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Rettung

Graf Henri Raymond Marie de Toulouse-Lautrec-Monfa platzte ins Zimmer herein, zückte seine Waffe und rief: »Madame, ich verlange die Auslieferung dieses Mannes, im Namen Frankreichs, der Boulangerie du Montmartre und Jeanne d’Arc!«

Eilig bedeckte sich Juliette mit ihrem Umhang. Lucien blickte von seiner Leinwand auf, seinen Pinsel in der Hand, den Arm ausgestreckt.

»Ist das dein Ernst, Henri? Jeanne d’Arc‹?«

»Nun, schließlich haben wir keinen König mehr.«

Juliette sagte: »Warum schwenkt er dieses Schnapsglas vor meiner Nase?«

»Mist, blöder«, sagte Toulouse-Lautrec. Statt seines Schwertstocks hatte er den Flaschenstock genommen, in dem sich Cognac und ein kleines Glas verbargen (Ein feiner Herr trinkt nicht direkt aus seinem Gehstock.), für die Besuche bei seiner Mutter, und tatsächlich wedelte er mit einem kristallenen Schnapsglas vor dem nackten Mädchen herum.

»Weil in meinen Stock kein Cognacschwenker passt«, sagte er schließlich, als erkläre das alles.

»Ich dachte, du bist bei deiner Mutter in Malromé.«

»War ich auch. Aber ich bin heimgekehrt, um dich zu retten!«

»Nun, das ist ausgesprochen aufmerksam von dir.«

»Du hast dir einen Bart stehen lassen.«

Lucien rieb über sein Kinn. »Ich habe nur aufgehört, mich zu rasieren.«

»Und hast du auch aufgehört zu essen?« Lucien war schon immer dünn gewesen, doch jetzt sah er aus, als hätte er den ganzen Monat, den Henri fort gewesen war, nichts zu sich genommen. Entsprechendes hatte Luciens Schwester in ihrem Brief nach Malromé geschrieben:

Monsieur Toulouse-Lautrec, er backt kein Brot mehr. Er will weder auf mich noch auf meine Mutter hören. Und Gilles, meinen Mann, hat er körperlich bedroht, als dieser helfen wollte. Jeden Morgen schließt er sich mit dieser Frau im Atelier ein, schleppt sich abends zur Hintertür hinaus und verschwindet durch die Gasse, ohne seiner Familie auch nur so etwas wie bonjour zu sagen. Er tönt von seiner Pflicht als Künstler und lässt nicht mit sich reden. Vielleicht hört er auf einen anderen Künstler. Monsieur Renoir weilt in Aix, zu Besuch bei Cézanne. Monsieur Pissarro ist in Auvers, und Monsieur Monet scheint Giverny nie zu verlassen. Bitte, helft mir! Ich kenne keine anderen Maler auf dem Hügel, und Mutter sagt, das sind sowieso alles nutzlose Tagediebe und könnten ihm nicht helfen. Ich bin nicht ihrer Ansicht, da ich Euch als gutherzigen, nützlichen Tagedieb und insgesamt äußerst charmanten, kleinen Herrn kennengelernt habe. Ich flehe Euch an herzukommen und mir zu helfen, meinen Bruder vor dieser schrecklichen Frau zu retten.

Grüße,

Régine Robelard

»Kannst du dich noch an Juliette erinnern, von früher?«, sagte Lucien.

»Du meinst, früher – bevor sie dein Leben zerstört und dich als beklagenswertes Wrack zurückgelassen hat? Davor?«

»Davor«, sagte Lucien.

»Ja.« Henri tippte mit dem Schnapsglas an seinen Hut, wobei er sich inzwischen etwas albern vorkam. »Enchanté, Mademoiselle.«

»Monsieur Toulouse-Lautrec«, sagte Juliette, behielt ihre Pose bei und ließ das Seidentuch fallen, um ihm die Hand zu reichen.

»Mon dieu«, sagte Henri. Er sah über seine Schulter hinweg zu Lucien, dann wieder zu Juliette, die lächelte, gelassen, fast selig, und keineswegs so, als wäre ihr nicht bewusst, dass sie nackt war, sondern so, als ließe sie der Welt ein Geschenk zuteilwerden. Einen Moment lang vergaß er, dass er gekommen war, um seinen Freund vor ihrer Niedertracht zu schützen. Ihrer zauberhaften, zauberhaften Niedertracht.

