2

Frauen, ein Kommen und Gehen

Paris, Juli 1890

L ucien Lessard half gerade in der Familienbäckerei auf dem Montmartre aus, als ihn die Nachricht von Vincents Tod erreichte. Eine Verkäuferin, die in der Nähe von Theo van Goghs Galerie »Boussod et Valadon« arbeitete, war in die Bäckerei gekommen, um sich etwas für ihre Mittagspause zu holen, und erwähnte die Neuigkeit so unbekümmert, als machte sie eine Bemerkung über das Wetter.

»Hat sich erschossen. Mitten auf einem Maisfeld«, sagte das Mädchen. »Ach, und eine von diesen Lammpasteten, bitte.«

Es überraschte sie, dass Lucien der Atem stockte und er sich am Tresen festhalten musste.

»Tut mir leid, Monsieur Lessard«, sagte das Mädchen. »Ich wusste nicht, dass Sie ihn kannten.«

Lucien winkte ab, sie solle sich keine Gedanken machen, und fand die Fassung wieder. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, schmal und bartlos, mit einem schwarzen Haarschopf, der über seine Stirn und seine dunklen Augen fiel, die von so tiefem Braun waren, dass sie das Licht aus dem Raum zu saugen schienen. »Wir haben zusammen studiert. Er war ein Freund.«

Lucien zwang sich, das Mädchen anzulächeln, dann wandte er sich seiner Schwester Régine zu, die sechs Jahre älter war, eine zierliche Frau mit hohen Wangenknochen und ebenso dunklen Haaren und Augen, die am anderen Ende des Tresens arbeitete.

»Régine, ich muss es Henri erzählen.« Schon löste er seine Schürze.

Régine nickte und wandte sich eilig ab. »Ja, das musst du«, sagte sie. »Geh, nun geh schon!« Sie winkte ihm über die Schulter hinweg zu, und er sah, dass sie ihre Tränen verbarg. Sie weinte nicht um Vincent, denn sie hatte ihn ja kaum gekannt. Sie weinte um den Verlust eines anderen verrückten Malers, denn das war das Schicksal der Lessards.

Lucien drückte die Schulter seiner Schwester. »Kann ich dich hier allein lassen?«

»Geh. Geh, geh!«, sagte sie.

Lucien wischte Mehl von seiner Hose, als er über den Platz hinweg zum Rand des Montmartre lief, wo er Paris unter sich liegen sah, das in der Mittagssonne schimmerte. Im Osten stieg schwarzer Rauch von den Fabriken in Saint-Denis auf und warf einen Schatten über ganze Stadtviertel. Die Seine war eine silberblaue Klinge und zerschnitt die Stadt in zwei Teile. Die Boulevards flimmerten vor Hitze und buntem Treiben und dem beißenden Dampf der Pferdepisse. Über allem ragte der Butte Montmartre auf, der Hügel der Märtyrer, auf dem St. Denis, der erste Bischof von Paris, im Jahre 251 von den Römern enthauptet worden war, um dann sein letztes kanonisches Wunder zu vollbringen, indem er seinen abgeschlagenen Kopf aufhob und genau zu der Stelle trug, an der Lucien nun stand, und als er ein letztes Mal auf seine Stadt hinausblickte, dachte er: Weißt du, was da gut hinpassen würde? Ein großer Eisenturm. Aber was weiß ich denn schon? Kopfloses Gerede.

Es heißt, sein Kopf sei den ganzen Weg bis zur Avenue de Clichy gerollt, und nun machte sich Lucien auf, die zweihundertzweiundvierzig Stufen hinabzusteigen, zu ebenjenem Boulevard in der Gegend um den Place Pigalle, auf dem sich die Cafés, Bordelle und Cabarets drängten und an manchem Morgen beim Brunnen die »Parade der Modelle« stattfand.

Lucien lief zuerst zu Henris Wohnung an der Rue de la Fontaine, wo er niemanden antraf. Da er davon ausging, dass Henri nach einer weiteren Nacht bei Absinth und Opium seinen Rausch ausschlief, bat er die Concierge, ihm die Tür zu öffnen, doch der Maler war nicht zu Hause.

»Ich habe den kleinen Herrn seit zwei Tagen nicht gesehen, Monsieur Lessard«, sagte die Concierge, eine rundliche Frau mit hängenden Schultern, Knollennase und Wangen, die von geplatzten Äderchen überzogen waren. »Der beißt sogar dem Teufel noch in den Allerwertesten, bevor er abtritt.«

»Sollte er nach Hause kommen, teilen Sie ihm bitte mit, dass ich da war«, sagte Lucien. Er hoffte, Madame würde Henri gegenüber nichts von teuflischen Hintern erwähnen. Es würde ihn inspirieren, und zwar keineswegs in künstlerischer Hinsicht.

