24

Die Architektur des Amüsements

Hier war nun ein wenig Feingefühl angezeigt, eine gewisse Finesse, etwas mehr Geschicklichkeit, als ihre übliche Strategie sonst vorsah, die meist darin bestand, die Kleider abzulegen. Als sie Lucien im Lampenschein der Mine küsste und spürte, dass er sie mit ganzer Seele umschlang, ihr sein Herz ausschüttete, unter Tränen, feucht und glänzend auf ihren Wangen, während Atem und Wärme sie verbanden, im Augenblick erstarrt, nicht durch Magie, sondern durch die Einzigartigkeit ihrer Umarmung, in der nichts anderes existierte als sie selbst, da dachte Juliette: Es ist so viel einfacher, sein Kleid zu lüpfen, »Voilà!« zu rufen, und ab geht die Post. Das hier würde schwierig werden.

Toulouse-Lautrec räusperte sich laut und warf einen Blick über seine Schulter, als hätte er unbedarft am Rand der Dunkelheit herumgestanden und eben erst bemerkt, dass sein Freund hemmungslos ein Mädchen durch die Mine knutschte.

Juliette brach den Kuss ab, knabberte an Luciens Ohr, dann drückte sie seinen Kopf an ihren Busen und sagte: »Bonjour, Monsieur Henri.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Bonjour, Mademoiselle«, sagte Henri, tippte an seine Melone, die von weißem Gips bestäubt war.

Da schien Lucien zu sich zu kommen und hielt Juliette auf Armeslänge bei den Schultern. »Geht es dir gut? Ich fürchtete schon, du könntest krank sein.«

»Nein, es geht mir gut.«

»Wir wissen alles über den Farbenmann – wie er dich, wie er alle Modelle über die Jahre manipuliert hat. Dass sie ihr Gedächtnis verlieren und krank werden. Wir wissen Bescheid.«

»Ach ja?« Sie unterdrückte den Drang, ihr Kleid zu lüpfen und ein wenig Ablenkung ins Spiel zu bringen, doch da Toulouse-Lautrec dabei war und … nun, es wäre doch peinlich. »Ihr wisst Bescheid?«

»Ja«, sagte Lucien. »Camille Monet, Renoirs Margot, sogar Henris Carmen – wer weiß, wie viele es waren? Wir wissen, dass er sie – dich – irgendwie mit seiner blauen Farbe verhext, dass es scheint, als würde die Zeit stehen bleiben. Ich hatte schon befürchtet, dass du dich nicht einmal mehr an mich erinnerst.«

Juliette nahm Luciens Hände und trat einen Schritt zurück. »Nun, das kommt der Wahrheit sehr nah«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir uns einen Moment setzen, damit ich es erklären kann.« Sie warf einen kurzen Blick auf Henri. »Hast du was zu trinken dabei?«

Toulouse-Lautrec zog einen silbernen Flachmann aus seiner Jackentasche.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Was in diesem drin ist? Cognac.«

»Gib her«, sagte sie.

Henri schraubte den Deckel ab und reichte den Flachmann an Juliette weiter, die einen kleinen Schluck nahm und sich wieder auf ihre Kiste setzte.

»Du hast mehrere Flachmänner dabei?«, fragte Lucien.

»Wir hatten ja keine Pistole«, sagte Henri achselzuckend.

»Lass ihn in Ruhe, er ist meine Rettung«, sagte Juliette, die nun mit gespreizten Beinen dasaß, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, wie es Piraten tun, wenn sie über eine Schatzkarte im Sand beraten. Sie trank den beiden Malern mit dem Flachmann zu und nahm noch einen Schluck. »Setz dich, Lucien.«

»Aber das Bild …«

»Setz dich hin!«

Er setzte sich. Zum Glück stand hinter ihm eine kleine Tonne.

Toulouse-Lautrec kauerte auf einem umgestürzten Balken und machte von seinem zweiten Flachmann Gebrauch.

»Also, vermutlich habt ihr ein paar Fragen«, sagte sie.

»Zum Beispiel, wieso du hier in einer Mine sitzt?«, sagte Henri.