Henri beugte sich eilig über ihre Hand, dann fuhr er auf dem Absatz herum. »Ich muss dein Bild sehen.«

»Nein, es ist noch nicht fertig.« Lucien hielt ihn bei den Schultern fest, um zu verhindern, dass er hinter die Leinwand trat.

»Unsinn, ich male selbst und bin dein Ateliergenosse. Ich genieße besondere Privilegien.«

»Diesmal nicht, Henri, bitte.«

»Ich muss sehen, was du damit angestellt hast, mit dieser … dieser …« Er winkte zu Juliette hin, während er versuchte, einen Blick auf die Leinwand zu werfen. »Dieser Form, diesem Leuchten auf ihrer Haut …«

»Lucien, er spricht von mir, als wäre ich ein Gegenstand«, sagte Juliette.

Lucien ging in die Hocke und betrachtete sie über die Schulter seines Freundes hinweg. »Sieh dir die feinen Schatten an, weiches Blau, kaum drei Nuancen zwischen dem Schlaglicht und den Schatten. So etwas sieht man nur bei indirektem Lichteinfall. Da die umstehenden Gebäude es zerstreuen, bleibt es fast den ganzen Tag lang so. Nur in den Stunden um die Mittagszeit werden die Schlaglichter zu grell.«

»Lucien, jetzt sprichst du von mir wie von einem Gegenstand.«

»Unsinn, chère, ich spreche vom Licht.«

»Aber du zeigst auf mich.«

»Wir sollten im Atelier in der Rue Caulaincourt ein Oberlicht einbauen«, sagte Henri.

»Oben drüber ist eine Wohnung, Henri. Ich fürchte, die Wirkung wäre nicht dieselbe.«

»Auch wieder wahr. Ist das die richtige Pose? Du solltest sie von hinten versuchen, wenn du mit dem hier fertig bist. Sie hat einen hübscheren Arsch als Velázquez’ Venus in London. Hast du die gesehen? Exquisit! Lass sie dich mit einem Spiegel über ihre Schulter hinweg ansehen.«

»Bin immer noch hier«, sagte Juliette.

»Setz einen kleinen, nackten Engel neben sie, der den Spiegel hält«, sagte Henri. »Ich könnte dir dafür Modell sitzen, wenn du möchtest.«

Die Vorstellung von Henri als behaartem Amor riss Lucien aus seiner Faszination für das Licht auf Juliettes Haut, und er geleitete den Grafen zur Tür. »Henri, ich freue mich, dich wiederzusehen, aber du musst gehen. Treffen wir uns heute Abend auf ein Glas im Chat Noir. Ich muss jetzt arbeiten.«

»Aber ich habe das Gefühl, als wäre meine Rettung – nun ja – in gewisser Weise nicht recht zufriedenstellend ausgefallen.«

»Nein, ich habe mich noch nie derart gründlich gerettet gefühlt, Henri. Ich danke dir.«

»Nun, dann heute Abend. Guten Tag, Mademoiselle«, rief er Juliette zu, als Lucien ihn zur Tür hinausschob.

»À bientôt«, sagte das Mädchen.

Lucien schloss die Tür hinter ihm, und Henri stand in dem kleinen, von Unkraut überwucherten Hinterhof, hielt ein Schnapsglas mit einem schweren Messingknauf in der Hand und fragte sich, was da eben eigentlich passiert war. Er zweifelte nicht daran, dass sich Lucien in großer Gefahr befand. Warum sonst war er aus Malromé hierhergeeilt? Warum war er in die Bäckerei gegangen? Warum, um alles in der Welt, war er zu dieser gottlosen, vormittäglichen Stunde überhaupt wach?

Er zuckte mit den Schultern, und da er das Glas schon in der Hand hielt, zog er die lange, dünne Silberflasche aus dem Stock und schenkte sich einen Cognac ein, um seine Nerven für die nächste Phase der Rettung zu stählen.

