13
Die Frau im Schuppen
Mère Lessard hatte noch niemals wirklich Gewalt gegen einen anderen Menschen angewendet. Da sie auf dem Montmartre lebte, wo sich die Bohemiens, die Arbeiter und die Bourgeoisie in den Tanzsälen und Cafés mischten, hatte sie schon manchen Kampf miterlebt und Schnitte und Prellungen versorgt. Und während des Preußenkrieges hatte sie nicht nur den Beschuss der Stadt erduldet und den Verwundeten geholfen, sondern sie hatte auch die Aufstände nach dem Krieg erlebt, als die Kommunarden die Kanonen aus der Kirche von Saint-Pierre holten, die Regierung stürzten und dann an einer Mauer des Père Lachaise massakriert wurden. Sicher hatte sie stets angedeutet und sogar damit gedroht, dass sie gewalttätig werden konnte, und ihre Familie und die meisten Künstler auf dem Hügel waren mehr oder weniger davon überzeugt, dass sie jeden Moment Amok laufen und sie alle töten könnte wie eine wütende Bärin. Sie war stolz auf diesen Ruf und hatte lange daran gearbeitet. Doch Juliette eine crêpe-Pfanne vor die Stirn zu schlagen, war ihr erster echter Gewaltakt, und sie empfand ihn als zutiefst unbefriedigend.
»Vielleicht eine andere Pfanne«, sagte Régine, in dem Versuch, ihre Mutter zu trösten.
»Nein«, sagte Mère Lessard, »ich hätte auch die kupferne aus der Küche nehmen können. Die ist etwas leichter und eher für crêpes geeignet, aber die aus der Backstube ist wie dafür geschaffen, Flittchen einen Scheitel zu ziehen. Schwer, aber nicht zu schwer. Und ein Nudelholz schien mir auch nicht das Richtige. Schließlich wollte ich sie bewusstlos schlagen und nicht ihren Schädel zertrümmern. Nein, die Pfanne war perfekt.«
Sie trugen Lucien hinauf in ihre Wohnung und saßen neben dem Bett, auf dem er lag, still wie der Tod.
»Wenn vielleicht mehr Blut dabei gewesen wäre?«, sagte Régine. »So wie sich ein Hauch von Frucht zeigt, wenn man die Kuchenkruste anschneidet?«
»Nein«, sagte Madame, »ich glaube, der Schlag war perfekt. Sie ist wortlos umgefallen, ohne einen Tropfen Blut zu lassen. Sie ist wirklich hübsch, und das Blut hätte nur ihr Kleid beschmutzt. Nein, ich glaube, jemandem eins über den Schädel zu geben, das ist wie körperliche Liebe: eine undankbare Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, um den Frieden zu wahren.« Sie seufzte wehmütig, während sie das Foto von Père Lessard auf dem Nachttisch betrachtete. »Das Vergnügen liegt in der Drohung. Drohungen sind so etwas wie die Liebesgedichte des Kopfschlagens, und du weißt ja, wie romantisch ich veranlagt bin.«
»Mais oui, Maman«, sagte Régine. Sie stand auf und lauschte an der Tür. »Da ist jemand auf der Treppe.«
»Nimm die crêpe-Pfanne«, sagte Mère Lessard.
Régine erreichte das obere Ende der Treppe im selben Moment wie ein stierschultriger Mann in Arbeitskleidern, der einen Arm um ihre Taille schlang, sie herumriss, an die Wand drückte, die zappelnde Frau erbarmungslos küsste und ihr mit seinem Dreitagebart das Gesicht zerkratzte.
»Meine Liebste«, sagte Gilles, ihr Ehemann. »Meine Blume. Eigentlich wollte ich dich doch überraschen, aber schon bist du dabei, mir crêpes zu bereiten. Mein kleiner Schatz.«
»Mit der Pfanne wollte ich dich niederschlagen. Setz mich ab«, sagte Régine. Sie wand sich in seinen Armen, doch er drückte sie noch fester an die Wand. »Mein kleines Liebesferkelchen, ich habe dich vermisst.«
»Es ist Gilles«, rief Régine ihrer Mutter zu.
»Gib ihm eins über den Schädel«, sagte Mère Lessard. »Er hat es verdient, wenn er zu früh nach Hause kommt.«
»Oh«, sagte Gilles und ließ Régine fallen wie einen vergifteten Apfel. »Deine Mutter ist da.«
»Guten Abend, Gilles«, sagte Mère Lessard kalt und abfällig, denn sie mochte den kräftigen Zimmermann zwar gern, doch lag kein Vorteil darin, es ihm zu zeigen.