»Einschließlich der Frage, wieso ich hier in einer Mine sitze«, fuhr Juliette fort. »Es war nötig, dass Lucien sich an seine erste Begegnung mit dem Blau erinnerte, seine allererste Begegnung, als er noch ein kleiner Junge war. Ich wusste, er würde sich an diese Mine erinnern, und ich wusste, er würde sich bemüßigt fühlen herzukommen.«

»Woher wusstest du das?«, fragte Lucien.

»Ich kenne dich besser, als du denkst«, sagte sie. Sie nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann und reichte ihn Lucien. »Du wirst es brauchen können.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Lucien, als er den Flachmann nahm. »Du wusstest, dass ich als Kind in dieser Mine war? Dass ich den Farbenmann gesehen habe? Du kannst damals nicht viel älter gewesen sein als ich.«

»Ja, nun, ich war dabei.«

»Hast du Berthe Morisot nackt und blau gesehen?«, fragte Henri aufgeregt.

»Wenn man so will. Ich war Berthe Morisot, nackt und blau.«

»Bitte?«, sagten die beiden Maler im Chor und neigten die Köpfe wie verdutzte Hunde.

Sie schüttelte den Kopf, betrachtete den kalkigen Dreck zwischen ihren Füßen, dachte daran, wie viel einfacher es wäre, wenn sie die Zeit verschieben und die beiden vergessen machen könnte, dass das alles geschehen war. »Ihr hattet teilweise recht damit, dass eine Verbindung zwischen dem Farbenmann und diesen Frauen, diesen Modellen, besteht. Aber ich bin nicht wie sie. Ich bin sie.«

Die beiden warteten, nahmen jeweils einen Schluck, starrten sie an, fassungslos. Hunde in der Oper.

»Der Farbenmann macht die Farbe – wir nennen sie Sacré Bleu –, aber ich übernehme die Modelle, schlüpfe in sie hinein, lenke sie, und sobald das Sacré Bleu auf die Leinwand kommt, kann ich die Zeit anhalten, die Maler an Orte führen, an denen sie noch niemals waren, ihnen die Welt zeigen, sie inspirieren. Ich war Monets Camille, ich war Renoirs Margot, ich war Manets Victorine und noch viele andere, und das über sehr lange Zeit. Ich war sie alle. Wenn ich sie verlasse, erinnern sie sich nicht, weil sie nicht da waren, sondern ich.«

»Du?«, sagte Henri, dem das Atmen schwerzufallen schien. »Du warst Carmen?«

Sie nickte. »Ja, mon amour.«

»Wer … was, was bist du?«, fragte Lucien.

»Ich bin eine Muse«, sagte Juliette.

»Und du …? Du machst was?«

»Ich amüsiere«, sagte sie.

Sie hielt es für das Beste, das einen Moment sacken zu lassen, da beide Maler leicht angewidert wirkten, als hätten sie mehr erfahren, als ihnen lieb war. Sie hatte erwartet, dass sie sich, wenn sie ihr Geheimnis auf diese Weise preisgab, nachdem sie es so lange für sich behalten hatte, erleichtert und befreit fühlen würde. Das war aber nicht der Fall.

»Ihr könntet besser damit umgehen, wenn ich nackt wäre, stimmt’s? Ich habe wohl daran gedacht, aber nackt in einer dunklen Mine herumzusitzen, bis ihr auftaucht, war mir, nun ja, nicht ganz geheuer. Seht euch Luciens Bild an, das im Übrigen sehr gelungen ist, bevor ihr antwortet.« Sie grinste, was keinerlei Wirkung zeigte. Mist, dachte sie, es könnte besser laufen.

»Ich meine«, sagte Lucien, »was macht Juliette, wenn sie nicht von dir besessen ist?«

»Ich bin Juliette.«

»Ja, das sagtest du bereits«, sagte Henri. »Aber wer ist die wahre Juliette?«

»Und wann willst du ihre Erinnerung auslöschen und sie umbringen?«, fragte Lucien.

Scheiße! Scheiße! Scheiße! Verdammte, zum Himmel stinkende Götterscheiße!