Drinnen im Atelier nahm Juliette wieder ihre Pose ein und sagte: »Hast du Velázquez’ Venus in London schon gesehen, Lucien?«

»Nein, ich war noch nie in London.«

»Vielleicht sollten wir sie uns mal ansehen«, sagte sie.

Toulouse-Lautrec wartete gegenüber in Madame Jacobs crémerie und behielt die Gasse neben Lessards boulangerie im Auge. Als der Abend dämmerte, tauchte das Mädchen auf, genau wie Luciens Schwester es angekündigt hatte. Eilig biss er in ein Stück Brot mit Camembert, das noch übrig war, trank seinen Wein aus, legte ein paar Münzen auf den Tisch und stieg von seinem Hocker herab.

»Merci, Madame«, rief er der alten Dame zu. »Ich wünsche einen guten Abend.«

»Danke gleichfalls, Monsieur Henri.«

Henri beobachtete, wie das Mädchen über den Platz und die Rue du Calvaire hinab zum Fuß des Hügels lief. Noch nie hatte Henri Anlass gehabt, jemanden zu verfolgen, doch sein Vater war ein passionierter Jäger, und obwohl Henri ein kränkliches Kind gewesen war, hatte er sich doch oft an Tiere herangepirscht. Er wusste, dass es dumm war, jemandem allzu nah zu folgen, also ließ er seiner Beute zwei Blocks Vorsprung, bevor er hinterherhumpelte. Glücklicherweise führte ihr Weg bergab, und so konnte er leicht Schritt halten, obwohl sie nirgends trödelte oder an einem Stand oder einer Bude stehen blieb, wie es die meisten Ladenmädchen taten, die sich auf dem Heimweg von der Arbeit auf den Bürgersteigen drängten.

Sie kam direkt an seinem Atelier an der Rue Caulaincourt vorbei, und Henri fühlte sich versucht, kurz hineinzugehen und sich mit einem Cognac zu erfrischen, bevor er weiterlief oder – noch wahrscheinlicher – nicht weiterlief und seinen Abend im Moulin Rouge beendete. Doch er rang den Drang nieder und folgte ihr um den Friedhof des Montmartre herum ins 17. Arrondissement zu einem Viertel, das als Quartier des Batignolles bekannt war. Es handelte sich um einen von Haussmanns neuen Stadtteilen, mit breiten Boulevards und genormten Häusern, sechs Stockwerke hoch, mit Mansardendächern und Balkonen im ersten und im obersten Stock. Sauber, modern und frei von Schmutz und Elend, die das alte Paris und somit auch den Montmartre kennzeichneten.

Als sie etwa zwanzig Blocks südwestlich gelaufen waren, Henri meist keuchend und hechelnd, um Schritt zu halten, bog das Mädchen abrupt von der Rue Legendre in eine Seitenstraße ein, die Henri nicht kannte. Eilig hastete er zur Ecke, so schnell wie seine schmerzenden Beine ihn tragen wollten, damit er das Mädchen nicht verlor, und stieß beinah mit einer jungen Dienstmagd zusammen, die ihm entgegenkam. Henri bat um Verzeihung, dann nahm er seinen Hut ab und spähte um die Ecke. Juliette stand keine drei Meter entfernt. Hinter ihr der kleine Farbenmann.

»War das unser Dienstmädchen?«, fragte Juliette.

»Ein Versehen«, sagte der Farbenmann. »Ließ sich nicht vermeiden.«

»Hast du diese auch verschreckt?«

»Penis«, erklärte er.

»Nun, dafür gibt es wirklich keine Entschuldigung, oder?«

»Ein Versehen.«

»Man kann nicht aus Versehen jemanden penisieren. Ich will hoffen, dass sie Abendessen gemacht und mir ein Bad eingelassen hat, bevor du sie verschrecken musstest. Ich bin müde und fahre morgen mit Lucien nach London, wo ich ihn in jedem Winkel in Kensington poppen werde.«

»Wie poppt man jemanden in den Kensington?«

Sie knurrte etwas in einer Sprache, die Henri nicht verstand, schloss das Tor auf und führte den Farbenmann die Treppe hinauf. Henri trat um die Ecke und sah, wie sich das Tor hinter ihnen schloss.