Gilles trat ins Schlafzimmer. »Was ist mit Lucien?«
»Diese Frau«, sagte Régine.
»Welche Frau?« Gilles war segensreich ahnungslos, was im letzten Monat in der Bäckerei vor sich gegangen war, da er die meiste Zeit in Rouen zu tun gehabt hatte.
»Da liegt eine ohnmächtige Frau in der Tür zum Schuppen«, sagte Mère Lessard. »Die hättest du mit raufbringen sollen.«
»Ach, natürlich«, sagte Gilles, als wäre er bis eben noch ein kompletter Vollidiot gewesen, der nicht merkte, wie abgrundtief nutzlos er war. »Das hole ich sofort nach.« Zu Régine sagte er: »Halt mir meine crêpes warm, Süße.« Und schon stürmte er die Treppe hinunter.
»Mit der Pfanne wollte ich dich umhauen«, rief Régine ihm in Erinnerung.
»Es tut mir leid«, sagte Mère Lessard. »Ich habe versagt, mein Kind. Ich habe zugelassen, dass du einen Blödmichel heiratest.«
»Ja, aber er ist stark, und mit Kunst hat er nichts am Hut«, sagte Régine.
»Was wiederum für ihn spricht«, sagte Madame.
Unten im ehemaligen Lagerschuppen, der inzwischen ein Atelier war, stand Gilles vor dem Bild von Juliette. Es stimmte zwar, dass er sich einen feuchten Kehricht für Kunst interessierte, doch er war ein wahrer Enthusiast, was den nackten, weiblichen Körper anging.
»Sacré bleu!«, rief er ohne den leisesten Hauch von Ironie.
»Brauchst du Hilfe?«, ertönte Régines Stimme aus der Backstube.
Gilles wich vor dem Bild zurück. »Nein. Hier ist sie nicht. Hier ist niemand.«
»Genau da hat sie gelegen«, sagte Régine, als sie in der Tür des Ateliers stand.
Gilles drehte sich so schnell um, dass er beinah das Gleichgewicht verlor. »Chère, du hast mich erschreckt. Wusstest du, dass dieser Schuppen ein Oberlicht hat? Ich habe noch nie einen Schuppen mit Oberlicht gesehen. Wozu braucht man hier ein Oberlicht?« Angesichts dieses Mysteriums zuckte er mit den Schultern.
Régine hielt sich die Hand vor den Mund, als müsste sie ein Schluchzen unterdrücken, dann sagte sie: »Komm rein, Gilles. Ich muss dir was erzählen.«
Der Farbenmann hörte den Schlüssel im Schloss klappern und machte ihr die Tür auf.
Bleu kam in die Wohnung und zupfte vorsichtig an der Krempe ihres Hutes. »Autsch, autsch, autsch, autsch.«
»Du musst mit ihm zu einem Ende kommen«, sagte der Farbenmann. »Man schöpft bereits Verdacht.«
»Autsch!«, rief Bleu, als sie den Hut abnahm und auf die Garderobe warf. Sie bückte sich, bis sie mit dem Farbenmann auf einer Höhe war. Fast traten seine Augen aus den tiefen Höhlen, als er sich die violette Beule an ihrer Stirn ansah. »Ach, ja?«
»Was ist passiert?«
»Was meinst du, was passiert ist?«
»Der Bäcker?«
»Nein, nicht der Bäcker. Seine Mutter, glaube ich. Ich habe niemanden kommen sehen.«
»Hast du sie getötet?«
»Ja genau. Ich weiß nicht, wer mich niedergeschlagen hat, hab ihn aber getötet.«
»Du bist schlecht gelaunt, wenn du Kopfschmerzen hast. Möchtest du Wein?«
»Ja. Wein und was zu essen.« Sie sank auf den Diwan. »Haben wir ein Dienstmädchen?«
Verlegen sah der Farbenmann sie an und zuckte mit den Schultern.
»Ich fass es nicht. Dann bring mir eben Wein. Was glaubst du, wer Verdacht schöpft?«
»Der Zwerg. Der kleine Maler. Er war hier und hat mir Farben abgekauft. Er hat sich nach dem Holländer erkundigt und nach Auvers.«
»Er bringt uns bestimmt nicht mit dem Holländer in Verbindung. Wie sollte er darauf gekommen sein?«
Wieder zuckte der Farbenmann mit den Schultern, dann reichte er ihr einen kristallenen Kelch mit Wein.
