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Herren mit Farbe unter den Nägeln

Paris, Mai 1863

Obwohl er sich daran nicht mehr erinnerte, war doch das Erste, was Lucien bei seiner Geburt – als er über den Rand der Welt blickte – zu sehen bekam, das Spundloch der Madame Lessard. Da kann doch irgendwas nicht stimmen, dachte er. Und er hatte das Gefühl, vor Schreck weinen zu müssen. Dann drehte ihn die Hebamme um, und er sah den blauen Himmel durch das Oberlicht. Er dachte: Ah, schon besser. Also beweinte er die Schönheit, und fast ein Jahr lang fehlten ihm die Worte. Er würde sich an diesen Moment nicht erinnern, doch von Zeit zu Zeit kehrte das Gefühl zurück, wenn er dem Blau begegnete.

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An jenem Tag, an dem Lucien geboren wurde, war Père Lessard weder in der Bäckerei noch oben in der Wohnung anzutreffen. Während Madame Lessard abwechselnd Lucien hervorpresste und den Bäcker bis ins Mark verfluchte, war Monsieur Lessard auf dem Weg quer durch Paris zum Palais de l’Élysee, um sich Gemälde anzusehen oder, was vielleicht noch wichtiger war, um sich die Leute anzusehen, die sich die Gemälde ansahen. Obwohl er sich später nicht mehr daran erinnern würde, begab es sich doch genau an diesem Tag, dem Tag, an dem sein einziger Sohn zur Welt kam, dass Père Lessard zum ersten Mal dem Farbenmann begegnete.

Vermutlich wären ihm die beiden zwischen den vielen Menschen, die dort Schlange standen, um ins palais zu gelangen, gar nicht aufgefallen, hätte die Frau nicht einen Hut mit einem Schleier aus spanischer Spitze getragen, wodurch sie auf dem weißen Weg und vor der marmornen Palastfassade wie ein Gespenst aussah, zumal sie – groß, wie sie war – über einem verkrüppelten, kleinen Mann mit braunem Anzug und Melone aufragte. Dieser trug eine aufgespannte Leinwand unterm Arm, in Schlachterpapier gewickelt. Er mochte bucklig sein, doch sein Buckel saß mitten auf der Wirbelsäule und spannte die Knöpfe seiner Weste, als wäre der Anzug für einen größeren, aufrechteren Mann geschneidert worden. Père Lessard schlich an den Wartenden entlang, gab sich alle Mühe, auffällig über die Menge hinwegzuspähen und dabei eine Stelle zu suchen, wo er das Gespräch des ungleichen Paares belauschen konnte.

»Aber zwei auf einmal!«, sagte die Frau. »Das will ich sehen.«

Der kleine Mann klopfte an das Bild unter seinem Arm. »Nein, ich habe, wofür ich gekommen bin«, sagte er, und seine Stimme klang wie knirschender Kies unter den Schuhen eines Schurken.

»Es sind meine Bilder«, sagte die Frau.

»Nein, du darfst da nicht reingehen. Was willst du sagen, wer du bist? Weißt du das überhaupt?«

»Das muss ich nicht wissen. Ich bin verschleiert.« Sie beugte sich herab und fuhr mit dem Finger im Spitzenhandschuh über die Wange des kleinen Mannes. »Bitte, cher. Es werden so viele Maler da drinnen sein.«

Père Lessard bemerkte, dass er die Luft anhielt, in der Hoffnung, sie würde ihren Schleier lüften. Tausend schöne Frauen standen auf dem Weg, doch ein Blick in deren Gesichter hatte nichts Magisches. Er musste hinter diesen Schleier blicken.