So war das also. Sie hatte tatsächlich mit Vincents kleinem Farbenmann zu tun. Aber was? Vielleicht war er ihr Vater? Morgen. Morgen würde er es herausfinden. Jetzt musste er wieder auf den Hügel, um sich mit Lucien im Chat Noir zu treffen. Er hinkte zur Avenue de Clichy und einem Droschkenstand, dann ließ er sich den Hügel hinaufkutschieren.

Bis fast zehn Uhr wartete er im Chat Noir auf Lucien, und als der Bäcker nicht kam, machte er sich auf den Weg zum Moulin Rouge, wo er trank und die Tänzerinnen zeichnete, bis jemand – er meinte, es könnte die Clownfrau La Goulue gewesen sein – ihn in eine Droschke verfrachtete und nach Hause schickte.

Am nächsten Morgen, zu einer Uhrzeit, die Henri als unmenschlich erachtete, kauerte er in einer Gasse abseits der Avenue de Clichy, mit tragbarer Staffelei, Farbkasten und Klapphocker, und wartete darauf, dass das Mädchen vorbeikam. Alle paar Minuten brachte ihm ein Junge, den er angeheuert hatte, einen Espresso aus dem Café um die Ecke, und er schenkte einen Schluck Cognac in die Tasse, dann verscheuchte er den Jungen und nahm wieder seinen Posten ein. Die Pirsch dauerte bereits drei Espressi und eine Zigarre, als er Juliette entdeckte, die gerade um die Ecke bog, in einem schlichten, schwarzen Kleid mit Sonnenschirm und einem Hut, verziert mit schillernden, schwarzen Federn und einem rauchfarbenen Chiffon-Tuch, welches beim Gehen hinter ihr herwehte. Selbst auf die Entfernung waren ihre blauen Augen betörend, umgeben von all der schwarzen Seide und der weißen Haut, und er fühlte sich an Renoirs lebhafte, blauäugige Schönheiten erinnert, von den Farben her, wenn sie auch nichts von deren Sanftmut besaßen, zumindest nicht hier auf der Straße. Gestern, in Luciens Atelier, nun, da hatten sie einen erheblich sanftmütigeren Eindruck gemacht.

Er duckte sich in die Gasse und drückte seine Zigarre an den Mauersteinen aus, dann presste er sich an die Wand. Als Junge hatte er mit seinem Vater hinter Jagdschirmen gehockt, auf ihrem Anwesen außerhalb von Albi, und wenn er die meiste Zeit auch damit zubrachte, die Bäume, die Tiere und die anderen Jäger zu skizzieren, hatte ihm der Graf doch beigebracht, dass Regungslosigkeit und Geduld für eine Jagd ebenso unerlässlich sein konnten wie die Lautlosigkeit und Behändigkeit des Anschleichens. »Wenn du still genug sitzt«, sagte sein Vater dann, »wirst du Teil deiner Umgebung, für deine Beute unsichtbar.«

»Bonjour, Monsieur Henri«, rief Juliette, als sie an ihm vorüberging.

Schönen Dank, Herr Graf – inzüchtiger, exzentrischer Geisteskranker, dachte Henri.

»Bonjour, Mademoiselle Juliette«, rief er zurück. »Sagen Sie Lucien, dass ich gestern Abend auf ihn gewartet habe.«

»Das will ich tun. Verzeihen Sie ihm, er hatte einen anstrengenden Tag. Sicher tut es ihm leid, dass er Sie verpasst hat.«

Er blickte ihr nach, wie sie vom Strom der Menschen auf dem Boulevard mitgerissen wurde, winkte dem Kaffeejungen, dem er die Staffelei, den Hocker und den Farbenkasten auflud.