Sie holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Juliette ist anders. Sie hat es so nie gegeben, bevor ich sie erschaffen habe. Ich bin im Grunde sie. Sie ist ich.«

»Also hast du sie aus dem Nichts erschaffen?«, fragte Henri.

»Nicht wirklich aus dem Nichts. Mit irgendwas muss ich anfangen. Ich brauche Fleisch, sozusagen. Ich habe eine ertrunkene Bettlerin in der Leichenkammer gefunden und daraus Juliette erschaffen und zum Leben erweckt. Ich habe sie für dich erschaffen, Lucien, damit sie genau so wurde, wie du sie dir wünschst. Um für dich da zu sein, perfekt, nur für dich.«

»Nein.« Lucien rieb seine Augen, als verdrängte er eine aufkommende Migräne. »Nein.«

»Doch, Lucien, mein Ein und Alles, für dich.«

Er sah verzweifelt aus. »Dann habe ich also eine ertrunkene Bettlerin aus dem Leichenschauhaus gevögelt?«

»Und gleichzeitig warst du mit mir zusammen«, fragte Henri, »als Carmen?«

Lucien sprang auf. »Schlampe!«

»Ersoffene, verlogene Schlampe!«, fügte Henri hinzu.

»Warte, warte, warte«, sagte Juliette. »Doch nicht alle gleichzeitig.«

»Aber Henri war zur selben Zeit mit Carmen zusammen, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin!«

»Nicht genau zur selben Zeit. Das kann ich nicht. Ich kann nur von einer zur anderen gehen.«

»Also ist es für dich so, als würdest du von einem Zug auf den nächsten springen?«, sagte Lucien. »Von einem Maler auf den anderen?«

Sie nickte. »Das ist keine schlechte Formulierung.«

»Das ist eine fürchterliche Formulierung«, sagte Lucien. »Was passiert mit dem Zug, in dem du eben noch warst, ich meine den Körper, den du verlässt, um den nächsten zu nehmen?«

»Sie leben ihr Leben weiter. Ich habe Dutzende Male von Camille Monet zu anderen hin und her und wieder zurück gewechselt.«

»Aber du sagtest, Juliette hätte kein eigenes Leben. Sie sei du? Was ist mit Juliette passiert, als du dir Carmen zu eigen gemacht hast?«

»Sie schläft sehr viel«, sagte Juliette.

»Als du das erste Mal da warst, hat Carmen Wochen bei mir verbracht«, sagte Henri.

»Ich sagte ja: sehr viel.«

»Und als du weggingst?«, sagte Lucien. »Als du mich verlassen hast? Als du mir das Herz gebrochen hast, wo bist du hin?«

»Vincent war ein großes Talent«, sagte sie. »Ich wollte nicht gehen, aber ich habe nicht immer die Wahl.«

»Du hast Paris verlassen, um zu Vincent zu gehen? Als Juliette?«

»Ja, als Juliette. Ich kann sie nicht allein lassen, egal, in welchem Körper ich auch bin, also musste ich gehen. Der Farbenmann wollte, dass Vincent mit dem Sacré Bleu malt. Ich musste gehen. Es tut mir leid.«

»Und Carmen ist fast gestorben, als du sie verlassen hast«, sagte Henri verzagt.

»So macht sie das immer«, spuckte Lucien aus. »Sie nimmt sie sich, sie benutzt sie, benutzt den Maler, dann verlässt sie sie und sie sterben, ohne zu ahnen, was eigentlich mit ihnen passiert ist. Die Künstler bleiben zerbrochen und trauernd zurück.«

»Alles hat seinen Preis, Lucien«, sagte sie leise und blickte zu Boden. Sie war nicht darauf vorbereitet, dass er ihr böse sein würde. Die Möglichkeit war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, und es schmerzte sie. Es verwirrte sie, und es tat weh.