»Ich weiß nicht. Ein Brief vielleicht? Der Holländer war verrückt. Und nicht so, wie sie es sonst sind. Vielleicht sollten wir den Zwerg töten, nur zur Sicherheit.«
»Inwiefern soll das sicher sein? Er wäre gar nicht erst misstrauisch geworden, wenn du den Holländer nicht erschossen hättest.«
»Ein Versehen. Ließ sich nicht vermeiden«, sagte der Farbenmann.
»Nun, wir werden ihn jedenfalls nicht töten. Wir werden uns verstecken.«
»Was ist mit dem Bäcker? Schöpft er Verdacht?«
»Nein, er ahnt nichts. Er ist völlig entkräftet. Ich war mit ihm eine Woche in London. Es liegt an seiner Familie.«
»Hast du das Bild dabei?«
»Sehe ich so aus, als hätte ich das Bild dabei? Ich hab nur das hier.« Sie warf eine angebrochene Farbtube auf den Kaffeetisch. »Das ist alles, was vom Blau noch übrig ist.«
»Wieso hast du das Bild nicht dabei?«
»Weil mir gerade eben jemand fast den Schädel eingeschlagen hat und dieses Bild scheißgroß ist, oder? Es ist noch feucht, also konnte ich es nicht vom Rahmen nehmen und aufrollen. Und meinst du nicht, ich würde mich verdächtig machen, wenn ich einen überlebensgroßen Akt von mir selbst über den Montmartre schleppe?«
»Ich frag ja nur. London macht dich unleidlich.«
»London macht mich nicht unleidlich. Die Arbeit von Monaten zu verlieren, niedergeschlagen zu werden und mit dir reden zu müssen, macht mich unleidlich.«
»Ach«, sagte der Farbenmann, »ich mag London auch nicht.«
»Ich werd’s mir merken.« Sie trank aus. »Gibt es was zu essen?«
»Brathähnchen. Ich habe dir ein halbes aufgehoben. Also holen wir das Bild, dann töten wir den Bäcker und seine Familie, um unsere Spuren zu verwischen.«
»Nein, wir töten sie nicht. Was hast du nur immer mit dem Töten? Bist du beim Holländer auf den Geschmack gekommen und willst es jetzt immer so weitertreiben? Es ist nicht dasselbe, als wenn du die Dienstmädchen mit deinem Penis vergraulst. Wenn du weiter Künstler mordest, wird es irgendwann jemandem auffallen, meinst du nicht?«
»Glaubst du, ich könnte die Künstler mit meinem Penis vergraulen?« Er blickte zur Decke auf und bedachte diese Möglichkeit. Bleu wusste nicht, dass er es einmal bei der Malerin Artemisia ausprobiert hatte, woraufhin diese drohte, ihm den Kopf abzusägen. Gestörte, italienische Schnalle.
»Nein, aber du kannst sie auch nicht einfach töten. Nicht alle. Nicht so.«
»Wir machen es mit der Farbe. Und wenn du mitkommst, werden sie sich nicht erinnern.«
»Selbstverständlich werden sie sich nicht erinnern, denn sie werden tot sein.« Dann belegte sie ihn mit einem Wort aus einer toten Sprache, das sich grob mit »Furz im Wind« übersetzen ließ, jedoch prägnanter klang, ungefähr so: »Selbstverständlich werden sie sich nicht erinnern, denn sie werden tot sein, Stinkfurz.«
»Wir können umziehen und uns verstecken. Der Zwerg hat nach der rothaarigen Wäscherin gefragt. Vielleicht solltest du sie für ihn wiederfinden. Er malt schnell.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir können uns verstecken, aber ich muss die Sache mit Lucien zu Ende bringen.«
»Möchtest du ein Bad?«
»Essen.«
»Dann ein Bad? Ich habe den Boiler eingeschaltet. Das Wasser müsste heiß sein.«
»Du darfst nicht zusehen.«
»Nur ein bisschen? Deine Stirn verfärbt sich kardinalspurpur. Und das setzt sich deutlich von der weißen Haut ab.«
»Kardinalspurpur? Tatsächlich? Das kannst du so genau erkennen?«
Vielsagend zuckte er mit den Schultern, wie er es auch tat, wenn er sagen wollte: Ups, ich habe aus Versehen die Magd mit meinem Penis verscheucht und den einohrigen Holländer erschossen.
