadt gelangte, blieb nur noch das Wurzelgemüse, welches so selten war, dass sich ein Herr, der eine weiße Rübe sein Eigen nannte, in Gesellschaft ganzer Horden von Pigalle-Huren wiederfand, die ohne Weiteres bereit waren, einen Abend feuchter Fröhlichkeit gegen das Versprechen auf eine halbe Knolle einzutauschen.
Als die preußischen Kanonen erstmals in der Ferne donnerten, wusste Père Lessard, was kommen würde, also kaufte er alles Mehl, das er bekommen konnte, dann holte er ein Dutzend leere Säcke aus dem Lager und führte Lucien den Hügel hinab in eine Fassbinderwerkstatt, eingezwängt zwischen den Fabriken von Saint-Denis. Dort mussten sie nur fragen, ob sie das feine Eichensägemehl in ihre Säcke füllen durften.
»Sie wollen damit Ihre Öfen befeuern, non?«, sagte der Fassbinder. »Gute Idee. Brennt heiß. Aber seien Sie vorsichtig. Es kann explodieren, wenn die Luft davon erfüllt ist.«
»Ja, wie beim Mehl«, sagte Père Lessard. »Ich werde aufpassen.« Er dachte gar nicht daran, das Sägemehl für die Öfen zu benutzen. Er schüttelte die Hand des Fassbinders, dann heuerte er einen Lumpensammler samt Eselskarren an, der die Säcke mit dem Sägemehl den Hügel hinaufschaffte.
»Wenn starke, französische Eiche gut genug für unseren Wein ist, dann ist sie auch gut genug für unser Brot«, sagte er zu Lucien, und sie stapften hinter dem Karren den Montmartre hinauf. »Der Trick ist, nie mehr als ein Viertel Sägemehl zu nehmen, weil sonst der Teig nicht aufgeht. Für Pasteten kann man auch die Hälfte nehmen.«
»Woher weißt du, dass man Sägemehl nehmen kann, Papa?«
»Unser Handwerk ist sehr alt, und niemand will irgendwelche Erklärungen hören, wieso der Bäcker keine Ware hat, also lernen wir Tricks. Es gab sogar mal einen Bäcker auf der Île de la Cité, der ausländische Studenten von der Sorbonne ermordet hat, um sie zu Pasteten zu verarbeiten. Und kein Kunde hat sich je beklagt. Nur ein deutscher Vater, der seinen Sohn vermisste und dessen Verschwinden untersuchte, kam ihnen schließlich auf die Schliche. Kannibalismus, direkt vor den Toren der Notre-Dame.«
Luciens Augen wurden angesichts dessen, was sein Vater da vorschlug, so groß wie seine Fäuste. »Aber, Papa, ich glaube nicht, dass ich groß genug bin, um aus Studenten Pastete zu machen. Vielleicht sollten Marie und Régine das lieber übernehmen. Die sind größer.«
»Nein, du fängst doch nicht gleich mit den Studenten an, Lucien. Die sind schnell, und es ist gar nicht so einfach, sie bewusstlos zu schlagen. Du fängst mit was Leichterem an. Wie wäre es mit einer Großmutter?«
Lucien stockte der Atem. Warum grinste der Lumpensammler? Vielleicht war er eingeweiht. Vielleicht schaffte er die Großmutter in die Bäckerei. Was gut wäre. Lucien wusste, wenn er sich keine Großmutter suchte, die auf dem Montmartre wohnte, würde er sie niemals ohne Hilfe den Berg hinaufbekommen.
»Vielleicht könnte ich eine Großmutter bitten, in die Bäckerei zu kommen. Ich könnte mir eine Geschichte ausdenken, dass Maman Hilfe braucht und …«
»Ach, das wird nicht nötig sein, Lucien. Du gibst ihr einfach eins über die Rübe. Das ist die einzig richtige Methode.«
Der Lumpensammler nickte, als sei es allgemein bekannt, dass die einzig richtige Methode darin bestand, einer Großmutter eins über die Rübe zu geben.
