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Weizenfeld mit Krähen

Auvers, Frankreich, Juli 1890

Am Tag, an dem er ermordet werden würde, begegnete Vincent van Gogh auf dem Pflaster draußen vor der Schenke, in der er zu Mittag gegessen hatte, einer Zigeunerin.

»Großer Hut«, sagte die Zigeunerin.

Vincent blieb stehen und nahm die Staffelei von seiner Schulter. Er schob seinen gelben Strohhut in den Nacken. Der Hut war wirklich groß.

»Ja, Madame«, sagte er. »Er schützt meine Augen vor der Sonne, wenn ich arbeite.«

Die Zigeunerin war alt und gebrechlich, wenn auch keineswegs so alt und gebrechlich, wie sie tat, weil niemand einer jungen, schönen und gesunden Bettlerin auch nur einen Centime gab. Mit ihrem umbrabraunen Auge blickte sie zum Himmel des Val-d’Oise auf, wo sich Sturmwolken über den Schindeldächern von Pontoise zusammenbrauten, dann rotzte sie dem Maler vor die Füße.

»Heute scheint die Sonne nicht, Holländer. Es wird Regen geben.«

»Nun, dann schützt er meine Augen eben vor dem Regen.« Vincent betrachtete das Tuch der Zigeunerin, gelb mit einer Bordüre aus grünen Ranken. Ihr Schal und ihre Röcke, jeder von einer anderen Farbe, fielen über ihre Füße wie die staubigen Fetzen eines verblassten Regenbogens. Vielleicht sollte er sie malen. Wie Millets Bauern, nur mit hellerer Palette. Eine Figur, die aus dem Feld heraussticht.

»Monsieur Vincent.« Die Stimme eines jungen Mädchens. »Sie sollten sich an Ihr Bild machen, bevor der Sturm kommt.« Adeline Ravoux, die Tochter des Wirts, stand im Eingang zur Schenke, mit ihrem Besen in der Hand, nicht zum Fegen, sondern um lästige Zigeuner zu vertreiben. Sie war dreizehn Jahre alt und blond, und wenn sie auch eines Tages eine wahre Schönheit sein würde, war sie jetzt herzzerreißend unscheinbar. Dreimal schon hatte Vincent sie porträtiert, seit er im Mai hierhergekommen war, und die ganze Zeit über hatte sie mit ihm kokettiert, plump und unbeholfen wie ein Kätzchen, das auf ein Wollknäuel einschlägt, bis es merkt, dass seine Krallen verletzen können. Natürlich nur zum Spaß, es sei denn, arme, gepeinigte Maler mit nur einem Ohrläppchen wären unter jungen Mädchen neuerdings der letzte Schrei.

Vincent lächelte, nickte Adeline zu, nahm Staffelei und Leinwand und spazierte um die Ecke, fort vom Fluss. Die Zigeunerin folgte ihm und lief an seiner Seite, als er den Hügel hinaufstapfte, vorbei an der Gartenmauer, hin zum Wald und den Feldern oberhalb des Dorfes.

»Es tut mir leid, Mütterchen, aber ich kann keinen Sou entbehren«, sagte er zu der Zigeunerin.

»Dann nehme ich den Hut«, sagte die Zigeunerin. »Und du kannst wieder zurück auf dein Zimmer gehen, dir den Sturm ersparen und ein Bild von einer Blumenvase malen.«

»Und was bekomme ich für meinen Hut? Willst du mir die Zukunft vorhersagen?«

»So eine Zigeunerin bin ich nicht«, sagte die Zigeunerin.

»Willst du mir Modell sitzen, wenn ich dir meinen Hut schenke?«

»So eine Zigeunerin bin ich auch nicht.«

Vincent blieb am Fuß der Stufen stehen, die den Hang hinaufführten.

»Was für eine Zigeunerin bist du dann?«, fragte er.

»Eine, die einen großen, gelben Hut braucht«, sagte die Zigeunerin. Sie lachte meckernd und zeigte ihre drei Zähne.

Vincent lächelte bei dem Gedanken daran, dass jemand etwas haben wollte, was ihm gehörte. Er nahm den Hut ab und reichte ihn der alten Frau. Morgen, auf dem Markt, würde er sich einen neuen kaufen. Theo hatte seinem letzten Brief einen Fünfzig-Franc-Schein beigelegt, und davon war noch etwas übrig. Er wollte, nein, er musste diese Sturmwolken malen, bevor sie sich ihrer Last entledigten.