»Seinen Preis? Seinen Preis?«

»Ja«, sagte sie. »Meinst du, große Kunst könnte entstehen, ohne dass jemand dafür einen Preis bezahlt?«

»Und was ist der Preis für das Bild, das ich von dir gemalt habe? Willst du diese Person, dieses Ding, das ich Juliette nenne, etwa umbringen?«

Da stand sie auf und schlug ihm ins Gesicht, bremste die Wucht im letzten Augenblick, um ihm nicht den Wangenknochen zu zertrümmern.

»Es liegt an ihm! Der Farbenmann entscheidet. Ich bin eine Sklavin, Lucien! Ich bin an ihn gebunden, an seine Macht, das Blau herzustellen. Ich tue, was er will. Er macht die Farbe, ich inspiriere den Künstler zum Malen, dann benutzt der Farbenmann das Bild, um mehr Sacré Bleu zu gewinnen. Es fließt mehr hinein als nur die Farbe. Liebe, Leidenschaft, die Kraft des Lebens, sogar Schmerz fließt ins Sacré Bleu. Die Farbe hält den Farbenmann auf ewig am Leben. Auf ewig, Lucien! Und ohne das Sacré Bleu gibt es keine Juliette. Keine Muse. Ohne das Blau existiere ich gar nicht. Also tue ich, was er will, und ich lebe, und andere werden krank und leiden und sterben daran.« Inzwischen weinte sie, schrie ihn unter Tränen an, fühlte sich, als verlöre sie ihn, als entfernte er sich von ihr. »Das ist der Preis. Er fordert ihn jedes Mal ein, und ich sorge dafür, dass der Preis bezahlt wird, aber ich habe keine Wahl. Ich bin seine Sklavin.«

Lucien riss ihre Hand an sich und drückte sie an sein Herz. »Verzeih mir.«

Sie nickte grimmig, wandte jedoch ihr Gesicht von ihm ab, damit er sie nicht ansah. Plötzlich war Toulouse-Lautrec neben ihnen, zog ein frisches Tuch aus seiner Brusttasche und bot es ihr an.

»Mademoiselle, s’il vous plaît«, sagte er. Sie nahm das Taschentuch und tupfte damit Augen und Nase ab, schnäuzte hinein, versteckte sich dahinter, nahm ihre Hand von Luciens Brust, um die Haare aus ihrem Gesicht zu streichen. Dann lugte sie über das Tuch hinweg und merkte, dass Henri sie angrinste. Sie sah Lucien an, der ebenfalls grinste.

»Was?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Lucien.

»Was? Was?«, fragte sie. Elende Kreaturen, diese Männer. Lachten sie etwa über ihren Schmerz? Sie sah Henri an. »Was?«

»Nichts«, sagte er.

»Was grinst ihr mich so an? Ich bin ein Wesen von unermesslicher Kraft und göttlichem Erscheinungsbild. Ich bin der Funke der Erfindungsgabe, das Licht der menschlichen Phantasie. Ich bringe euch sabbernden Äffchen bei, nicht mehr nur eure jämmerliche Scheiße auf Steinen zu verschmieren, sondern Schönheit und Kunst in eure Welt zu lassen. Ich bin eine Macht, die Furcht einflößende Muse der Schöpfung. Ich bin eine verfickte Göttin!«

»Ich weiß«, sagte Henri.

»Und ihr grinst mich an?«

»Ja«, sagte Lucien.

»Warum?«

»Ich durfte am göttlichen Musenbusen schmusen«, sagte Lucien.

»Ich auch«, sagte Henri, der mittlerweile so breit grinste, dass es sein pince-nez aus dem Sattel warf. »Wenn auch nicht zur gleichen Zeit.«

»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte die Muse.

Nachdem geklärt war, dass es sich bei Lucien und Henri um wahrlich niederträchtige Kreaturen mit einem moralischen Kompass handelte, der um eine Stelle an ihrem Unterleib kreiste – also: Männer –, und dass auch Juliette eine Kreatur von abstrakter, wenn nicht insgesamt abwesender Moral war, wenn auch mit einem Hang zur Schönheit – also: eine Muse –, wurde darüber hinaus durch einstimmigen Beschluss festgelegt, dass für die Fortsetzung ihrer Enthüllungen weiterer Alkohol vonnöten wäre, woraufhin nur noch die Frage der Lokalität zu klären war.