»Zu viele Menschen«, sagte der kleine Mann. »Große Menschen. Ich mag keine Menschen, die größer sind als ich.«

»Alle sind größer als du, cher.«

»Ja, große Menschen können lästig sein, Monsieur«, sagte Lessard. Er wusste nicht, wieso. Es war gar nicht seine Art, sich in fremder Leute Unterhaltung einzumischen, nicht einmal in seiner eigenen Bäckerei, aber diese Frau … »Verzeihung, aber ich habe versehentlich Ihr Gespräch mit angehört.«

Der kleine Mann blickte auf und blinzelte in den sonnigen Frühlingshimmel. Seine Augen saßen so tief unter der Stirn, dass sich kaum Licht in ihnen spiegelte, wie Laternen, die in einer dunklen Höhle verschwanden. Die Frau drehte sich um und sah Lessard an. Durch den spanischen Schleier erkannte der Bäcker ein blaues Halsband und den Anschein weißer Haut.

»Ihr seid doch selbst groß«, sagte der kleine Mann.

»Seid Ihr ein Maler?«, fragte die Frau mit einem Lächeln in der Stimme. Père Lessard fühlte sich überrumpelt. Er war weder groß noch Maler, also sollte er sich besser für seine Unverfrorenheit entschuldigen und weitergehen, doch als er den Kopf schüttelte und etwas antworten wollte, sagte die Frau: »Dann haben wir keine Verwendung für Euch. Seid so freundlich und verpisst Euch.«

»Gern«, sagte Lessard und drehte auf dem Absatz um, als hätte ihm ein General die Kehrtwende befohlen. »Ich bin so freundlich«, sagte er.

»Lessard!«, rief eine vertraute Stimme aus der Menge. Der Bäcker blickte auf und sah Camille Pissarro auf sich zukommen. »Lessard, was machst du denn hier?«

Lessard schüttelte Pissarros Hand. »Ich bin hier, um mir deine Bilder anzusehen.«

»Du kannst meine Bilder jederzeit sehen, mein Freund. Madame Lessard liegt in den Wehen, wie man hört. Julie ist den Hügel hinauf, um zu helfen.« Pissarro und seine Frau Julie lebten bei ihrer Mutter in einer Wohnung am Fuße des Montmartre. »Du solltest lieber nach Hause gehen.«

»Nein, da wäre ich nur im Weg«, sagte Lessard.

Später würde er Pissarro anschreien: »Woher hätte ich auch wissen sollen, dass sie mir einen Sohn schenken würde? Sie hat dieselben tochtergebärenden Laute von sich gegeben wie sonst und meine Männlichkeit verflucht. Ich liebe meine Töchter, aber bei der zweiten hatte sich die Gefahr bereits verdoppelt, dass eine davon mir das Herz brechen würde. Und jetzt noch eine dritte? Ich fand es nur angemessen, der Kleinen Zeit zu lassen, meinen Ruin mit ihrer Mutter und ihren Schwestern zu planen, bevor ich den ersten Blick in ihre Kleinmädchenaugen werfen und einmal mehr mein Herz verlieren würde.«

»Aber Madame hat dir einen Jungen geschenkt«, sagte der Maler. »Also hast du kein gebrochenes Herz zu fürchten.«

»Das bleibt abzuwarten«, sagte Lessard. »Ihre Verschlagenheit ist nicht zu unterschätzen.«

Direkt vor dem Palast wandte sich Lessard um, weil er den kleinen Mann und die Frau mit der spanischen Spitze um Verzeihung bitten wollte, doch sie waren fort, und schon im nächsten Augenblick hatte er sie vergessen. »Gehen wir uns die genialen Meisterwerke ansehen!«, sagte er zu Pissarro.

Ein gackerndes Lachen hallte aus dem großen Saal herüber, und eine Woge von Gelächter ging durch die Menge, wenn sie auch nicht sehen konnten, was diese Reaktion ausgelöst hatte.

»Geniale, verpönte Meisterwerke …«, sagte Pissarro, und ein befremdlicher Unterton der Verzweiflung trübte seinen karibischen Tonfall.