»Mir nach, Hauptmann, wir ziehen gen Austerlitz!«

Der Junge klapperte hinter ihm her, ließ die Beine der Staffelei über den Boden schleifen und stolperte dabei fast über den Hocker und den Farbkasten. »Aber, Monsieur, ich bin gar kein Hauptmann, und ich darf nicht nach Austerlitz. Ich muss doch zur Schule!«

»Es ist nur so eine Redewendung, junger Mann. Das Einzige, was du wissen musst, ist, dass du für deine Bemühungen fünfundzwanzig Centimes erhalten wirst, vorausgesetzt, du lässt meinen armen Farbenkasten nicht auf das Kopfsteinpflaster fallen.«

Nach ein paar Blocks führte Henri den Jungen die Straße hinunter, in die er am Abend zuvor Juliette gefolgt war, dann bezahlte er ihn und baute seine Staffelei auf dem Gehweg gegenüber ihres Hauses auf. Da kam ihm in den Sinn, dass er, wenn er denn so tun wollte, als male er, auch würde malen müssen. Sollte der Farbenmann herauskommen, nachdem er ihn eine Weile aus seinem Fenster beobachtet hatte, musste auf dem Bild etwas zu sehen sein.

Er hatte nur eine kleine Leinwand dabei. Somit befand er sich in einem gewissen Dilemma. Er hatte noch nicht sonderlich oft plein air gemalt, doch Monet, der Meister dieser Technik, sagte, kein vernünftiger Maler solle länger als eine Stunde am Stück draußen am selben Bild arbeiten, es sei denn, er wolle Licht malen, das längst nicht mehr da war. Auch jetzt hatte der Meister vermutlich in Giverny oder Rouen ein Dutzend Leinwände auf ein Dutzend Staffeleien gestellt und ging von einer zur nächsten, während sich das Licht veränderte, wobei er auf jedem Bild genau dasselbe Objekt malte, aus genau demselben Blickwinkel. Wer glaubte, er malte Heuhaufen oder eine Kathedrale, wäre in Monets Augen sicher ein Dummkopf. »Ich male Momente. Unwiederholbare, einzigartige Momente des Lichts«, sagte er dann.

Henri hatte Glück, dass diese kleine Straße den Eindruck machte, als hätte sie nur einen einzigen, unerträglich trüben Moment zu bieten. Obwohl sie kaum zwei Blocks von der geschäftigen Avenue de Clichy entfernt war, hätte sie doch auch in einer Geisterstadt liegen können. Hier gab es nicht einmal die obligatorische Alte mit dem krummen Rücken, die vor ihrer Haustür fegte, was – wie er vermutete – in Paris Vorschrift war. Eine Hure, ein scheißender Hund oder eine fegende Alte – mindestens eines davon war gesetzlich vorgeschrieben. Ihm würde der Cognac ausgehen, bevor ihm die Leinwand ausging, es sei denn, es passierte etwas Außergewöhnliches, zum Beispiel, dass eine Katze auf eine Fensterbank sprang.

Er seufzte vor sich hin, stellte seinen Hocker auf, gab etwas Leinöl in eines der Schälchen an der Palette, ein wenig Terpentin in das andere, dann drückte er einen Klecks von gebrannter Umbra auf die Holzpalette, verdünnte sie mit Terpentin und begann, die Haustür des Farbenmannes mit einem dünnen Borstenpinsel zu skizzieren.

Nachdem er beschlossen hatte, dass das Thema seines Bildes eine verlassene Straße sein würde, war er fast enttäuscht, als er aus dem Hinterhof des Farbenmannes Schritte hörte. Die Concierge des Hauses, eine runzlige Witwe, erschien am Fenster im ersten Stock, dann wich sie hinter den Vorhang zurück, als sie das Tor klappern hörte. Jedes Wohnhaus in Paris hatte eine Concierge, die durch natürliche Auslese sowohl außergewöhnlich neugierig als auch stets entschlossen war, sich dessen nicht beschuldigen zu lassen.

Der Farbenmann trat rückwärts durch das schmiedeeiserne Tor, wobei er seinen Holzkoffer hinter sich herzog, der fast so groß war wie er selbst.

Henri merkte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, und er wünschte, er wäre vom Malen nicht so abgelenkt gewesen, dass er das Trinken vergessen hatte, denn er hätte einen Cognac brauchen können, um seine Nerven zu beruhigen. Jetzt beugte er sich zu seiner Leinwand vor und tat, als arbeitete er pedantisch am Rand, obwohl er eigentlich nur sehr selten so nah vor der Leinwand saß und außerdem langstielige Pinsel bevorzugte.