Sie machten sich auf den Weg den Hügel hinauf, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen.

»Im Atelier haben wir leider keinen Cognac mehr«, sagte Henri, der Juliette gern gefragt hätte, ob die Möglichkeit bestand, dass er irgendwo, irgendwie Carmen, seine Carmen, wiedersehen würde.

»Meine Wohnung ist zu klein«, sagte Lucien. »Und die Bäckerei kommt nicht infrage.« Er wollte mit Juliette allein sein, um sich in ihr zu verlieren, doch sein Verlangen war in gewisser Weise davon eingetrübt, dass sie ihn möglicherweise ermorden würde.

»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Juliette, die überlegte, ob es wohl den perfekten Pegel an Cognac gab, der ihr das schwierige Geständnis erleichterte und gleichzeitig verhinderte, dass sie ihrem Impuls nachgab, den beiden Beichtvätern die Nieren zu perforieren und einfach wieder ihrem Tagwerk nachzugehen.

»Sie lässt dich grüßen«, sagte Lucien.

»War das ein Brotbrett, mit dem sie auf mich eingeschlagen hat?«

»Crêpe-Pfanne.«

»Sie ist eine kräftige Frau.«

»Sie lässt dich nicht wirklich grüßen. Das habe ich mir nur ausgedacht.«

»Zu mir war sie immer sehr nett«, sagte Henri. »Aber ich hätte auch nicht beinahe ihren Sohn umgebracht.«

»Und ihm das Herz gebrochen«, sagte Lucien.

»Alles für die Kunst, oder? Ich bin kein Ungeheuer«, sagte Juliette.

»Du bringst Leute um ihre Gesundheit, um ihre Liebsten, um ihr Leben«, sagte Lucien.

»Ich bin nicht immer ein Ungeheuer«, erwiderte Juliette schmollend.

»Ein Ungeheuer mit exquisitem Popo«, sagte Henri. »Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet.«

Gerade kamen sie an einem Tabakladen vorbei, in dessen Eingang eine bärbeißig wirkende Frau stand und sie finster betrachtete, statt wie üblich bonsoir zu wünschen.

»Vielleicht sollten wir meinen Popo in einer diskreteren Lokalität besprechen«, sagte Juliette.

»Oder überhaupt nicht«, sagte Lucien.

»Du hast einen lebensgroßen Akt von mir gemalt, Lucien. Glaubst du, mein Po wäre noch niemandem aufgefallen?«

»Das Bild ist in einer Mine versteckt.«

»Mir fiel nichts anderes ein, was in der Nähe von Bruants Club lag.«

»Die Bar in meiner Wohnung ist wohlbestückt«, sagte Toulouse-Lautrec.

Und so fanden sie sich in Toulouse-Lautrecs Salon wieder, tranken Branntwein und diskutierten das schwierige Geschäft des Modellsitzens für klassische Motive.

»Wisst ihr, was mir am Modellsitzen für Leda mit dem Schwan am wenigsten gefiel?«, sagte Juliette. »Der Teil, wo ich den Schwan vögeln sollte.«

»Wenn es nur um Gemälde geht, wieso malst du dann nicht selbst?«, fragte Henri.

»Das habe ich ein paarmal versucht. Daraus ließ sich kein Sacré Bleu gewinnen. Und es stellte sich heraus, dass ich keinerlei künstlerisches Talent besitze. Obwohl ich zur selben Zeit als Modell andere inspirieren konnte.«

»Berthe Morisot?«, fragte Lucien.