Lucien kamen die Tränen. »Ich möchte das nicht. Ich möchte keine Großmutter erschlagen. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht.«
»Nun, Krieg ist die Hölle«, sagte der Lumpensammler.
Père Lessard zerzauste Luciens Haare, dann drückte er den Kopf des Jungen an seine Hüfte. »Schscht, mein Sohn, hör auf zu weinen. Ich veräppel dich doch nur.«
Da warf der Lumpensammler seinen Kopf in den Nacken und lachte, wie nur ein Franzose mit sieben Zähnen und weingetränktem Gewissen lachen konnte, ein Laut, wie sein Esel ihn von sich geben mochte, wenn dieser mehr rauchen würde und eben den Teufel am Arsch geleckt hätte, um den Geschmack des Guten loszuwerden. Der Lumpensammler war kein Schurke, doch Schurken neideten ihm seine Lache.
Erniedrigt, erschüttert, atemlos schlug Lucien mit seinen Fäusten auf den Vater ein. Der erste Hieb prallte ungelenk vom Hintern des Bäckers ab, der zweite traf entschlossen und mit einiger Kraft Père Lessards Hoden, und in diesem Moment blieb für den Bäcker die Zeit stehen. Noch bevor ihm die Luft ausging und er vor Schmerz zu Boden sank, dachte er: Den Sinn für Humor hat der Junge von seiner Mutter.
Als Lucien den Hügel hinauf nach Hause rannte, sagte Père Lessard zu dem Lumpensammler: »Er ist ein sensibler Junge. Ich glaube, er sollte Künstler werden.«
Madame Lessard empfing ihn oben an der Treppe, die Fäuste in die Hüften gestemmt, das Kinn vorgestreckt wie der Bug eines Schlachtschiffes. »Du verlangst also von meinem Sohn, dass er meine Mutter zu Pastete verarbeiten soll, ja?«
»Nur eine Großmutter, nicht seine Großmutter. Ich habe ihn doch nur auf den Arm genommen.« Obwohl Lessard in diesem Moment dachte, wenn man denn eine Großmutter auswählen müsste, um sie zu Pastete zu verarbeiten, würde Madames Mutter – die an sonnigen Tagen, wenn die beiden Lokomotiven ihrer Brüste ihre Cumulus-Röcke über den Markt von Louveciennes schleppten, gefolgt von Kindern und Hunden auf der Suche nach Schatten – in der Tat eine außerordentlich reichhaltige Füllung abgeben. Er wusste, dass er für diesen Gedanken Abbitte würde leisten müssen, ob er nun wollte oder nicht.
»Ich verehre deine Mutter sehr, mein Schatz. Ich habe Lucien nur darauf vorbereitet, dass er uns neue Quellen für die Füllung unserer Pasteten erschließen soll.«
»Zum Beispiel seine Großmutter?«
»Zum Beispiel Ratten«, sagte Père Lessard.
»Nein …«, sagte Mère Lessard, und ihr Schreck war ausnahmsweise nicht gespielt.
»Kaninchen sind auch Nagetiere und schmecken ausgezeichnet.«
»Jetzt willst du mir auch noch Ratten vorsetzen. Mutter hat mich vor dir gewarnt.«
»Nein, chère, die Ratten sind nur für unsere Kundschaft.« Aber deine Mutter sollte dem Himmel danken, dass sie in Louveciennes lebt, sonst gäbe es demnächst Pastete à la »Fette Fregatte« für alle auf dem Hügel, dachte er.
Lucien widmete sich seinen Rattenfängerpflichten nicht sofort. Tatsächlich verbrachte er die ersten beiden Tage damit, seine Beute in die dunklen Ecken des Montmartre zu treiben, wobei er umgehend wieder aus denselben Ecken herausgetrieben wurde, von einer Ratte, die dreimal so groß war wie gerade eben noch und – sofern er sich nicht täuschte – mit einem Messer zwischen den Zähnen.