Dann um die Ecke zum Moulin Rouge. Das Cabaret war tagsüber nicht fürs Publikum geöffnet, aber manchmal zeichnete Henri die Tänzerinnen bei der Probe. Nur heute nicht. Das Tanzlokal war dunkel. Lucien suchte seinen Freund im Restaurant Le Rat Mort, wo er bisweilen dinierte, und in diversen Cafés an der Avenue de Clichy, bis er aufgab und sich auf den Weg zu den Freudenhäusern machte. Im Salon des Bordells an der Rue d’Amboise sagte ein Mädchen im roten Negligé, das auf einem samtenen Diwan gedöst hatte: »O ja, er war zwei Tage hier, vielleicht drei, ich weiß nicht. Ist es draußen dunkel? Eben will er einen noch ficken, dann will er einen zeichnen, während man sich kämmt, und schon kocht er einem Tee, und ununterbrochen trinkt er Absinth oder Cognac – da braucht man direkt eine Assistentin, um mit seinen Launen Schritt halten zu können. Diese Arbeit sollte eigentlich leicht von der Hand gehen, Monsieur. Als ich gestern aufwachte, bemalte er gerade meine Fußnägel.«

»Nun, er ist ein ausgezeichneter Maler«, sagte Lucien, als könnte das die Sorge des Mädchens lindern. Er betrachtete ihre Füße, doch die Hure trug schwarze Strümpfe. »Sicher sehen sie vortrefflich aus.«

»Ja, sie waren hübsch wie chinesische Schachteln, aber leider hat er sie in Öl bemalt. Er meinte, ich müsste meine Füße drei Tage hochhalten, bis die Farbe trocken ist. Er hat mir sogar seine Hilfe angeboten. Er ist ein rechter Schlingel.«

»Und wo könnte ich nach ihm suchen?«, fragte Lucien.

»Er ist oben bei Mireille. Sie ist ihm die Liebste von allen, weil sie noch kleiner ist als er. Zweite oder dritte Tür oben an der Treppe. Ich bin mir nicht sicher. Sie müssen nur lauschen. Die beiden quieken wie die Äffchen, wenn sie zusammen sind. Es ist direkt unschicklich.«

»Merci, Mademoiselle«, sagte Lucien.

Wie angekündigt hörte Lucien ein Quieken, als er zur dritten Tür oben an der Treppe kam, begleitet vom rhythmischen Juchzen einer Frau.

Lucien klopfte an die Tür. »Henri. Ich bin’s, Lucien.«

Von drinnen hörte er die Stimme eines Mannes: »Geh weg! Ich reite gerade die Grüne Fee.«

Dann die Stimme einer Frau, noch immer lachend: »Gar nicht wahr!«

»Gar nicht wahr? Man hat mich belogen! Lucien, wie es scheint, reite ich das völlig falsche Fabelwesen. Madame, nach Beendigung meines Geschäfts erwarte ich eine vollständige Erstattung meiner Auslagen.«

»Henri, ich habe Neuigkeiten.« Lucien war der Ansicht, dass der Tod eines Freundes keine Nachricht war, die man durch eine Bordelltür rufen sollte.

»Sobald ich mein Geschäft beendet …«

»Dein Geschäft ist bereits beendet«, kicherte Mireille.

»Nun, so ist es wohl«, sagte Henri. »Einen Moment, Lucien.«

Die Tür flog auf, und Lucien schreckte zurück, stieß gegen das Geländer, stürzte beinah in den Salon hinab.

»Bonjour!«, sagte Graf Henri Raymond Marie de Toulouse-Lautrec, der so gut wie nackt war.

»Du trägst beim Vögeln dein pince-nez?«, fragte Lucien. In der Tat klemmte ein pince-nez auf Henris Nase, die auf Luciens Brustbein zielte.

»Ich bin ein Künstler, Monsieur. Möchtet Ihr denn, dass ich aufgrund meiner schlechten Augen einen inspirierenden Moment versäume?«

»Und dein Hut?« Henri trug eine Melone.

»Das ist mein Lieblingshut.«

»Dafür kann ich mich verbürgen«, sagte Mireille, die bis auf ihre Strümpfe nackt war. Sie ließ sich aus dem Bett gleiten und tappte zu Henri hinüber, nahm ihm den Zigarrenstumpen aus dem Mund, dann huschte sie zum Waschbecken, paffend wie eine kleine Marshmallow-Lokomotive. »Er reitet nie ohne Hut.«

»Bonjour, Mademoiselle«, sagte Lucien, der sich seiner Manieren erinnerte und dennoch an Toulouse-Lautrec vorbei- spähte, um der Prostituierten bei der Körperpflege zuzusehen.