»Ja.« Juliette leerte ihr Glas und hielt es Henri hin, damit er nachschenkte. »Versteht mich nicht falsch. Ich mischte mich gern mit meiner Staffelei unter die anderen, wenn wir alle dasselbe Motiv malten. Cézanne, Pissarro, Monet, Renoir, manchmal auch Sisley und Bazille. Cézanne und Pissarro mit ihren hohen Stiefeln und den Segeltuchjacken wie auf einer Expedition. Cézanne trug diese lächerliche, rote Schärpe, um zu zeigen, dass er aus dem Süden kam, nicht aus Paris, und Pissarro hatte diesen schweren Wanderstock dabei, selbst wenn wir nur am Ufer der Seine standen und den Pont Neuf malten. In meinem Frühlingskleid wirkte ich zwischen den Männern fehl am Platze, gehörte aber dennoch dazu – von den Verkannten anerkannt.«

Sie seufzte und lächelte. »Der gute Pissarro. Jedermanns Lieblingsonkel. Ich weiß noch, wie wir einmal bei einer Ausstellung unserer Bilder in Durand-Ruels Galerie waren und ein Mäzen mich zwischen den männlichen Malern sah und als gourgandine, als Flittchen, beschimpfte. Pissarro schlug dem Mann ins Gesicht, baute sich mit Renoir und den anderen vor ihm auf und wies ihn zurecht, allerdings nicht wegen meiner Ehre als Frau, sondern wegen meines Wertes als große Künstlerin. Der gutherzige Pissarro. So unerbittlich in der Wahrheit. So galant.« Sie hob ihr Glas und trank auf Pissarro.

»Du hast ihn wirklich sehr gern, was?«, fragte Lucien.

»Ich liebe ihn. Ich liebe sie alle. Man muss sie einfach lieben.« Wieder seufzte sie, verdrehte die Augen wie ein verträumter Backfisch. »Künstler …«

»Das findet Renoir auch«, sagte Henri. »Er meint, man muss sie alle lieben.«

»Was glaubst du, von wem er das hat?« Schalkhaft lächelte sie über ihr Glas hinweg, ihre Augen leuchteten vom Cognac. Das gelbe Licht der Gaslampen spiegelte sich darin und umgab ihr dunkles Haar mit einem gespenstischen Heiligenschein. Den Malern fiel es nicht eben leicht, dem Gespräch zu folgen und sich nicht in ihrem Anblick zu verlieren.

»Das hat er von dir?«, sagte Lucien. »Als seine Margot?«

Sie nickte.

»Warte, warte, warte«, sagte Henri. »Wenn Berthe nicht das Bild für den Farbenmann gemalt hat, dann …«

»Manet«, sagte Juliette. »Er betete Berthe an und malte sie – mich – oft. Und davor war ich Victorine für seine Olympia und Das Frühstück im Grünen. Bei ihm ging es nur um Sex. Manet und seine Modelle haben dem Farbenmann reichlich Sacré Bleu eingebracht.«

»Aber soweit ich weiß, sind Berthe Morisot und Victorine Meurent gesund und munter«, sagte Henri. »Du sagtest, alles hätte seinen Preis.«

»Manets Unglück, niemals mit Berthe vereint zu sein, hat sein ganzes Leben überschattet.« Als sie das sagte, wurde sie ganz melancholisch. »Der liebe, gute Édouard hat dafür bezahlt.«

»Manet starb an der Syphilis«, sagte Lucien. »Henri und ich sprachen gerade darüber.«

»Ja«, sagte sie, »oft ist es die Syphilis.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Lucien. »Warum Syphilis?«

»Damit ihr Schwanz sie umbringt. Ich bin eine Göttin, Lucien. Wir lieben nichts so sehr wie die Ironie. Das ist im Grunde unsere einzige Orientierung.« Sie leerte ihr Glas und hielt es ihm hin, damit er nachschenkte. »Es dauert lange, aber bis der Wahnsinn einsetzt und die Amputationen folgen, entstehen noch etliche Bilder.«

»Wenn das nicht deprimierend ist«, sagte Henri. »Ich war mir sicher, die Syphilis wäre ein Mythos.«

»Und Vincent?«, sagte Lucien. »Ihn hast du erschossen?«

»Ich erschieße keine Menschen. Das war der Farbenmann. Die reine Verschwendung. Vincents Schmerz hätte der Lohn des Farbenmannes sein sollen.«

»Dann hat er dich als Juliette gemalt?«, fragte Lucien.

»Sie müssen nicht mich malen, damit ich sie inspirieren kann. Sie müssen nur malen.«

Lucien und Henri starrten einander an und fragten sich, wie es möglich war, dass sie hier saßen und bei einem Glas Cognac die Ermordung ihrer Freunde und Helden erörterten, mit einer Göttin. Einer zunehmend betrunkenen Göttin.