Madame Jacob, der die crémerie gehörte, fand ihn eines Morgens schmollend hinter dem Moulin de la Galette. Aus reiner Gewohnheit war sie zum Nordhang gelaufen, um ihre Kühe zu holen, doch die hatten längst das Zeitliche gesegnet, und sie hütete nur deren Geister.
»Heute keine Ratten, Lucien?«
»Niemand darf wissen, dass ich Ratten fange«, sagte Lucien.
»Nun, das tust du ja auch nicht, oder?«
»Die sind riesig! Sie haben versucht, mich zu schänden und zu töten.«
»Ja, aber Père Lessard muss den Montmartre versorgen, genau wie ich. Ich sag dir was, Lucien: Ich will dir etwas zeigen, das leichter zu fangen ist. Du bringst es mir, und dafür gebe ich dir die drei Fallen, die ich habe, und dazu ein wenig Knoblauch, den dein Vater für seine Ratten-pâté verwenden kann.«
»Leichter zu fangen?«, fragte Lucien. Er hoffte, Madame Jacob würde nicht wieder von den Großmüttern anfangen, denn nach seinen Erfahrungen mit den Ratten wollte er sich nicht vorstellen, wie die Schändung und Tötung ihn in Form einer zornigen Großmutter heimsuchen mochte.
»Escargots«, sagte Madame Jacob. »Du findest sie frühmorgens auf dem Friedhof, wenn der Nebel noch auf den Gräbern liegt.«
»Merde!«, sagte Lucien zum ersten Mal in seinem Leben.
Am nächsten Morgen, als sein Vater noch die holzigen Brote gehen ließ, um sie später zu backen, lief Lucien bereits die Rue Lepic hinauf, vorbei an den reglosen Mühlenflügeln des Moulin de la Galette und hinunter durchs Maquis mit seinen endlosen Reihen kleiner, baufälliger Häuser, den windschiefen Latrinen, geplünderten Gemüsegärten, hinter Zäunen aus Stöcken und hin und wieder einem morschen Wagen oder einem Haufen Schrott. Für gewöhnlich erwachte das Maquis mit Gebrüll, doch heute war alles seltsam still, nicht einmal eine späte Hure oder ein früher Müllsammler war zu sehen. Kein Hahn krähte, kein Hund bellte, und alle, die arbeiten konnten, waren weg, lagerten bei der Bürgerwehr hinter den Barrikaden. Aus den unzähligen Blechschornsteinen stieg nur noch aus einem teeriger Rauch über den Dächern auf – verbrannte ölige Lumpen, um die Morgenkälte zu vertreiben, das einzige Anzeichen dafür, dass im Maquis noch Leben war.
Ein Schauer durchfuhr Lucien, und er rannte den Hügel hinab zum Friedhof. Dort, zwischen den Platanen und Kastanien, den von Moos überwucherten Grabmalen und geschwärzten Bronzetüren der Krypten, fand er seine Beute. Auf dem dritten Grab, an dem er vorüberkam, einer ziemlich frischen Basaltplatte, die dem verstorbenen Léon Foucault gehörte, herrschte eine wütende escargot, die Hörner aufgestellt, über ihr steiniges Reich wie ein Drache über seinen Goldschatz.
»Aha!«, sagte Lucien.
»Aha!«, antwortete die Schnecke.
Was der Moment war, in dem Lucien seinen Holzeimer fallen ließ und weglief, armrudernd und schreiend, als hätte er einen Geist gesehen, wovon er einigermaßen überzeugt war.
»Warte, warte, warte, Junge!«, rief eine Stimme hinter ihm.