»Ist sie nicht bezaubernd?«, fragte Henri, als er Luciens Blick sah.

Plötzlich merkte Lucien, dass er bereits eingetreten war und sehr nahe bei seinem nackten Freund stand.

»Henri, zieh dir bitte eine Hose über!«

»Schrei mich nicht an, Lucien. Du kommst hier im Morgengrauen herein …«

»Es ist Mittag.«

»Im Mittagsgrauen und reißt mich von meiner Arbeit weg …«

»Meiner Arbeit«, sagte Mireille.

»… von meinen Recherchen weg«, sagte Toulouse-Lautrec. »Und dann …«

»Vincent van Gogh ist tot«, sagte Lucien.

»Oh.« Henri ließ den Finger sinken, den er erhoben hatte, um seinen Standpunkt deutlich zu machen. »Dann sollte ich mir lieber eine Hose anziehen.«

»Ja«, sagte Lucien, »das wäre besser. Ich warte unten auf dich.«

Es war nicht seine Absicht gewesen, doch als er den Gesichtsausdruck des Malers sah, wurde ihm klar, dass er Henri eben dasselbe angetan hatte wie die Verkäuferin ihm: Er hatte eine Falltür in die Welt geöffnet, in die Vincent abgestürzt war.

Lucien wartete ungeduldig bei den Huren. Um diese Tageszeit saßen nur drei im Salon (während das Haus abends vermutlich an die dreißig beherbergte), aber sie saßen alle zusammen auf einem der runden Diwane, und er fand es unhöflich, sich nicht zu ihnen zu gesellen.

»Bonjour«, sagte er, als er sich setzte. Das Mädchen im roten Negligé, das ihm den Weg gewiesen hatte, war weg, beglückte vermutlich oben einen Freier. Diese drei waren ihm neu, oder zumindest hoffte er, sie wären neu. Zwei waren älter als er, ein wenig von den Jahren gezeichnet, und jede hatte ihre Haare in einem anderen, unnatürlichen Rot gefärbt. Die dritte war jünger als er, aber sehr rund und blond und sah irgendwie clownesk aus, mit ihren Haaren, die oben auf dem Kopf zu einem Dutt geknotet waren, die Lippen groß und rot gemalt, ein grotesk erschreckter Schmollmund. Alle drei sahen aus, als könnte sie nichts mehr überraschen.

»Ich warte auf einen Freund«, sagte Lucien.

»Ich kenne Sie«, sagte die rundliche Blondine. »Sie sind Monsieur Lessard, der Bäcker.«

»Der Maler«, verbesserte Lucien. Verdammt. Henri hatte ihn vor zwei Jahren einmal hierher mitgenommen, weil er mit quälendem Herzschmerz zu kämpfen hatte, und obwohl der magische Nebel aus Brandy, Absinth, Opium und Verzweiflung die Erinnerung daran verschleierte, hatte er offensichtlich die Bekanntschaft dieses rundlichen Clownmädchens gemacht.

»Ja, Maler«, sagte die Blonde. »Aber Ihren Lebensunterhalt verdienen Sie als Bäcker, oder?«

»Ich habe erst letzten Monat zwei Bilder verkauft«, sagte Lucien.

»Ich habe letzte Nacht zwei Bankiers gelutscht«, sagte die Hure. »Bin ich deswegen jetzt Aktienhändlerin oder was?«

Eine der älteren Huren stieß der Blonden ihren Ellbogen gegen die Schulter, dann schüttelte sie streng den Kopf.

»Tut mir leid. Sie wollen nicht übers Geschäft reden. Haben Sie denn inzwischen dieses Mädchen verwunden, um das Sie damals weinen mussten? Wie hieß sie noch? Josephine? Jeanne? Die ganze Nacht haben Sie ihren Namen gejault.«

»Juliette«, sagte Lucien. Was treibt Henri? Er muss sich doch nur anziehen, nicht das Schlachtfeld malen.

»Stimmt. Juliette. Haben Sie die Schlampe verwunden?«

Der nächste Ellbogen, diesmal von der anderen Hure und in die Rippen.

»Autsch. Biest. Ich wollte nur nett sein.«

»Es geht mir gut«, sagte Lucien. Es ging ihm überhaupt nicht gut. Es ging ihm sogar noch schlechter, nachdem er nun annehmen musste, dass er möglicherweise versucht hatte, Trost auf dem Leib dieses groben Weibes zu finden.