»Farbenmann«, erklärte er.
»Bring mir was zu essen, Stinkfurz«, sagte sie.
»Wird er sterben?«, fragte Régine ihre Mutter.
Sie saßen an Luciens Bett. Gilles stand in der Tür des winzigen Schlafzimmers.
Mère Lessard antwortete Régine nicht, sondern wandte sich direkt an Gilles. »Wenn er stirbt, musst du diese Frau finden und ihr den Hals umdrehen.«
Gilles wusste, dass er und Régine sich ein eigenes Zuhause hätten suchen sollen. Wären sie in diese kleine Wohnung beim Gare Saint-Lazare gezogen, die sein Chef ihm angeboten hatte, wäre er jetzt nicht in dieser Situation. Régine hätte keine zwanzig Minuten bis zur Bäckerei gebraucht, es gab dort gute Märkte, und die meisten Züge Richtung Westen, wo er bisher gearbeitet hatte, fuhren vom Gare Saint-Lazare. Er hätte rülpsen können, ohne dafür gescholten zu werden, man hätte ihn gefragt, was er zum Abendessen wollte, und vor allem hätte ihn niemand aufgefordert, ein hübsches Mädchen zu erwürgen. Noch nie hatte er sich gegen seine Schwiegermutter aufgelehnt, doch in diesem Fall würde ihm möglicherweise nichts anderes übrig bleiben. War er denn kein Mann? War er denn nicht Herr in seinem eigenen Haus? Régine war seine Frau, das hier war sein Zuhause, und er hatte, verdammt noch mal, genug davon, Anweisungen entgegenzunehmen.
»Habt ihr ihm schon Wasser ins Gesicht gespritzt?«, fragte Gilles.
»Nein«, sagte Mère Lessard. »Wir haben ihn die Treppe raufgeschleppt, ausgezogen und ins Bett gelegt. Wenn er davon nicht aufgewacht ist, wacht er auch nicht von ein bisschen Wasser auf.«
»Ich geh Wasser holen«, sagte Gilles. Wenn er vielleicht zeigte, dass er auch für anderes nützlich war, würde sie vergessen, dass er dem Mädchen den Hals umdrehen sollte.
Régine folgte ihm in die Küche und nahm ihm den Krug aus der Hand. »Vergiss das Wasser. Setz dich hin.«
Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und nahm seine großen, rauen Hände. Sie hatte Tränen in den Augen. »Gilles, wenn ich dir erzähle, was ich dir jetzt gleich erzählen werde, musst du mir versprechen, dass du mich nicht verlässt.«
»Versprochen.« Er war kein Mann von großer Einbildungskraft, doch was konnte sie ihm schon Schlimmes erzählen? Schließlich wohnte er mit ihrer Mutter unter einem Dach. Was konnte schlimmer sein als das?
»Ich habe meine Schwester, meinen Vater und nun auch meinen lieben Bruder Lucien auf dem Gewissen«, sagte sie.
Obwohl es keineswegs das war, was Gilles erwartet hatte, nickte er doch verständig. »Dein Schmorbraten?«, fragte er.
Augenblicklich sprang sie auf, nahm ein Küchenhandtuch, einen Untersetzer, eine Zuckerdose und warf ihm alles an den Kopf. »Nein, nicht mein verfluchter Schmorbraten, du Schwachkopf. Wie dämlich, ›Schmorbraten‹ zu sagen!«
»Lass mich leben«, sagte Gilles. »Ich mag deinen Schmorbraten.«
Als Mère Lessard aus dem Schlafzimmer kam, um nachzusehen, was da los war, bremste sich Régine, nahm Gilles bei der Hand und zerrte ihn die Treppe hinunter in die Bäckerei, um ihm das zu beichten, was sie ihrer Meinung nach verbrochen hatte.
Marie war nicht nur ihre Schwester gewesen, sondern auch ihre beste Freundin, und jedes Mal, wenn Régine an sie erinnert wurde, kämpfte sie mit den Tränen, was schwierig war in einer Stadt, in der jede vierte oder fünfte Frau, der man begegnete, Marie hieß.