Lucien blickte über seine Schulter, während er weiterschrie, um nicht aus dem Konzept zu kommen. Doch handelte es sich weder um einen Geist noch um eine aggressive, redselige escargot, sondern um einen ziemlich alten Mann, klapprig wie ein Skelett, in einem ockerfarbenen, karierten Anzug, dessen beste Jahre längst vorüber waren. Der alte Mann hatte die Schnecke in der Hand, hielt das Schneckenhaus mit zwei Fingern, bot sie Lucien an.
»Sie gehört dir, Junge. Komm schon, nimm sie!« Er trug eine dicke Schildpattbrille auf der langen, knochigen Nase.
Lucien schlich zurück zu dem alten Mann, hob seinen Eimer hoch und hielt ihn hin. Er hatte diesen Mann schon mal gesehen, als er einen kleinen Garten im Maquis pflegte. Stets in seinem etwas fadenscheinigen, karierten Anzug. Das Revers zierte ein Orden an der Trikolore. Der alte Mann ließ die Schnecke in den Eimer fallen. »Merci, Monsieur«, sagte Lucien, verneigte sich leicht, obwohl er gar nicht wusste, wieso.
Der alte Herr war sehr groß, oder zumindest wirkte er so, weil er sehr dünn war. Er hockte sich hin und warf einen Blick in den Eimer. »In der hier sind bestimmt geniale Gedanken. Eine Stunde lang habe ich sie auf Foucaults Grab beobachtet.«
Lucien begriff nicht. »Die ist nicht für mich«, sagte er. »Sie ist für Madame Jacob.«
»Auch gut«, sagte der alte Mann und erhob sich. »Sie schmecken wie Dreck. Und ohne Butter oder Knoblauch könnte man auch ebenso Dreck fressen. Aber hier ist mein Geheimnis: Iss Schnecken nur von Gräbern großer Denker. Foucault war ein Genie. Er hat eine Möglichkeit errechnet, die Geschwindigkeit des Lichts zu messen. Und er ist erst seit zwei Jahren tot. Sicher sickert seine Seele noch immer aus dem Grab, um von dieser Schnecke gefressen zu werden. Wenn wir sie dann essen, nehmen wir etwas von dieser Genialität in uns auf, meinst du nicht auch?«
Lucien hatte keine Ahnung, doch der alte Mann erwartete offenbar eine Antwort. »Ja?«, versuchte es Lucien.
»Sehr richtig, junger Mann. Wie heißt du?«
»Ich bin Lucien Lessard, Monsieur.«
»Auch wieder richtig. Und ich bin Professeur Gaston Bastard. Du darfst mich Le Professeur nennen. Ich war Lehrer, bin im Ruhestand. Das Erziehungsministerium hat mir eine Pension und einen Orden zugestanden.« Er tippte an die Medaille an seiner Brust. »Als Auszeichnung.«
Wieder legte Le Professeur eine Pause ein und neigte Lucien sein Ohr zu, als erwartete er eine Antwort, also sagte Lucien: »Ausgezeichnet?«
»Très bien!«, sagte der Professeur. »Komm.« Der Professeur machte auf dem Absatz eines sehr abgelaufenen Stiefels kehrt und marschierte den Weg hinunter, sein Rücken so gerade wie der eines Zwanzigjährigen, das Kinn erhoben, als marschierte er einer Kompanie voran. »Weißt du, dass dieser ganze Friedhof auf einem Kalksteinbruch steht, den die Römer vor zweitausend Jahren gegraben haben?«
Der Professeur blieb stehen, sah sich um, wartete.
»Die Römer«, sagte Lucien. Langsam begriff er, wie der Hase lief. Wenn seine Mutter, sein Vater oder sonst irgendein Erwachsener mit ihm sprach, wollte der sich normalerweise nur selbst reden hören, und er konnte seine Gedanken schweifen lassen, zur süßen Minette oder zum Abendessen oder dass er pinkeln musste, doch der Professeur forderte seine ganze Aufmerksamkeit.