Sie schoben sich in die Menschenmenge, die in den Palast drängte: feine Herren mit Zylinder, schwarzem Frack und engen, grauen Hosen, Frauen in schwarzen Krinolinen und schwarzer oder dunkelbrauner Seide, die Säume der langen Röcke staubig, die neue Arbeiterklasse, die Männer mit weiß-blau gestreiften Jacketts und steifen Strohhüten, die Frauen in hübschen, bunten Kleidern, mit rüschenbesetzten Sonnenschirmen in Pastell, das Mandala des sonntagnachmittäglichen Müßiggangs, ein neuartiges Geschenk der industriellen Revolution.

»Aber du sagtest doch, der Salon bestünde nur aus Scharlatanen.«

»Ja«, sagte Pissarro. »Öde Akademiker.«

»›Sklaven der Tradition‹, sagtest du.«

Inzwischen schlurften sie durch die Räume der Ausstellung, in denen sich die Menschen drängten und es drückend heiß war. An den Wänden hingen vom Boden bis zur Decke gerahmte Leinwände aller Größen, ohne Rücksicht auf den Gegenstand des Werkes, da die Bilder in alphabetischer Reihenfolge nach dem Familiennamen des Künstlers aufgehängt waren.

Pissarro blieb vor einer Landschaft mit einer skandalös gewöhnlichen, roten Kuh stehen. »Die Feinde der Vorstellungskraft«, sagte der Maler.

»Hätten die Ignoranten dich nicht zurückgewiesen«, sagte Lessard in einem Impuls von künstlerischer Anarchie, »hättest du dich weigern müssen, deine Bilder bei ihnen auszustellen.«

»Nun ja«, sagte Pissarro und strich dabei über seinen Bart, den er auf die rote Kuh gerichtet hielt. »Aber vielleicht hätte ich vorher noch einige verkauft. Wer malen will, muss essen.«

Und das war der Haken. Zwar mochte es eine absolut legitime Berufswahl sein, als Maler in Paris leben zu wollen, und damals gab es achtzehntausend Maler in der Stadt, doch verdiente man seinen Lebensunterhalt als bildender Künstler nur durch den von der Regierung geförderten Salon. Allein mit Hilfe des Salons konnte ein Künstler seine Werke der Öffentlichkeit präsentieren und auf diese Weise Verkäufe und öffentliche Aufträge erreichen. Wer ausgeschlossen wurde, musste hungern. In diesem Jahr jedoch hatte die Jury des Salons, die sich in der Tat aus traditionellen, akademischen Malern zusammensetzte, mehr als dreitausend Bilder zurückgewiesen, was einen öffentlichen Aufschrei nach sich zog. Kaiser Louis Napoleon beschloss, die Bevölkerung zu beruhigen, indem ein Salon des Refusés für die abgewiesenen Bilder ermöglicht wurde. Pissarro zeigte zwei seiner Gemälde, beides Landschaften, keine davon mit roter Kuh.

»Ihr denkt bestimmt, auch Euren Bildern hätte eine rote Kuh gutgetan«, hauchte eine Frauenstimme ins Ohr des Malers. Fast zuckte er zusammen, dann wandte er sich um und sah eine Frau rechts neben sich, mit einem Hut und einem Schleier aus spanischer Spitze, der ihr Gesicht verbarg.

Lessard schien schon in den nächsten Raum gegangen zu sein, denn er war nicht mehr da.

»Dann haben Sie meine Landschaften gesehen, Mademoiselle?«

»Nein«, sagte die Frau, »aber ich habe einen Sinn für solche Dinge.«

»Woher wussten Sie dann, dass ich Maler bin?«

»Farbe unter Ihren Nägeln, cher. Und Sie betrachten die Farbe, nicht das Bild.«

Es verunsicherte Pissarro, von dieser fremden, verhüllten, unbegleiteten Frau cher genannt zu werden. »Nun, da stand keine Kuh, also habe ich keine Kuh gemalt. Ich male, was ich sehe.«

»Ein Realist also? Wie Corot und Courbet?«

»So in etwa«, sagte Pissarro. »Ich interessiere mich mehr für Licht und Farbe, als dass ich etwas erzählen will.«

»Oh, ich interessiere mich auch für Licht und Farbe«, sagte die Frau, nahm den Arm des Malers und drückte ihn spielerisch an ihre Brust. »Besonders für die Farbe Blau. Eine blaue Kuh vielleicht?«

