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Camera obscura
London 1890
Während Henri den Tag damit verbracht hatte, hinter das Geheimnis des Farbenmannes zu kommen, verbrachte Lucien eine Woche in London, sah sich Kunst an und poppte Juliette in jedem Winkel in Kensington.
»Wenn man nach nur einer Nacht, ohne zu bezahlen, aus dem Hotel verschwindet, rufen sie nicht mal die Polizei«, hatte Juliette gesagt.
»Aber sollten wir dann nicht das Viertel wechseln?« Lucien hatte noch nicht oft in Hotels gewohnt und war noch nie jemandem etwas schuldig geblieben.
»Ich mag die Gegend um den Hyde Park«, sagte Juliette. »Jetzt komm ins Bett.«
Auf seiner ersten Reise nach London war für ihn manches neu. Nicht zuletzt wurde ihm erstmals bewusst, dass Frankreich und England miteinander Krieg führten, seit – nun – seit sie getrennte Länder waren. Draußen vor der National Gallery am Trafalgar Square sah er sich die große Säule an, die für Admiral Nelson errichtet worden war, zu Ehren seines Sieges über Napoleons Flotte (und die spanische) in Trafalgar. Der Maler Courbet musste ins Exil, weil er dafür eintrat, Napoleons Version der Säule draußen vor dem Louvre niederzureißen (angeblich auf Betreiben seiner irischen Geliebten Jo).
»Courbet war ein Penner«, sagte Juliette. »Gehen wir uns die Bilder ansehen.«
Lucien fragte nicht, woher sie gewusst hatte, dass er an Courbet dachte, sondern unterwarf sich einfach ihrem Willen. Schon hatten sie den Kuppelsaal hinter sich, und Juliette hastete voraus, stürmte an Meisterwerken vorbei wie an leprösen Bettlern, bis sie schließlich vor Velázquez’ Venus stehen blieben.
Diese lag auf einer Chaiselongue und wandte ihnen den Rücken zu, die Haut von pfirsichweichem Weiß, und wenn Henri auch recht haben mochte, war ihr Hintern doch nicht ganz so hübsch wie Juliettes. Sie war eine Schönheit, das stimmte wohl, und weil sie in einem Spiegel, den ein Engel für sie hielt, zusah, wie man sie anschaute, empfand man doch ein leises Schamgefühl, weil man als Voyeur dastand. Doch sie wirkte nicht verächtlich, stellte den Betrachter nicht bloß, wie Manets Olympia es tat. Sie war auch nicht kokett wie Goyas Maja. Sie sah nur dabei zu, wie man sie ansah, oder besser: das spektakulärste Hinterteil der Kunstgeschichte. Doch bei allen korrekten Proportionen, der Nuancierung und selbst dem Licht auf ihrer Haut, auf ihrem Rücken und den Beinen, blieb ihr Gesicht im Spiegel dunkel und unscharf, als betrachtete sie den Betrachter von woanders her, durch ein Fenster, nicht mit Hilfe eines Spiegels.
»Er muss eine Camera obscura benutzt haben«, sagte Lucien. Die Camera obscura: eine echte Kamera, die es schon vor Erfindung des Films gab. Das Objektiv stellte das Bild auf den Kopf und projizierte es auf eine Mattglasscheibe, oft mit eingeritztem Raster, sodass der Maler malen konnte, was bereits fotografisch auf zwei Dimensionen reduziert war.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Juliette.
»Weil ihr Gesicht verschwommen ist, ihr Hintern aber scharf. Ich meine weich, aber klar. Genau wie der Engel, denn dessen Gesicht ist deutlich zu erkennen, obwohl es sich auf derselben Ebene wie der Spiegel befindet. Er hat die Putte aus der Phantasie gemalt oder bei einer anderen Sitzung. Das Auge des Betrachters stellt sich auf die verschiedenen Elemente einer Szene ein, ungeachtet der Entfernung, aber die Kamera kann nur ein gewisses Maß an Tiefe fokussieren. Hätte er nur das gemalt, was er sah, müsste ihr Gesicht scharf sein.«
»Vielleicht konnte er sie einfach nicht richtig erkennen.«
Lucien wandte sich ihr zu. »Sei nicht albern.«
»Ich? Du bist derjenige, der sich hier Apparate ausdenkt.«
Er lachte, dann schweifte sein Blick von ihr zu dem Gemälde, dann durch den ganzen Raum zu den anderen Bildern, dann wieder zu ihr. »Juliette?«
»Ja?«
»Danke, dass du mir das hier zeigst … diese Bilder.«
»Nützt nur nichts, wenn du sie dir nicht mal richtig ansiehst.« Sie grinste und ging weiter. Er folgte ihr brav, blieb dann jedoch vor einer besonders großen Leinwand stehen, einer Madonna aus der Renaissance.