»Vieles vom frühen Paris wurde aus dem Kalkstein dieser Grube gebaut. Da! Da ist noch eine.«
Der Professeur blieb stehen und wartete, während Lucien eine fette Schnecke von einem sehr alten Grab nahm, das vor lauter Moos ganz grün war. Danach gingen sie weiter.
»Später haben sie damit begonnen, in Minen das Selenit des Montmartre abzubauen, aus dem sie – was – gemacht haben?«
Lucien hatte keine Ahnung, was Selenit war. Einen Moment lang hielt er die Luft an, versuchte nachzudenken. Er wusste, wenn etwas aus einer Mine kam, war es im Boden. Angestrengt überlegte er, was aus etwas gefertigt sein mochte, das im Boden war.
»Zwiebelsuppe?«, sagte er.
Der Professeur musterte Lucien über seine Brille hinweg. »Gips«, sagte er. »Selenit ist Gips. Der feinste auf der ganzen Welt. Vielleicht hast du schon mal den Ausdruck Pariser Gips gehört?«
Hatte Lucien nicht. »Ja«, sagte er.
»Nun, eigentlich war es Montmartre-Gips. Einst war der ganze Hügel so von Schächten durchlöchert, dass es zu gefährlich wurde, darauf zu bauen. Sie mussten Beton in die alten Minen schütten, um sie zu stabilisieren. Aber es gibt da unten noch einige Schächte. Sie zeigen sich nach starkem Regen oder wenn jemand seinen Keller zu tief gräbt. Einer beginnt sogar hier im Maquis.« Der Professeur zog seine Augenbraue hoch, als erwarte er eine Antwort, obwohl er keine Frage gestellt hatte.
»Im Maquis?«, sagte Lucien.
»Ja, nicht weit von meinem Haus. Er liegt versteckt. Da gibt es die besten Ratten.«
»Ratten?«, fragte Lucien.
Sie verbrachten noch eine Stunde damit, Schnecken von Grabsteinen zu sammeln, und der Professeur zeigte Lucien, wie man den glitzernden Schleimspuren unter Büsche und Blätter folgte, um die Schnecken aufzuspüren, die sich schon ihr Versteck für den Tag suchten.
»Sie schmecken besser, wenn du sie in eine Wanne mit Maisbrei setzt, damit sie sich eine Woche davon ernähren und ihre Körper von Erde reinigen. Nur gibt es leider keinen Mais. Aber du solltest sowieso nur Foucaults Schnecke essen.«
Der Professeur hatte darauf bestanden, dass Lucien die Schnecke behielt, die sie von Foucaults Grab gesammelt hatten, und rang ihm das Versprechen ab, dass er allein sie essen würde, damit er etwas von der Seele des großen Wissenschaftlers in sich aufnehmen konnte.
»Nun«, sagte der Professeur, »wenn wir ein paar Schnecken vom Friedhof Père Lachaise bekommen könnten, da sind ein paar große Denker begraben. Die meisten von denen, die du hier gesammelt hast, nähren sich an den Seelen von Gesindel.«
Lucien freute sich, dass er einen Eimer voller Schnecken hatte, doch als er dem alten Mann zu dessen Häuschen im Maquis folgte, kam ihm langsam der Verdacht, dass sein Wohltäter verrückt sein könnte.
Der Professeur führte Lucien in seine Zweizimmerhütte. Den größten Teil des festgetretenen Bodens im vorderen Raum nahm etwas ein, das wie eine kleine Rennbahn aussah. An der einen Wand standen zwei Käfige, beide etwa kniehoch. Einer war voller Mäuse, der andere voller Ratten. Je ein Dutzend beider Spezies.
»Pferde und Wagenlenker«, sagte der Professeur.
»Ratten«, sagte Lucien mit einem Schaudern. Dort im Käfig wirkten sie viel kleiner, weniger gefährlich, weniger dazu angetan, ihn zu schänden und zu töten, als jene, denen er in der Wildnis begegnet war.