»Monsieur!«, rief der Farbenmann und überquerte die Straße, wobei ihm der große Koffer an die Hacken schlug. »Kennt Ihr mich noch von der Avenue de Clichy? Monsieur, kann ich Euer Interesse für meine Farben wecken? An Eurem prächtigen Hut sehe ich, dass Ihr ein Mann mit Geschmack seid. Ich habe nur die feinsten Erden und Minerale, nicht dieses nachgemachte, preußische Zeug.«

Henri blickte von seinem Gemälde auf, als holte man ihn aus einem Traum. »Ach, Monsieur, ich habe Sie gar nicht gesehen. Um ehrlich zu sein, weiß ich heute nicht um den Inhalt meines Farbenkastens. Vielleicht könnte ich tatsächlich etwas brauchen.« Henri holte seinen Kasten unter der Staffelei hervor, löste die Riegel und klappte ihn auf. Ganz wie beabsichtigt, erinnerte der Anblick an einen trübsinnigen Friedhof zerdrückter Tuben – krumme Opfergaben an die Schönheit.

»Ha!«, sagte der Farbenmann. »Ihr braucht alles!«

»Ja, ja, die ganze Palette«, sagte Henri. »Und je eine große Tube Bleiweiß, Elfenbeinschwarz und Ultramarin.«

Der Farbenmann hatte seinen Koffer aufgeklappt, hielt jedoch inne. »Ich habe keine große Tube Ultramarin, Monsieur. Nur eine sehr kleine.« Seine Augen saßen so tief in ihren Höhlen, dass Henri sich bücken musste, um erkennen zu können, welcher Ausdruck darin lag, denn aus der Stimme des Farbenmannes sprach Bedauern. Nicht gerade das, was Henri erwartet hatte.

»Macht nichts, Monsieur«, sagte Henri. »Ich nehme, was Sie haben. Eine kleine Tube ist auch gut. Wenn ich mehr Blau brauche, kann ich immer noch …«

»Nicht diesen preußischen Dreck!«, bellte der Farbenmann.

»Ich wollte sagen, ich kann immer noch Standöl nehmen und das bisschen, das ich habe, weiß lasieren.«

Der Farbenmann neigte den Kopf. »Das macht doch keiner mehr. Das ist völlig unzeitgemäß. Ihr Jungspunde tragt die Farbe mit der Kelle auf. So macht man das heutzutage.«

Henri lächelte. Er dachte an Vincents bewusst brachiale Palettenmesserbilder, deren Farben so dick aufgetragen waren, dass sie ein halbes Jahr brauchten, um zu trocknen, selbst im heißen Süden. Bei dem Gedanken an Vincents Brief verfinsterten sich seine Gedanken allerdings. Der Farbenmann war in Arles gewesen.

»Nun«, sagte Henri, »lieber unzeitgemäß, als den preußischen Dreck zu verwenden.«

»Ha! Ja«, sagte der Farbenmann. »Oder dieses synthetische Zeug, das sie Französisches Ultramarin nennen. Egal, was die Leute sagen, es ist nicht dasselbe wie das Blau vom Lapislazuli. Es ist nicht das Heilige Blau. Ihr werdet es sehen. Ihr findet keine feinere Farbe, Monsieur.«

In dem Moment, als er die Tuben im Koffer sah, wuchs das Pentimento vor Henris innerem Auge zu einem klaren, deutlichen Bild heran. Er hatte die beiden einmal zusammen gesehen, draußen vor seinem Atelier, Carmen und den Farbenmann. Wie konnte er das vergessen? »Offen gesagt, habe ich Ihre Farben schon verwendet. Sie erinnern sich vielleicht?«

Der Farbenmann blickte von seinem Koffer auf. »Ich glaube, ich würde mich erinnern, wenn ich einem Zwerg etwas verkauft hätte.«

Da hätte Henri dem kleinen Krüppel am liebsten mit seinem Gehstock den Schädel eingeschlagen, doch er beruhigte sich so weit, dass er ihn anfahren konnte: »Monsieur, ich bin kein Zwerg. Ich bin volle sieben Zentimeter größer, als nötig wäre, um als Zwerg zu gelten, und ich verbitte mir derartige Unterstellungen.«

»Verzeihung, Monsieur. Mein Fehler. Dennoch würde ich mich daran erinnern, wenn ich Euch etwas verkauft hätte.«

»Ihre Farbe wurde von einem Mädchen erworben, das für mich Modell stand, eine gewisse Mademoiselle Carmen Gaudin. Vielleicht erinnern Sie sich.«

»Etwa eine Dienstmagd? Meine hat gestern gekündigt.«

»Möglicherweise haben Sie ihr zu viel abverlangt?«

»Penis«, erklärte der Farbenmann schulterzuckend.