Pissarro spürte, wie sich auf seinem Kopf Schweißperlen bildeten. »Pardon, Mademoiselle, ich muss meinen Freund suchen.«

Pissarro schob sich durch die Menge, vorbei an Hunderten von Bildern, ohne auch nur hinzusehen, und fühlte sich, als hetze er durch einen Dschungel, fort von irgendeinem düsteren Voodoo-Ritual, das er gestört hatte. (Was ihm als kleinem Jungen auf Saint Thomas passiert war, und noch heute kam er an keiner Pariser Kathedrale vorbei, ohne zu argwöhnen, dass dort drinnen dunkle Rituale abgehalten würden, bei denen blutige Hühnerfedern und schweißüberströmte, entrückte Afrikanerinnen eine zentrale Rolle spielten. Für einen weltlichen, karibischen Juden war der Katholizismus wie ein böser, undurchschaubarer Stiefbruder, der ihm überall auflauerte.)

Er holte Lessard im Saal »M« ein. Der Bäcker stand hinter einem Halbkreis von Leuten, die sich um eine große Leinwand versammelt hatten. Sie zeigten mit den Fingern und lachten.

Der Bäcker blickte zu seinem Freund auf. »Was ist mit dir passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Ich wurde soeben von einer merkwürdigen Frau erbarmungslos beliebäugelt«, sagte Pissarro.

»Dann sind gar nicht alle kleinen Frösche sonntags unten am Fluss?« Kleine Frösche, les grenouilles, war der Begriff für die koketten, jungen Mädchen, meist Verkäuferinnen, Näherinnen oder Gelegenheitsmodelle, die ihre freien Wochenenden am Ufer der Seine verbrachten, in (oder zumindest teilweise in) farbenfrohen Kleidern, auf der Suche nach einem Schoppen, einem Lied, einem Lachen, einem Mann, oft auch nur nach einem beschwipsten Ausflug in die Büsche. Auf alle Fälle nutzten sie eine weitere Erfindung, die der Arbeiterklasse neu war: das Vergnügen.

Pissarro lächelte über Lessards Scherz, dann erstarb sein Lächeln, als er das Bild betrachtete, dem man solche Aufmerksamkeit entgegenbrachte.

Es war ein Akt, eine junge Frau, die am Ufer eines Flusses saß, in Gesellschaft zweier korrekt gekleideter, junger Männer, das mitgebrachte Frühstück neben sich ausgebreitet. Im Hintergrund watete eine weitere junge Frau im weißen Unterrock im Fluss. Die Nackte sah den Betrachter offen an, mit einem feinen Lächeln, als wollte sie sagen: »Was denkst du, was hier los ist?«

»Der Name des Malers ist Édouard Manet«, sagte Lessard. »Kennst du ihn?«

Pissarro konnte sich nicht von der Leinwand abwenden. »Ich habe von ihm gehört. Er war ein Schüler vom Thomas Couture, als ich bei Corot lernte.«

Eine Frau arbeitete sich im Halbkreis nach vorn durch, begutachtete das Bild mit großer Geste von oben bis unten, dann hielt sie sich die Augen zu und eilte davon, wedelte sich Luft zu, als müsste sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

»Eines verstehe ich nicht«, sagte Lessard. »In dieser Ausstellung gibt es Hunderte Akte. Die Leute tun gerade so, als hätten sie so etwas noch nie gesehen.«

Pissarro schüttelte den Kopf, während er über seinen langen Bart strich, der bereits ergraute, obwohl er erst dreiunddreißig Jahre alt war. Er konnte sich von diesem Bild nicht abwenden. »Die anderen sind Göttinnen, Heldinnen, Mythen. Die hier ist anders. Das ändert alles.«

»Weil sie zu dürr ist?«, fragte der Bäcker, da er verstehen wollte, wieso die Leute über eine Szene lachten, die so ganz und gar unkomisch war.