»Ich bringe ihnen Kunststücke bei«, sagte der Professeur. Er griff in den größeren Käfig und holte eine der Ratten heraus, die anscheinend nichts dagegen einzuwenden hatte und an der Hand des alten Mannes schnüffelte, als suchte sie nach Futter.
»Ich will ihnen beibringen, die Streitwagenszene aus dem Roman Ben Hur nachzustellen«, sagte der Professeur. »Die Ratten werden meine Pferde sein und die Mäuse meine Wagenlenker.«
Lucien wusste nicht, was er sagen sollte, doch dann fiel ihm auf, dass dort tatsächlich sechs kleine Streitwagen auf dem Rundkurs standen.
»Ich werde sie trainieren und mein Schauspiel dann auf dem Place Pigalle vorführen und von den Leuten Geld verlangen, die das Rennen sehen wollen. Vielleicht werden sogar Wetten abgeschlossen.«
»Wetten«, wiederholte Lucien, wobei er versuchte, die Beigeisterung in der Stimme des Professeurs nachzuahmen.
»Man muss sie belohnen, wenn sie tun, was man will. Ich habe es mit Strafen versucht, wenn sie nicht folgen wollten, aber der Hammer scheint ihnen allen Lebensmut zu nehmen.«
Lucien sah sich an, wie der Professeur die Ratte vor einen Wagen spannte, diesen dann abstellte, um aus dem anderen Käfig eine Maus zu nehmen und diese in den Streitwagen zu setzen. Die Maus rannte sofort weg und fing an, nach einem Loch in der Wand zu suchen, von der die Rennbahn eingefasst war. Bald schon liefen überall in der kleinen Arena Ratten und Mäuse herum, und zwei Ratten waren sogar über die Wand geklettert und zerrten ihre Streitwagen um die Wände der Hütte, auf der Suche nach einem Weg ins Freie. Der Professeur forderte Lucien auf, ihm zu helfen, und gemeinsam jagten und fingen sie Rattenpferde und Mäusewagenlenker, bis die beiden japsend über dem kleinen Hippodrom knieten.
»Oh, man hat mich verspottet«, sagte der Professeur. »Hat mich verrückt genannt. Doch wenn mir mein Spektakel gelingt, wird man mich als Genie feiern. Auch ich habe Foucaults Schnecken gegessen, weißt du?«
»Pardon, Monsieur, aber man könnte Sie dennoch verrückt nennen.«
»Hältst du mich denn für verrückt, Lucien?«, fragte der Professeur in demselben schulmeisterlichen Ton, mit dem er auch alle anderen Fragen gestellt hatte.
Glücklicherweise fragte er den Bäckerjungen vom Montmartre – einem Ort, an dem sich Verrückte gern versammelten –, dessen Vater ihn gelehrt hatte, dass große Männer oft exzentrisch waren, unberechenbar und rätselhaft, und dass wir, nur weil wir nicht verstanden, welchen Weg sie wählten, ihre Sichtweise nicht infrage stellen sollten.
»Ich halte Sie für ein Genie, Monsieur, selbst wenn Sie verrückt sein mögen.«
Der Professeur kratzte sich mit einer Ratte seinen kahlen Kopf, während er über diese Antwort nachdachte, dann zuckte er mit den Schultern. »Nun, meinen Orden kann mir keiner nehmen. Du solltest Madame Jacob deine Schnecken bringen. Morgen kannst du wiederkommen und mir dabei helfen, den Mäusen beizubringen, wie man die Zügel hält. Komm, ich zeige dir, wo du Fleisch für die pâtés deines Vaters fangen kannst.«
Madame Jacob war nicht eben beeindruckt gewesen, dass Luciens Schnecken sich an den Seelen von Genies gütlich getan hatten, gab ihm aber dennoch die drei versprochenen Rattenfallen und dazu einen Knoblauchzopf für seinen Vater. Die Fallen waren kleine Metallkäfige, mit einem runden Loch an der Seite, durch das die Ratte hineinkonnte, und einem Federmechanismus, der die Öffnung verschloss, sobald die Ratte drinnen auf eine kleine Platte trat. An jeder Falle war eine Messingkette befestigt.