»Papa liebte Maler und die Malerei«, sagte Régine. Gilles hatte ihr den hohen Hocker geholt, der vorn im Laden hinter dem Tresen stand, und Régine hockte nun darauf, neben dem schweren Marmortisch, auf dem meist das Gebäck gemacht wurde. »Maman hat sich immer über Papa lustig gemacht und ihn wegen seiner Malerfreunde aufgezogen, und sogar der kleine Lucien hat ihm damals gesagt, er sollte malen, aber Papa wollte nicht. Die beiden hatten sich ihre eigene, kleine Religion um die Künstler vom Montmartre geschneidert – als wären die Maler heilige Männer. Der heilige Monet von Le Havre, der heilige Cézanne von Aix, der heilige Pissarro von Auvers, der heilige Renoir von Paris – manchmal kam es einem so vor, als fütterten wir sämtliche Maler auf dem Hügel durch.
Schließlich, als ich neunzehn Jahre alt war, geschah etwas. Eines Morgens kam ich die Treppe herunter, und Papa saß genau hier am Gebäcktisch, mit einem offenen Farbkasten auf den Knien, und betrachtete die Farben wie heilige Reliquien. Lucien stand neben ihm, und die beiden wirkten wie in Trance. Sie hatten noch nicht einmal die Öfen angeheizt, und wir wollten bald öffnen. Ich weiß nicht, woher der Farbenkasten kam. Es war noch zu früh, als dass die beiden schon unten in Père Tanguys Laden am Pigalle gewesen sein konnten, und am Abend vorher war der Kasten noch nicht da gewesen. Lucien sah mich an und sagte: ›Papa wird Maler.‹
Wochenlang sprachen sie danach kein Wort mehr davon, aber Papa und Lucien räumten den Lagerschuppen leer, und jeden Tag, wenn das Brot aus dem Ofen kam, verschwand Papa im Schuppen und blieb dort bis zum Abendessen. Bald übernahm Lucien das Backen, damit Papa in Ruhe malen konnte. Eines Tages kam Papa in die Bäckerei gestürmt und schimpfte, er bräuchte Licht, denn ohne Licht gäbe es keine Farben.«
»Hat der Schuppen deshalb ein Oberlicht?«, fragte Gilles, der das Gespräch gern auf Zimmermannsthemen lenken wollte, von denen er etwas verstand.
»Ja! Ja!«, sagte Régine. »Maman wurde so wütend, dass ich schon dachte, sie würde ihn rauswerfen. Aber je mehr sie sich beklagte, desto öfter schloss sich Papa in seinem neuen Atelier ein, und der arme Lucien stand genau dazwischen. Er führte die Bäckerei, ging zur Schule, nahm seine Malstunden in Monsieur Renoirs Atelier um die Ecke – zu viel für einen kleinen Jungen. Marie und ich hätten ihm mehr zur Hand gehen sollen, aber Maman hatte die Familie in zwei Lager geteilt, nicht in Männer und Frauen, wie man annehmen könnte, sondern in Künstler und normale Menschen. Wir durften Lucien gerade so viel helfen, dass die Bäckerei lief, aber nicht mehr. Genau wie unser Vater war auch er ein fremdes Wesen, und bis er wieder zu Sinnen kam, sollten wir ihn auch als solches behandeln.«
»Ich dachte, so denkt sie über alle Männer«, sagte Gilles und empfand Mitleid für Lucien und Père Lessard, der für den Zimmermann fast etwas Mythisches hatte. Mère Lessard sprach von ihm abwechselnd mit Verachtung und Bewunderung. Eben war er noch so rein und heroisch, dass kein Mensch je an ihn heranreichen konnte, im nächsten Moment war er ein nutzloser, verantwortungsloser Träumer, ein Beispiel dafür, wie tief man fallen konnte.
Régine tätschelte den Arm ihres Mannes. »Was du auch tust, du darfst Maman niemals erzählen, was ich dir jetzt erzählen werde.«
»Niemals«, sagte Gilles.
»Maman war zu Besuch bei Grandmère, schon seit Tagen. Da tauchte eines Tages eine Frau auf. Eine junge Frau, rothaarig, glaube ich. Ich habe sie nicht richtig sehen können, nur ganz kurz, aber ich habe gesehen, wie Papa sie durch die Bäckerei hinaus in sein Atelier geführt hat. Sie gingen hinein und schlossen ab. Papa kam an diesem Abend nicht zum Essen heraus, und er reagierte auch nicht, als wir nach ihm gerufen haben. Am nächsten Morgen hat er nicht mal nach Lucien gesehen, als mein Bruder das Brot backte.