»Nein, weil sie real ist«, sagte Pissarro. »Ich neide diesem Manet sein Werk, aber nicht das Unbehagen, das er empfinden muss.«

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»Er?«, sagte eine vertraute Stimme an seinem Ohr, und wieder schmiegten sich Brüste an seinen Arm. »Er hat doch nicht stundenlang mit nacktem Arsch im Gras gesessen.«

Édouard Manet schien es, als stünde ganz Paris Schlange, um ihm ins Gesicht zu spucken. »Dieses Bild wird die Stadt aufhorchen lassen«, hatte er zu seinem Freund Charles Baudelaire vor einer Woche gesagt. Jetzt hätte er dem Dichter (der in Strasbourg weilte) am liebsten sofort einen Brief geschrieben, um dem Entsetzen Luft zu machen, das ihn ergriff, weil die Menschen über seine Arbeit lachten.

Manet war einunddreißig Jahre alt, Sohn eines Richters, mit ordentlicher Ausbildung, aus wohlhabender Familie. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften und frisierte seinen Bart nach der neuesten Mode. Gern ließ er sich in den Cafés sehen, parlierte mit seinen Freunden über Philosophie und Kunst, genoss es, im Mittelpunkt zu stehen – ein heller Kopf, ein Anekdotenerzähler, ein rechter Dandy. Heute jedoch wäre er am liebsten unauffällig im Marmorboden versunken.

Er nahm die buttergelben Lederhandschuhe aus seinem Zylinder und tat, als konzentrierte er sich darauf, sie anzuziehen, während er sich auf den Weg zum Ausgang machte, in der Hoffnung, der Aufmerksamkeit zu entgehen, doch als er gerade um eine Marmorsäule in den nächsten Raum schlich, hörte er seinen Namen und beging den Fehler, sich umzublicken.

»Monsieur Manet! Bitte!« Ein hochgewachsener, junger Herr näherte sich, flankiert von einem schmächtigen Burschen mit hellem Ziegenbärtchen, der einen abgewetzten Leinenanzug trug, und einem stämmigen Kerl mit dunklem Vollbart und ebenso dunklem Rock, aus dessen Ärmeln Spitzenmanschetten ragten.

»Verzeihen Sie, Monsieur Manet«, sagte der junge Herr. »Ich bin Frédéric Bazille, und das sind meine Freunde …«

»Der Maler Monet«, sagte der Kerl mit den Spitzenmanschetten. Er schlug die Hacken zusammen und deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir eine Ehre, Monsieur.«

»Renoir«, sagte der Schmächtige achselzuckend.

»Sind Sie nicht auch Maler?«, fragte Manet, dem die Farbe an Renoirs Jacke aufgefallen war.

»Nun, ja, aber das behalte ich anfangs lieber für mich, für den Fall, dass ich mir noch Geld borgen muss.«

Manet lachte. »Das Urteil der Menschen kann harsch sein, ob mit oder ohne vorherige Kenntnis, Monsieur Renoir. Das hat mich der heutige Tag gelehrt.«

Hinter ihnen feixte eine Frau, die sich ein Bild von Manet ansah, während eine Schwangere in Ohnmacht zu fallen vorgab und am Arm ihres heroischen, deutlich pikierten Ehemannes hinausgeführt werden musste. Manet verzog das Gesicht.

»Es ist ein Meisterwerk!«, sagte Bazille in dem Versuch, den älteren Maler abzulenken. »Darin sind wir uns alle einig. Wir sind Schüler im Atelier des Monsieur Gleyer.«

Die beiden anderen nickten. »Bazille ist gerade durch sein Medizinexamen gefallen«, sagte Renoir.

Bazille funkelte seinen Freund an. »Warum musst du ihm das erzählen?«

»Damit er sich besser fühlt, wenn die Leute über sein Bild lachen«, sagte Renoir. »Welches grandios ist, auch wenn ich das Mädchen etwas zu mager finde.«

»Sie ist real«, sagte Monet. »Das ist doch gerade das Geniale daran.«

»Ich mag Mädchen mit großem Hintern«, sagte Renoir und zeichnete in die Luft, welche Größe er meinte.