Der Professeur hatte Lucien den Eingang zur alten Gipsmine gezeigt, versteckt hinter einem Dickicht von Lorbeerbüschen etwas oberhalb vom Maquis. Lucien spielte oft mit Freunden im Maquis, weshalb er dieses Dickicht kannte und wusste, dass der Lorbeer von Brombeerranken mit hässlichen Dornen durchzogen war. Wegen ebendieser Dornen hatte man die Büsche nicht schon längst zu Brennmaterial verarbeitet und die Mine nicht aufgefüllt wie alle anderen auch.
»Du musst weit genug hineingehen, bis dahin, wo es finster wird«, sagte der Professeur. »Ratten sind nachtaktiv und halten sich am liebsten im Dunkeln auf. Aber geh nicht zu weit. Möglicherweise besteht dort Einsturzgefahr. Nur ein Stückchen weiter, als das Licht reicht. Dort habe ich meine kleinen Schützlinge gefangen.«
Am nächsten Morgen schleppte Lucien seine schweren Fallen in den Eingang der Mine, so weit wie das Licht reichte. Während er versuchte, nicht an die vielen Spinnweben und das unheimliche Dunkel der Mine zu denken, gab er in jede Falle ein kleines Stückchen von der Rinde eines Camemberts, dann schloss er die Klappe und zog den Mechanismus auf, der die Falle scharf machte, ganz wie Madame Jacob es ihm gezeigt hatte. Gerade schob er die Fallen im Dunkeln gegen die Wand, da bekam er es plötzlich mit der Angst zu tun, und er flüchtete in wilder Panik aus der Mine, als wären ihm Dämonen auf den Fersen.
Er nahm sich vor, am nächsten Tag, wenn es Zeit wurde, seine Fallen einzusammeln, eine Kerze mitzubringen und vielleicht ein Schlachtermesser, und eventuell konnte er eine der Kanonen aus der Kirche leihen, falls sie nicht gebraucht wurden, doch stattdessen brachte er seinen Freund Jacques mit, lockte ihn, indem er den Wert dessen, was es in der Mine zu holen gab, ein wenig übertrieb.
»Piratenschatz«, sagte Lucien.
»Sind da auch Schwerter?«, fragte Jacques. »Ich hätte gern ein Schwert.«
»Halt mal die Kerze. Ich muss meine Fallen suchen.«
»Aber wieso suchst du Rattenfallen?«
Lucien versuchte zu begreifen, wie es sein konnte, dass sie so weit ins Dunkel vorgedrungen waren und noch immer keine Fallen gefunden hatten. Jacques’ Fragen lenkten ihn dabei nur ab. »Jacques, sei still, sonst müssen wir deine Großmutter schänden und töten und Pastete aus ihr machen.«
Lucien war ziemlich sicher, dass seine Eltern stolz darauf wären, wie er das Problem anging, doch als Jacques zu schniefen begann, fügte Lucien hinzu: »Denn so ist es Piratenbrauch.« Was für eine Heulsuse. Wieso regten sich kleine Kinder eigentlich dermaßen über ein bisschen Pastete auf?
»Nein!«, sagte Jacques. »Das wirst du nicht tun! Ich werde …«
Doch bevor Jacques seine Absicht kundtun konnte, ertönte eine raue Stimme aus dem Dunkel.
»Wer ist da?«
Und damit war Jacques verschwunden, rannte heulend zum Ausgang, und Lucien hetzte ihm hinterher. Nach wenigen Schritten erlosch Jacques’ Kerze, und noch ein paar Schritte weiter stolperte Lucien und stürzte mit dem Kopf voran gegen die Wand des Minenschachtes. Grellweißes Licht blitzte vor seinen Augen, und er hörte einen hohen Ton, als hätte jemand in seinem Kopf eine Stimmgabel angeschlagen. Als er endlich wieder auf allen vieren hockte und die Lichtpunkte verblassten, befand er sich in vollkommener Finsternis und hatte keine Ahnung, wo der Ausgang der Mine sein mochte. Auch von Jacques’ Schritten war nichts mehr zu hören.