Die Zigeunerin untersuchte den Hut, zupfte eine Strähne von Vincents rotem Haar aus dem Stroh und stopfte es zwischen ihre Röcke. Sie setzte den Hut auf ihr Tuch und nahm eine Pose ein, wobei sich ihr Buckel plötzlich streckte.

»Hübsch, nicht?«, sagte sie.

»Vielleicht noch ein paar Blumen ins Band«, erwiderte Vincent, der nur an Farben dachte. »Oder eine blaue Schleife.«

Die Zigeunerin grinste. Oh, da war ein vierter Zahn, den er bisher übersehen hatte.

» Au revoir, Madame.« Er nahm seine Leinwand und stieg die Stufen hinauf. »Ich muss malen, solange ich kann. Das ist alles, was mir geblieben ist.«

»Ich gebe den Hut nicht wieder her.«

»Geh mit Gott, Mütterchen.«

»Was ist mit deinem Ohr passiert, Holländer? Hat es dir eine Frau abgebissen?«

»So ähnlich«, sagte Vincent. Die erste der drei Treppen hatte er schon halb erklommen.

»Ein Ohr wird ihr nicht reichen. Geh wieder auf dein Zimmer und mal heute eine Blumenvase.«

»Ich dachte, du sagst die Zukunft nicht voraus.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich die Zukunft nicht sehe«, erwiderte die Zigeunerin. »Ich sag nur nichts.

01.eps

Er stellte seine Staffelei an einer Weggabelung auf. Drei Weizenfelder breiteten sich vor ihm aus, hinter ihm ein Maisfeld. Er war fast fertig mit dem Bild – dem goldenen Weizen unter blauschwarz drohendem Himmel, an dem sich die Sturmwolken türmten. Er drückte seinen Pinsel in das Elfenbeinschwarz und malte einen Krähenschwarm, der sich von der Mitte des Bildes wie ein umgedrehter Trichter zur rechten oberen Ecke der Leinwand hin erhob. Wegen der Perspektive, denn Bilder waren nicht nur Farbe auf der Leinwand, obwohl viele in Paris neuerdings argumentierten, alles Malen sei nur Farbe, mehr nicht.

Er malte eine letzte Krähe, nur vier Pinselstriche, um die Flügel anzudeuten, dann trat er zurück. Natürlich waren da Krähen, nur nicht kompositorisch passend. Die wenigen, die er sehen konnte, waren auf dem Acker gelandet, suchten Schutz vor dem Sturm wie die Feldarbeiter, die sich irgendwo einen Unterstand gesucht hatten.

» Male nur, was du siehst«, hatte ihn sein Held Millet ermahnt.

» Phantasie ist dem Maler eine Last«, hatte Renoir ihm erklärt. » Maler sind Handwerker, keine Geschichtenerzähler. Male, was du siehst!«

Nur leider hatten sie ihm nichts davon gesagt, ihn nicht gewarnt, wie viel es zu sehen gab.

Hinter sich hörte er ein Rascheln, nicht nur den leisen Applaus der Maiskolben im Wind. Vincent drehte sich um und sah einen verwachsenen, kleinen Mann, der aus dem Maisfeld trat.

Der Farbenmann.

Vincent hielt den Atem an und schüttelte sich, spürte jeden Muskel vibrieren, sein Körper denunzierte ihn, wand sich beim Anblick des kleinen Mannes wie ein geheilter Süchtiger, der zum ersten Mal wieder mit der Droge seines Verderbens in Kontakt kommt.

»Du bist aus Saint-Rémy geflüchtet«, sagte der Farbenmann. Sein Akzent klang seltsam, undefinierbar, der Einfluss eines guten Dutzends schlecht beherrschter Sprachen. Er hatte einen dicken Bauch und runde Schultern, die Arme und Beine etwas zu dünn für seinen Leib. Mit dem kleinen Gehstock bewegte er sich vorwärts wie eine fünfbeinige Spinne. Das Gesicht war breit, flach und braun. Seine Stirn ragte hervor, als wollte sie verhindern, dass es ihm in die schwarzen Knopfaugen regnete. Seine Nase war platt, die Nasenlöcher geweitet, was Vincent an die Shinto-Dämonen auf japanischen Drucken erinnerte, die sein Bruder verkaufte. Er trug eine Melone auf dem Kopf und eine Lederweste über dem zerfetzten Leinenhemd.