»Heilige Mutter …«
»Was? Was?« Sie blieb stehen.
»Das ist ein Michelangelo«, sagte Lucien. Zwar war das Bild drei Meter hoch, doch sah es aus, als wäre es Teil eines noch größeren Werkes, vielleicht eines Altars, mit der Madonna in der Mitte und dem Jesuskind, das nach dem Buch in ihrer Hand griff. Ihre Brust war entblößt, aus unerfindlichem Grund, denn ansonsten war sie voll bekleidet. Der Schatten ihres Gewandes war schwarz, doch alles andere war nicht ausgemalt.
»Ich frage mich, wieso er ihren Umhang nicht gemalt hat«, sagte Lucien.
»Vielleicht wurde er müde«, antwortete Juliette.
»Merkwürdig.« Damit ging er weiter, zum nächsten Bild, auch dieses von Michelangelo. »Sieh dir das an.«
Es war eine Pietà namens »Die Grablegung Christi«, und auch auf dieser war der Umhang der Mutter Gottes unausgemalt geblieben, während der Rest des Bildes fertig war.
»Das hier hat er auch nicht beendet«, sagte Lucien. »Auf dem ganzen Bild gibt es kein Blau.« So aufgeregt war er, ein unvollendetes Meisterwerk zu sehen, dass er sie in den Arm nahm und an sich zog. »Du weißt, dass der Mantel der Jungfrau Maria blau sein musste. Man nannte es das Heilige Blau, weil es ihr vorbehalten war.«
»Was du nicht sagst«, sagte Juliette. »Vielleicht sollten wir uns die Turners ansehen, wenn wir schon mal in England sind.«
»Warum hat er das Bild fertig gemalt, aber kein Blau verwendet?«
»Vielleicht weil er ein nerviger, kleiner Pisser war«, sagte Juliette.
»Ein Meister würde nicht mittendrin aufhören zu malen, nur um zu nerven.«
»Und doch stehe ich hier, fast vierhundert Jahre später, und bin genervt.«
»Von Michelangelo?« Lucien war noch nie von einem Gemälde genervt gewesen. Er überlegte, ob das vielleicht ein weiteres Element eines Meisterwerks sein mochte, das er niemals würde erschaffen können. »Meinst du, ich könnte eines Tages auch so nervig werden?«
»Ach, cher«, sagte sie, »stell dein Licht nicht unter den Scheffel.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, nichts«, sagte sie und entschwebte, um sich die Turners und Constables anzusehen, oder die Schiffe und Schafe, wie sie diese gern nannte.
Eigentlich war sie nur nett gewesen. Lucien hatte nicht die geringste Chance, jemals auch nur im Entferntesten so nervig zu werden wie Michelangelo Buonarroti. Zum einen war Lucien im Grunde seines Herzens ein liebenswerter Mensch, gütig und großzügig, und abgesehen von den leisen Zweifeln hinsichtlich seiner Malerei, die ihn nur zu einem besseren Maler machten, war er angenehm unbelastet von Schuldgefühlen und Selbstverachtung. Ganz das Gegenteil von Michelangelo.
Rom, Italien, 1497
Der Florentiner war etwa im selben Alter wie Lucien, als sie ihn zum ersten Mal aufgesucht hatte. Und wie Lucien stand er nie in direktem Kontakt mit dem Farbenmann. Sie fand ihn in Rom bei der Arbeit an dem Gemälde Die Grablegung Christi, das ein Altarbild für die Kirche von Sant’Agostino werden sollte. Er war allein in seiner Werkstatt wie so oft.
Sie war ein junges Mädchen mit großen, wachen Augen im Bauernkleid, lose geschnürt und tief ausgeschnitten. Sie hatte die Farbe bei sich, frisch angerührt und abgefüllt in Schafsblasen, zur richtigen Größe gedreht und mit Darm verknotet, in einem Korb, der mit ungebleichtem Leinen ausgelegt war.
Der Maler blickte nicht einmal von seiner Arbeit auf. »Geh weg. Ich will niemanden um mich haben, wenn ich arbeite.«
»Verzeiht, Maestro«, sagte sie und knickste. »Aber ich soll Euch diese Farben bringen, vom Kardinal.« Er malte für die Kirche, da war doch bestimmt irgendwo ein Kardinal im Spiel.