Er kroch ein paar Meter, fürchtete, er könnte wieder stolpern, wenn er aufstand. Das Gipsmehl am Boden der Mine war weich, und nach der schmerzhaften Begegnung mit der Wand wollte er lieber unten bleiben. Nur ein paar Meter noch, dann würde er vielleicht Licht sehen, und er machte einen langen Hals. Ja, da war definitiv Licht.
Er kam auf die Beine und strebte darauf zu, tastete sich mit den Zehen voran, bevor er es wagte, einen Fuß aufzusetzen. Er sah Umrisse, ein orangefarbenes Rechteck, und erst hielt er es für den Eingang der Mine, doch im Näherkommen entpuppte sich das Rechteck als etwas, das von der Seite her angeleuchtet wurde, und da merkte er, dass der Stollen eine Biegung beschrieb. Es ist eine Leinwand, dachte er, die Rückseite einer Leinwand. Er sah die Nägel im Holz des Rahmens, schimmernd im Lichtschein einer Kerze.
Hinter der Leinwand hörte er angestrengtes Atmen.
Lucien schlich noch etwas weiter um die Biegung und blieb stehen. Hielt die Luft an. Hinter der Leinwand stand ein kleiner Mann, nackt, braun, Füße und Beine weiß vom Gipsstaub, und beugte sich über etwas Dunkles, Langes, das am Boden lag. Mit einer Klinge schabte er an dem dunklen Ding herum. Sie schien aus Glas zu sein, doch auch sehr scharf.
Lucien fing an zu zittern, weil er die Luft anhielt, also gestattete er sich einen Atemzug, langsam, flach, ganz leise. Er spürte, wie das Herz in seinen Schläfen pochte, doch er wagte nicht, sich zu bewegen.
Der kleine Mann kratzte mit der Klinge an dem dunklen Ding entlang, dann strich er sie an einem irdenen Topf ab und seufzte zufrieden. Genau dieselbe Bewegung machte sein Vater, um das Mehl von seinem großen Brotbrett abzukratzen, wenn die Laibe geformt waren.
Dann bewegte sich das Ding am Boden, stöhnte wie ein Tier, und Lucien konnte gerade noch verhindern, dass er vor Schreck aufsprang. Das Ding war ein Mensch, eine Frau, und sie hielt ein Bein in den schmalen Lichtschein der Kerze. Dieses Bein war blau. Selbst in diesem trüben Licht konnte Lucien es genau erkennen. Jetzt sah er auch, wie sie dalag, seitlich auf dem Boden, ein Arm lang ausgestreckt, sodass die Hand im Dunkel verschwand.
Der kleine Mann klopfte die Klinge am Topf ab, dann drehte er sich um, zielte genau dorthin, wo das Gesicht der Frau sein musste, und drückte zu. Die Frau stöhnte auf, und Lucien hielt die Luft an, diesmal mit einem leisen Jaulen.
Da fuhr der kleine Mann zu Lucien herum, die Klinge in der Hand, die Augen im Dunkel wie schwarzes Glas: »Wer ist da?«
»Merde!«, rief Lucien zum zweiten Mal in seinem Leben, wenn es auch wie das Heulen einer Sirene herauskam, als er in die Finsternis stürzte, die Hände vor sich ausgestreckt, und das gellende »merde« hallte hinter ihm durch die Gänge, bis er Tageslicht und den rettenden Ausgang sah – das süße, grüne Licht auf den Dornenbüschen –, und fast war er schon da, beinah am Ziel, als am Eingang der Mine ein langer Arm auf ihn herniederkam und eine Hand ihn packte.