»Wir müssen mehr trinken«, sagte Lucien.

»Ein Toast!«, sagte Henri.

»Auf Vincent!«, sagte Lucien und hob sein Glas.

»Und auf Theo!«, sagte Henri und hob das seine.

»Und auf Theos Syphilis!«, sagte Juliette, erhob ihr Glas und verschüttete Branntwein auf Henris Teppich.

Langsam ließ Lucien sein Glas sinken. »Theo auch?«

»Und auf die Syphilis!«, sagte Juliette unbekümmert.

»Theo war nicht mal Maler«, sagte Henri und ruinierte damit ihren absolut einwandfreien Toast.

»Nun, ich musste irgendwas unternehmen.« Zur Bekräftigung lallte sie und verschüttete Cognac. »Der Farbenmann wollte euch alle töten, euch beide, alle. Nicht, dass es den kleinen Pisser überhaupt interessiert hätte. Er wollte euch trotzdem erschießen. Um aufzuräumen, sagte er. Deshalb habe ich den Rest vom Sacré Bleu genommen und bin weggelaufen.«

»Dann bist du frei.«

»Nicht wirklich. Er hat mich nur noch nicht gefunden. Deshalb musste ich mich in der Mine verstecken. Solange ich im Dunkeln bin, kann er mich nicht finden. Das Sacré Bleu funktioniert in der Dunkelheit nicht so richtig. Deshalb konnten wir in Henris düsterem Atelier auch nicht malen.« Sie ließ den Rest ihres Cognacs in Toulouse-Lautrecs Richtung schwappen. »Dieses Atelier ist finster, Henri. Nichts für ungut. Du bist Maler, du brauchst Licht. Erinnerst du dich noch an dieses Fenster in deinem anderen Atelier? Das Licht war so schön …«

»Aber jetzt bist du nicht mehr im Dunkeln«, unterbrach Henri ihre Überlegungen. »Wird er dich nicht finden?«

»Nein. Denn ich habe ihn erschossen.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn, und außerdem hast du gesagt, du erschießt keine Menschen«, sagte Lucien.

»Was bist du? Ein Künstler oder ein Erbsenzähler? Ich habe ihn erschossen. In die Brust. Fünfmal. Vielleicht sechsmal. Nein, fünf.« Sie beugte sich ganz nah zu Lucien vor und kippte langsam von ihrem Stuhl. Er fing sie auf, doch dann verlor er selbst den Halt und rutschte schließlich rückwärts auf den Diwan. Sie landete mit dem Gesicht auf seinem Schoß.

»Dann bist du also doch frei?«, sagte Henri.

Sie antwortete, doch Luciens Schoß erstickte ihre Worte. Er küsste ihren Hinterkopf, dann drehte er ihr Gesicht zu Henri, der im Umgang mit Berauschten einige Erfahrung besaß und sich daher unwillkürlich wiederholte.

»Dann bist du also doch frei?«, sagte er.

»So einfach ist das nicht.«

»Da bin ich aber froh«, sagte Lucien. »Ich hatte schon befürchtet, dass es zu einfach werden könnte.«

»Hey, Arschnase, bin ich etwa die Muse des Sarkasmus? Nein! Nein, bin ich nicht. Ihr geht zu weit, Monsieur Lessard. Ihr haltet Euch nicht an die Scheißregeln.« Sie versuchte, sich aufzurichten, um ihm in die Augen zu sehen, begnügte sich jedoch damit, ihren unerbittlichen Blick auf seinen mittleren Westenknopf zu richten.

»Noch nie habe ich eine Göttin fluchen hören«, sagte Henri.

»Du kannst mich mal gernhaben, Graf Schrumpfhose!«, sagte die Muse und drückte ihre Stirn auf Luciens Unterleib, um dort ihr Innerstes nach außen zu kehren.

»Geschweige denn kotzen sehen«, sagte Toulouse-Lautrec. »Schau, es ist blau.«