»Was für ein Kardinal? Ich habe meinen eigenen Farbenmann. Verschwinde!«
Sie trat einen Schritt vor. »Ich weiß nicht, welcher Kardinal, Maestro. Ich wage nicht aufzublicken, wenn ein Kirchenfürst zu mir spricht.«
Schließlich sah er sie an. »Nenn mich nicht Maestro. Nicht, wenn ich das hier tue. Ich bin nicht mal ein Maler. Ich bin Bildhauer. Ich suche den Geist im Stein, geführt von Gottes Hand. Mit Farben arbeite ich nur für den Herrn.«
Nicht schon wieder, dachte sie. Sie hatte Florenz verlassen, weil sie Botticelli an sein religiöses Gewissen verlor, wegen dieses manischen Dominikanermönchs Savonarola und seinem Fegefeuer der Eitelkeiten. Botticelli konvertierte und warf einige seiner besten Bilder, ihre Bilder, ins Feuer. Michelangelo jedoch war schon seit einem Jahr hier in Rom. Wie hatte er von Savonarolas Lehren erfahren?
»Verzeiht, aber ich muss die Farben übergeben, sonst wird man mich züchtigen.«
»Nun gut. Dann lass sie hier.«
Sie näherte sich ihm, der auf seinem dreibeinigen Hocker sitzen blieb, und sank mit dem Korb in Händen langsam in die Knie, geflissentlich darauf bedacht, dass ein Knie unter dem Rock hervorkam, ein nackter Schenkel sichtbar wurde und ihr Kleid tiefe Einblicke gewährte. In dieser Haltung verharrte sie einen Moment, dann sah sie scheu zu ihm auf.
Er jedoch beachtete sie nicht. »Ach, fick dich«, sagte sie auf Englisch, weil sie es zum Fluchen für die beste Sprache hielt. »Du guckst mich ja nicht mal an, du Schwuchtel.«
»Was? Was machst du da?«, fragte der Maler. »So etwas sollte ein junges Mädchen nicht tun – ihren Körper herzeigen. Du solltest die Predigten des Savonarola lesen, junge Dame.«
»Ihr habt sie gelesen?« Sie riss ihren Korb an sich. »Das hätte ich mir denken können.« Damit stürmte sie aus der Werkstatt.
Der Farbenmann hatte recht. Gutenbergs Buchdruckmaschine war eine Erfindung, die nur Ärger machte. Die verfluchten Deutschen mit ihren Erfindungen.
Am nächsten Tag, als Michelangelo von seinem Bild aufblickte, war es ein junger Mann, kaum mehr als ein Knabe, der den Korb mit Farben brachte. Diesmal gab er sich nicht ganz so abweisend. Tatsächlich war Bleu als junger Mann in der Lage, ihn einige Wochen lang zu inspirieren, während er an zwei Altarstücken arbeitete und auch an zwei kleineren Bildern, die der Farbenmann gern entgegennahm, und sie folgten dem Maestro zurück in seine florentinische Werkstatt. Nach einem Monat jedoch wurde es schwierig.
»Ich kann ihn nicht zum Malen bewegen«, sagte Bleu zum Farbenmann.
»Was ist mit den beiden großen Bildern, an denen er arbeitet?«
»Er will sie nicht vollenden. Er weigert sich, die blaue Farbe auch nur anzurühren. Er sagt, sie entfernt ihn von Gott. Er sagt, sie hat etwas Unheiliges an sich.«
»Aber dass du in sein Bett steigst, dagegen hat er nichts, oder wie?«
»Auch das ist vorbei. Es liegt an diesem Scharlatan Savonarola. Er verdirbt alle Maler in dieser Stadt.«
»Zeig ihm das alte Athen oder Sparta. Die waren religiös und haben sich mit Begeisterung gegenseitig begattet. Das wird ihm gefallen.«
»Ich kann ihm überhaupt nichts zeigen, wenn er nicht malt. Und er will nicht. Gerade wurde der größte Marmorblock, den ich je gesehen habe, in die Werkstatt geschafft. Seine Schüler wollten mich nicht mal reinlassen.«
»Ich werde ihn besuchen«, sagte der Farbenmann. »Ich bringe ihn zum Malen.«
»Genau«, sagte Bleu. »Der Plan kann ja nur gelingen …«
Es dauerte noch zwei Monate, bis der Farbenmann zu Michelangelo vordrang. Dies gelang ihm, indem er die Schüler, die des Maestros Werkstatt hüteten, davon überzeugte, dass er mit Bildhauerwerkzeug handelte, nicht mit Farben.
Michelangelo stand auf einer Leiter, arbeitete an der riesigen Statue eines jungen Mannes. Selbst an der groben, ungeschliffenen Form erkannte der Farbenmann, dass Bleu dafür Modell gestanden hatte.
»Warum der große Kopf?«, fragte der Farbenmann.