Am Abend darauf war Marie bereit, den Schuppen niederzubrennen, so wütend war sie, aber ich habe ihr gesagt, wir könnten nicht sicher sein. Vielleicht malte er sie nur. Schließlich schäkerte er nicht einmal – wie alle anderen Ladenbesitzer auf dem Hügel – mit den Mädchen, die in die Bäckerei kamen. Marie meinte, sie wollte trotzdem nachsehen.
Es war mitten im Winter, und es schneite seit zwei Tagen. Aus dem Schlafzimmerfenster sahen wir Rauch von Papas Ofen, aber kaum mehr als das. Marie stieg in ihre Winterstiefel, kletterte auf das Dach hinaus, um einen Blick durchs Oberlicht zu werfen. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, sie wieder durchs Fenster hereinzuziehen, aber davon wollte sie nichts hören. Sie balancierte auf dem Dachgiebel entlang, ein Fuß links, ein Fuß rechts. Es war so rutschig, dass sie bei jedem Schritt beinah den Halt verlor. Als sie dann dort ankam, wo sie durch das Oberlicht hineinsehen konnte, riss sie die Augen auf, aber nicht vor Schreck, sondern strahlend wie am Weihnachtsmorgen. Sie drehte sich um, weil sie mir etwas zurufen wollte, verlor den Halt auf dem Dachgiebel und rutschte ab. Ich habe gesehen, wie sie über den Rand glitt, und konnte spüren, wie sie am Boden aufschlug.«
»Das sind zwei Stockwerke«, sagte Gilles.
»Sie muss flach auf dem Rücken gelandet sein. Der Arzt konnte keine Knochenbrüche feststellen, und da war auch kein Blut, aber sie war bewusstlos.«
»Und ist dein Vater herausgekommen?«
»Nein. Ich habe geschrien und bin zu Marie gerannt. Ein paar seiner Malerfreunde, Cézanne und Pissarro, die gerade aus Auvers da waren, wärmten sich drüben in Madame Jacobs crémerie auf. Sie kamen herübergelaufen und haben geholfen, sie in die Bäckerei zu bringen. Lucien war bei seinem Unterricht, und Maman wurde nicht vor dem nächsten Morgen zurückerwartet. Madame Jacobs Tochter holte den Arzt. Cézanne und Pissarro klopften an die Ateliertür, bekamen aber keine Antwort. Als ich ihnen versichert habe, dass Papa drinnen war, haben sie die Tür aufgebrochen. Da fanden wir ihn, am Boden liegend, mit einer Handvoll Pinsel und einer vollen Palette, allein. Tot.«
»Mon Dieu!«, sagte Gilles.
»Der Doktor meinte, es sei sein Herz gewesen, aber er war ausgetrocknet, als hätte er tagelang ohne Wasser in der Wüste gelegen. Marie hielt noch drei Tage durch, ohne wieder aufzuwachen.«
»Und das Mädchen, das bei ihm gewesen war?«
»Ich habe sie nicht herauskommen sehen.«
»Aber das Bild? Konntest du sie damit nicht aufspüren? Um herauszufinden, was passiert ist?«
»Da war kein Bild«, sagte Régine und tupfte ihre Augen ab. »Kein einziges. Nur leere Leinwände. Dabei malte Papa mittlerweile schon seit Monaten, stundenlang, jeden Tag, aber wir haben nie ein Bild zu sehen bekommen. Nicht einmal Lucien hat eines gesehen.«
Gilles schloss sie in seine kräftigen Arme und hielt sie fest, während sie an seiner Brust schluchzte. »Es ist nicht deine Schuld, chère. Manchmal passieren schlimme Dinge. Du konntest es nicht wissen.«
»Aber ich wusste es. Ich hätte sie aufhalten können. Ich hätte Lucien aufhalten können, als er das Mädchen zum ersten Mal mit ins Atelier nahm. Es war genau wie bei Papa. Ich habe tatenlos zugesehen. Sie lieben ihre Malerei beide so sehr, dass ich es nicht konnte. Ich konnte einfach nicht.«
»Und deine Mutter hat nie erfahren, wieso das alles passiert ist.«
»Nein, es hätte ihr nur noch mehr wehgetan. Sie darf es nie erfahren. Selbst wenn Lucien nie mehr zu sich kommen sollte, darf sie es auf keinen Fall erfahren.« Da brach sie wieder zusammen, und Gilles hielt sie noch fester.
»Auf keinen Fall?«, sagte Mère Lessard von der Treppe her.
Gilles fragte sich, wie eine Frau von derart beträchtlichem Umfang so leise sein konnte, selbst auf einer knarrenden Treppe.