»Meine Damen«, rief Toulouse-Lautrec von der Treppe her. »Ich sehe, Sie haben meinen Freund Monsieur Lucien Lessard, den Maler vom Montmartre, bereits kennengelernt.« Er nahm die Treppe mit Hilfe seines Gehstocks, hielt auf jeder Stufe inne. In manchen Momenten schmerzten seine Beine schlimmer als in anderen, zum Beispiel nach einer Sauftour.

»Er war früher schon mal hier«, sagte der mollige Clown.

Henri schien Luciens Entsetzen bemerkt zu haben, denn er sagte: »Entspann dich, mein Freund. Du warst viel zu betrunken und betrübt, um dem Charme der Damen zu erliegen. Du bist noch so rein und jungfräulich wie am Tag deiner Geburt.«

»Ich bin doch keine …«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Henri. »Ich bin und bleibe dein Beschützer. Entschuldige die Verspätung. Es scheint, als hätten sich meine Schuhe über Nacht davongestohlen, und ich musste mir welche leihen.« Am Fuß der Treppe angekommen, zog er seine Hosenbeine hoch und zeigte ein Paar geschnürte Damenschuhe her, größer, als man sie von Damen kannte, denn mochte Henri auch klein sein, so waren doch nur seine Beine zu kurz, aufgrund einer Verletzung in der Kindheit (und des Umstandes, dass seine Eltern Cousin und Cousine ersten Grades waren). Seine übrigen Körperteile waren von normaler Größe.

»Das sind meine Schuhe«, sagte die runde Blondine.

»Nun, das mag wohl sein. Ich habe mit der Madame eine Übereinkunft getroffen. Lucien, wollen wir gehen? Ich glaube, ein Mittagsmahl wäre angezeigt. Womöglich habe ich seit Tagen nichts gegessen.« Er tippte zum Gruß an seinen Hut. »Adieu, meine Damen. Adieu.«

Lucien schloss sich seinem Freund an. Sie gingen durchs Foyer und traten hinaus ins grelle Sonnenlicht, Henri ein wenig wacklig auf den hohen Absätzen.

»Weißt du, Lucien, es fällt mir wirklich schwer, eine Hure nicht zu mögen, aber diese Blonde, die sie Miesmarie nennen, hat es doch geschafft, meinen Unmut zu wecken.«

»Hast du ihr deshalb die Schuhe gestohlen?«

»Nichts dergleichen habe ich getan. Ein armes Ding, das auch irgendwie zurande kommen muss …«

»Deine eigenen Schuhe stecken hinten in deinem Hosenbund, unter dem Mantel.«

»Nein, bestimmt nicht. Das ist mein Buckel, eine unglückliche Folge meiner königlichen Abstammung.«

Als sie vom Kantstein auf die Straße traten, um diese zu überqueren, fiel ein Schuh unter Henris Mantel hervor und landete auf dem Kopfsteinpflaster.

»Nun, sie war unfreundlich zu dir, Lucien. Das darf man sich nicht bieten lassen. Spendier mir was zu trinken und erzähl mir, was unserem armen Vincent zugestoßen ist.«

»Du sagtest, du hättest seit Tagen nichts gegessen.«

»Na, dann spendier mir eben was zu essen.«

02.eps

Sie speisten am Fenster der Toten Ratte und betrachteten die Passanten in ihren farbenfrohen Sommerkleidern, während Toulouse-Lautrec verzweifelt versuchte, sich nicht erneut zu übergeben.

»Vielleicht ein Cognac, um deinen Magen zu beruhigen«, sagte Lucien.

»Eine ausgezeichnete Idee. Aber ich fürchte, Miesmaries Schuhe sind hin.«

»C’est la vie«, sagte Lucien.

»Ich glaube, Vincents Ableben ist mir auf den Magen geschlagen.«

»Verständlicherweise«, sagte Lucien. Vermutlich hätte auch er sein Mahl in kunterbuntem Schwall erbrochen, wenn er seine Bestürzung über den Tod eines Freundes nach drei ausschweifenden Tagen und Nächten so verdrängen wollte, wie Henri es versuchte. Gemeinsam mit Vincent hatten beide das Atelier Cormon besucht, Seite an Seite mit ihm gemalt, getrunken, gelacht und in den Cafés des Montmartre über Farbenlehre gestritten. Einmal hatte Henri einen Mann zum Duell gefordert, der Vincents Werk beleidigte, und hätte ihn getötet, wäre er nicht zu betrunken gewesen, um tatsächlich zu kämpfen.