»Ah, verstehe«, sagte Henri. »Meine weigert sich, die Fenster zu putzen. Nein, Mademoiselle Gaudin war von Beruf Wäscherin. Ein Rotschopf. Vielleicht erinnern Sie sich?«

Der Farbenmann lüftete seine Melone und kratzte sich am Kopf, als versuchte er, eine Erinnerung wachzurufen. »Sicher, gut möglich. Die rothaarige Wäscherin. Ja, ich hab mich gewundert, woher sie das Geld für Farben hatte.«

Darüber hatte sich Henri damals allerdings auch gewundert, als sie ihm die Farben schenkte. »Für unsere Bilder«, hatte sie gesagt.

»Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«, fragte Henri. »Früher arbeitete sie in der Wäscherei beim Place Pigalle, aber dort hat man sie lange nicht gesehen.«

»Sie hieß Carmen, oder?«

»Ja, Carmen Gaudin.«

»Sie wurde sehr krank. Gut möglich, dass sie gestorben ist.«

Henri spürte einen Stich in seinem Herzen. Er hatte nicht vorgehabt, nach ihr zu fragen. Er dachte, er hätte sie vergessen. Doch er spürte den Verlust, in diesem Moment, als er die Worte des Farbenmannes hörte.

Der Farbenmann setzte seinen Hut wieder auf. »Sie hatte eine Schwester im dritten Arrondissement, nicht weit von Les Halles, glaube ich. Vielleicht ist sie zum Sterben dorthin gegangen, wer weiß?«

»Vielleicht. Wie viel wollen Sie für die Farben?«, fragte Henri. Er nahm die Tuben und legte sie in seinen Kasten, dann zahlte er dem Händler, was dieser verlangte.

Der Farbenmann steckte die Scheine ein. »Ich denke, ich werde demnächst mehr Blau herstellen, falls es Euch ausgehen sollte. Ich werde Euch im Atelier aufsuchen.«

»Danke, ich ziehe es vor, in meinem Atelier ungestört zu bleiben. Ich komme zu Ihnen, nachdem ich ja nun weiß, wo Sie wohnen«, sagte Henri.

»Ich bin viel unterwegs«, erwiderte der Farbenmann.

»Tatsächlich? Waren Sie schon mal in Auvers-sur-Oise?« Aha!, dachte Henri. Jetzt hab ich dich.

»Auvers?« Der Hut wurde abgesetzt, weiteres Kopfkratzen, die Suche nach Antwort beim Betrachten der oberen Etagen des Gebäudes. »Nein, Monsieur. Wieso fragt Ihr?«

»Ein Freund schrieb mir einen Brief von dort und sagte, er habe Ölfarben von jemandem gekauft, der aussah wie Sie. Er war Holländer, lebt nicht mehr, leider.«

»Ich kenne keinen Holländer. Ich mache keine Geschäfte mit beschissenen Holländern. Scheißholländer mit ihrem holländischen Licht. Nein. Ich muss gehen.« Der Farbenmann klappte seinen Koffer zu, dann schnallte er ihn auf den Rücken und machte sich auf den Weg die Straße hinunter.

»Adieu«, rief Henri ihm nach.

»Scheißholländer«, knurrte der Farbenmann, als er seinen Koffer um die Ecke schleppte.

Carmen war zu ihrer Schwester ins 3. Arrondissement gezogen? Wenn er eine Droschke nahm, konnte Henri in einer halben Stunde dort sein. Das brauchte niemand zu erfahren.

Aber erst musste er herausfinden, was es mit dieser Farbe auf sich hatte.