»Wer seid Ihr?«, fragte der Maestro. »Wie seid Ihr hier hereingekommen?«
»Ich bin Händler. Seine Rübe ist gewaltig. Wie bei diesen Einfaltspinseln, die im Konvent Speichel lecken.«
Michelangelo schob seinen Meißel in den Gürtel und lehnte sich an die Statue. »Wegen der Perspektive. So scheint der Kopf, von unten betrachtet, die richtige Größe zu haben. Was wollen Sie hier?«
»Ist der Penis deshalb so klein? Wegen der Perspektive?«
»Keineswegs.«
»Wenn Ihr so kleine Penisse mögt, solltet Ihr es mal mit Mädchen versuchen. Die meisten haben überhaupt keinen Penis.«
»Verlassen Sie meine Werkstatt.«
»Ich habe Eure Gemälde gesehen. Als Maler seid Ihr viel besser. Ihr solltet malen. Die Figuren auf Euren Bildern sind keine solchen Missgeburten wie der hier.«
»Er ist keine Missgeburt. Er ist die Perfektion. Er ist David.«
»Soll er etwa mit dem dicken Schädel herumlaufen?«
»Hinaus! Angelo! Marco! Werft diesen Teufel hinaus!«
»Teufel?«, sagte der Farbenmann. »Scheiß auf den Teufel. Ich sag dem Teufel, was er zu tun hat. Der Teufel leckt den Staub von meinen Hoden. Donatellos David hat einen großen Kopf. Du bist besser als Donatello. Du solltest malen.«
Michelangelo stieg von der Leiter, seinen Hammer in der Hand.
»Gut, ich gehe.« Der Farbenmann eilte aus der Werkstatt, zwei Schüler auf den Fersen.
»Hast du ihn überredet?«, fragte Bleu.
»Er ist nervig«, sagte der Farbenmann.
»Hab ich dir ja gesagt.«
»Ich glaube, es liegt daran, dass du einen großen Kopf hast.«
»Ich habe keinen großen Kopf.«
»Wir müssen einen Maler finden, der Frauen mag. Bei Frauen bist du besser.«
Wieder in London, in der National Gallery, stand Lucien vor einem Bild von J. M. W. Turner, ein Dampfschiff im Sturm, ein mächtiger Mahlstrom von Farben und Pinselstrichen. Es schien, als würde das blinde Wüten das kleine Schiff in der Mitte jeden Augenblick verschlingen.
»Ich glaube, hier beginnt die wahre Malerei«, sagte Lucien. »Hier weicht das Objekt der Emotion.«
Juliette lächelte. »Angeblich hat er den Verstand verloren und sich an den Mast eines Dampfschiffes gefesselt, das hinaus in einen Schneesturm fuhr, nur um das Tosen des Sturms von innen heraus zu sehen.«
»Wirklich?«, sagte Lucien und fragte sich, wie es sein konnte, dass ein einfaches Ladenmädchen so viel von Malerei verstand.
»Wirklich«, sagte Juliette. Nicht wirklich. Turner hatte sich keineswegs selbst an den Mast des Schiffes gefesselt. »Das wird lustig«, hatte sie ihm erklärt. »Halt still, ich muss den Knoten hier noch festziehen.«
Sie blieben eine Woche in London und kehrten ins Atelier auf dem Montmartre zurück, ohne dass jemand mitbekommen hatte, dass sie weg gewesen waren. Lucien trat ein und brach bäuchlings auf der Chaiselongue zusammen. Juliette massierte ihm den Rücken, bis sie sicher sein konnte, dass er eingeschlafen war, dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und fischte den Atelierschlüssel aus seiner Tasche, damit sie die Tür hinter sich abschließen konnte.
Als sie in den warmen Herbstabend hinaustrat, nahm sie rechts von sich eine schattenhafte Bewegung wahr. Ein greller Blitz, dann nichts mehr.
Ein dumpfer Laut wie von einer geborstenen Glocke erklang durch das Viertel, was sogar die beiden Junggesellen hörten, die sich drüben auf der anderen Seite des Platzes in Madame Jacobs crémerie ein pot-au-feu (Rindereintopf) teilten und sich verwundert ansahen, als wollten sie sagen: Was, zum Teufel, war das?
In der kleinen Gasse lag Juliette bewusstlos im Eingang zum Atelier, und ihre Stirn wurde langsam grün und blau.
»Maman«, sagte Régine, »ich glaube, du hast sie erschlagen.«
»Unsinn, die wird schon wieder. Geh und sieh nach deinem Bruder.« Madame Lessard ragte über dem Modell auf, mit einer schweren, stählernen crêpe-Pfanne aus der Bäckerei in der Hand.
»Aber sollten wir sie nicht lieber reinbringen oder so?«
»Das kann Gilles machen, wenn er nach Hause kommt.«
»Aber Maman, Gilles arbeitet zurzeit in Rouen. Er kommt frühestens morgen wieder.«
»Ach, die frische Luft wird ihr guttun.« Sie stieg über Juliette hinweg ins Atelier. »Lucien, wach auf. Deine Schwester macht sich Sorgen um dich«, sagte Madame Lessard.