Lucien fuhr fort: »Ich war erst letzte Woche bei Theo in der Galerie. Er meinte, Vincent würde malen wie ein Berseker und Auvers täte ihm gut. Er arbeite fleißig. Selbst Dr. Gachet hat ihn nach dem Zusammenbruch in Arles für geheilt erklärt.«

»Ich mochte seine Ideen und seinen Umgang mit Farbe und Pinsel, aber er war immer dermaßen emotional. Wenn er es sich vielleicht hätte leisten können, mehr zu trinken …«

»Ich glaube nicht, dass ihm das geholfen hätte, Henri. Aber wenn seine Arbeit doch gut war und Theo seine laufenden Kosten übernahm, wieso hat er dann …?«

»Eine Frau«, sagte Toulouse-Lautrec. »Wenn eine angemessene Weile vergangen ist, sollten wir Theo in der Galerie besuchen und uns Vincents letzte Werke ansehen. Ich wette, es gibt da eine Frau. Kein Mann bringt sich so einfach um, nur wenn sein Herz gebrochen ist. Wer wüsste das besser als du?«

Lucien spürte einen Schmerz in seiner Brust – seine Erinnerungen und sein Mitgefühl für das, was Vincent erlitten haben musste. Ja, das konnte er verstehen. Er seufzte, starrte aus dem Fenster und sagte: »Weißt du, Renoir meinte immer, sie sind alle ein und dieselbe Frau. Ein Ideal.«

»Du bist nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, ohne deine Kindheit im Umfeld der Impressionisten zu erwähnen, oder?«

Lucien wandte sich seinem Freund zu und grinste. »So wie du nicht in der Lage bist, unerwähnt zu lassen, dass du als Graf auf die Welt gekommen und auf einer Burg aufgewachsen bist.«

»Wir alle sind Sklaven unserer Vergangenheit. Ich sage nur, wenn wir in van Goghs Vergangenheit graben, wirst du sehen, dass im Herzen seiner Krankheit eine Frau wohnt.«

Lucien schüttelte sich wie ein Hund, als könnte er so die Erinnerung und die Trauer in diesem Gespräch loswerden. »Hör mal, Henri, van Gogh war ein ehrgeiziger Maler, talentiert, aber labil. Hast du je mit ihm gemalt? Er hat die Farbe gegessen. Ich war gerade dabei, die Farbe einer moulin anzumischen, und als ich zu ihm hinübersehe, hat er eine halbe Tube Färberröte auf den Zähnen.«

»Vincent hatte ein Faible für einen guten Roten«, sagte Henri grinsend.

»Monsieur«, sagte Lucien. »Ihr seid ein schrecklicher Mensch.«

»Da gebe ich dir recht …«

Toulouse-Lautrec hielt inne und stand auf, mit Blick zum Fenster hinaus, über Luciens Schulter hinweg.

»Weißt du noch, dass du mich vor Carmen gewarnt hast?«, sagte Henri und legte Lucien eine Hand auf die Schulter. »Du meintest, mich von ihr loszusagen, sei das Beste für mich, egal, wie mir dabei zumute war.«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?« Lucien drehte sich auf seinem Stuhl um, weil er wissen wollte, was Henri betrachtete, und sah einen Rock – nein, eine Frau, draußen auf der Straße, in einem veilchenblauen Kleid, mit passendem Schirm und Hut. Eine schöne, dunkelhaarige Frau mit atemberaubend blauen Augen.

»Lass sie gehen«, sagte Henri.

Augenblicklich war Lucien auf den Beinen und stürzte zur Tür hinaus.

»Juliette! Juliette!«

Toulouse-Lautrec sah, wie sein Freund zu der Frau lief, dann vor ihr stehen blieb, als wüsste er nicht, was er tun sollte. Sie strahlte, als sie ihn erkannte, dann ließ sie ihren Sonnenschirm sinken und schlang die Arme um seinen Hals, fiel fast über ihn her, als sie ihn küsste.

Der Kellner, der aus der Küche gekommen war, weil er die Tür gehört hatte, gesellte sich zu Henri ans Fenster.

»Oh, là, là, Ihr Freund hat einen echten Fang gemacht, Monsieur.«

»Und ich fürchte, es dürfte bald schwierig werden, noch weiterhin mit ihm befreundet zu sein.«

»Ah, bekommt er vielleicht Konkurrenz?« Der Kellner deutete auf die gegenüberliegende Seite des Boulevards, wo ein kleiner, verwachsener Mann mit braunem Anzug und Melone zwischen den Kutschen und Passanten hindurchspähte und Lucien und das Mädchen beobachtete, ein Funkeln in den Augen, das für Henri nach Verlangen aussah.