»Ich war krank«, sagte Vincent. »Ich bin nicht geflüchtet. Dr. Gachet behandelt mich hier.«

»Du schuldest mir ein Bild. Du bist abgehauen und hast mein Bild mitgenommen.«

»Ich brauche Euch nicht. Theo hat mir erst gestern zwei Tuben Zitronengelb geschickt.«

»Das Bild, Holländer, oder du kriegst kein Blau mehr.«

»Ich habe es verbrannt. Ich habe die Leinwand verbrannt. Ich will das Blau nicht.«

Der Wind wehte Vincents Bild von der Staffelei. Es landete im Gras zwischen den Spurrillen des Weges. Vincent wandte sich ab und hob es auf, und als er sich wieder umdrehte, hielt der Farbenmann einen kleinen Revolver in der Hand.

»Du hast es nicht verbrannt, Holländer. Also, sag mir, wo das Bild ist, oder ich knall dich ab und suche es selbst.«

»Die Kirche«, sagte Vincent. »In meinem Zimmer in der Schenke steht ein Bild von der Kirche. Ihr werdet sehen, dass die Kirche in Wirklichkeit gar nicht blau ist, aber ich habe sie blau gemalt. Ich wollte Zwiesprache mit Gott halten.«

»Du lügst! Ich war in der Schenke und habe dein Gotteshaus gesehen. Sie ist nicht auf diesem Bild.«

Der erste dicke Regentropfen platschte auf die Melone des kleinen Mannes, und als er aufblickte, spritzte ihm Vincent mit dem Pinsel elfenbeinschwarze Farbe ins Gesicht. Ein Schuss ging los, und Vincent spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Er hielt seine Brust und sah den Farbenmann, der die Waffe von sich warf, ins Maisfeld rannte und immer wieder schrie: »Nein! Nein! Nein! Nein!«

Vincent ließ Bild und Staffelei zurück, nahm eine zerdrückte Tube aus der Farbenkiste und steckte sie ein, dann presste er sich die Hände auf seine Brust und stolperte die Straße entlang, auf dem Kamm oberhalb des Städtchens, etwa eine Meile bis zu Dr. Gachets Haus. Er stürzte, als er das Tor am Fuße der steinernen Treppe öffnete, die durch den terrassenartigen Garten führte. Dann kämpfte er sich wieder auf die Beine und begann den mühsamen Aufstieg, wobei er nach jeder Stufe eine Pause machte, sich an den kühlen Kalkstein lehnte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, bevor er die nächste Stufe in Angriff nahm. An der Haustür rang er mit der Klinke, und als Madame Gachet ihm öffnete, sank er in ihre Arme.

»Sie bluten«, sagte Madame Gachet.

Vincent betrachtete das Rot an seinen Händen. Eigentlich Purpur, nicht Rot. Ein wenig Braun und Violett. Worte konnten den Farben nie genügen. Farben sollten frei sein von den Fesseln der Worte.

»Purpur, würde ich sagen«, erwiderte Vincent. »Das war ich. Ich war es selbst.«

Abrupt schreckte Vincent hoch, schnappte nach Luft. Theo war da. Er war mit dem ersten Zug aus Paris gekommen, nachdem Dr. Gachet ihm eine Nachricht geschickt hatte.

»Ruhig, Vincent«, sagte Theo auf Holländisch. »Warum? Warum nur, Bruder? Ich dachte, es ginge dir besser.«

»Das Blau!« Vincent packte seinen Bruder beim Arm. »Du musst es verstecken, Theo. Die Blaue, die ich aus Saint-Rémy geschickt habe, die Dunkle. Versteck sie. Sag niemandem, dass du sie hast. Halte sie von ihm fern. Dem kleinen Mann.«

»Sie? Das Bild?« Theo blinzelte Tränen aus seinen Augen. Armer, verrückter, genialer Vincent. Er würde nie gesunden. Niemals.

»Du darfst es niemandem zeigen, Theo.« Vincent krümmte sich vor Schmerz und setzte sich im Bett auf.

»Deine Bilder werden überall ausgestellt, Vincent. Selbstverständlich werden sie ausgestellt.«

Vincent sank zurück und hustete feucht und harsch. Er riss an seinen Hosen.

»Gib sie her. Gib sie mir, bitte. Die Tube mit dem Blau.«

Theo sah eine zerdrückte Farbtube auf dem Nachttisch liegen und gab sie Vincent in die Hand.

»Hier, die möchtest du?«

Vincent nahm die Tube und drückte das allerletzte Ultramarin auf seinen Finger.

»Vincent …« Theo versuchte, die Hand seines Bruders zu nehmen, doch Vincent verschmierte das Blau auf dem weißen Verband um seine Brust, sank zurück und atmete aus, lang und rasselnd.

»So will ich gehen«, flüsterte Vincent. Dann starb er.