»Haben Sie es plein air gemalt?«, fragte Monet. Sie alle hatten in letzter Zeit unter freiem Himmel gearbeitet und waren nur drinnen, wenn sie in Gleyers Atelier Figuren zeichneten oder im Louvre Bilder kopierten.

»Ich habe die Skizzen im Freien vorgenommen, aber gemalt habe ich im Atelier.«

»Wie heißt das Bild?«, fragte Bazille.

»Ich nenne es Das Bad‹«, sagte Manet, der mit der öffentlichen Reaktion inzwischen schon besser zurechtkam. Vor ihm standen intelligente, junge Männer, die etwas von der Malerei verstanden, die begriffen, was er wollte, und denen das Bild gefiel.

»Na, wenn das kein dämlicher Titel ist«, sagte eine Frauenstimme plötzlich neben ihnen. »Sie ist ja gar nicht nass, nicht mal feucht.«

Die jungen Maler wichen zurück. Eine in spanische Spitze gewandete Frau hatte sich zu der Gruppe gesellt.

»Vielleicht betrachten wir den Moment kurz vor dem Bad«, sagte Manet. »Das Motiv ist klassisch, Madame. Nach Raffaels Urteil des Paris.«

»Ich wusste, dass mir die Pose bekannt vorkam«, sagte Bazille. »Ich habe eine Radierung von diesem Bild im Louvre gesehen.«

»Nun, das erklärt manches«, sagte die Frau. »Der Louvre frömmelt ein wenig, habe ich recht? Da kann man keine Handvoll Pfeile werfen, ohne drei Madonnen und ein Jesuskind zu treffen. Und Raffael war ein fauler, kleiner Geck.«

»Er war ein großer Meister«, sagte Manet wie ein empörter Kenner. »Obwohl dem Salon die klassische Referenz offenbar entgangen ist«, fügte er seufzend hinzu.

»Der Salon ist einfach nicht mehr auf dem Laufenden«, sagte Bazille.

»Alles Opportunisten und Politiker«, sagte Monet. »Die könnten ein gutes Bild nicht mal erkennen, wenn Rembrandt es ihnen höchstpersönlich vorführen würde.«

»In diesem Jahr haben sie ein Bild von mir angenommen«, sagte Renoir.

Und alle drehten sich zu ihm um, selbst die Frau unter dem Spitzenschleier.

»Was ist los mit dir?«, fragte Bazille.

Renoir zuckte mit den Schultern. »Es wurde nicht verkauft.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Monet. »Renoir ist ein Maler, der nur ein Maler sein will. Taktgefühl ist ihm ein Rätsel.«

Manet lächelte. »Glückwunsch, Monsieur Renoir. Darf ich Ihnen die Hand schütteln?«

Renoir strahlte im Licht der Aufmerksamkeit des älteren Künstlers. »Vielleicht ist sie doch nicht zu mager«, sagte er, als er Manets Hand nahm.

»Aber nass ist sie trotzdem nicht«, sagte die Frau. »Das ist kein Bild von badenden Menschen. Für mich sieht es aus, als würde sie überlegen, mit welchen der beiden Kerle sie sich gleich zum Vögeln in die Büsche schlagen will.«

Da drehten sich alle zu der Frau um, die jungen Männer sprachlos vor Verlegenheit und Leibeslust. Manet war schlicht entsetzt.

»Es sei denn, sie hätten es bereits getan«, fuhr die Frau fort. »Sehen Sie doch, die Speisen liegen überall verteilt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie scheint zu sagen: Stimmt genau, ich hab sie mir beide zur Brust genommen. Im Gras. Zum Frühstück.‹«

Manet hatte einen Moment lang aufgehört zu atmen. In der Hitze wurde ihm ganz schwindlig, und er stützte sich auf seinen Gehstock.

Renoir fand zuerst die Sprache wieder. »Ihr Blick ist doch rätselhaft. Wie bei der Mona Lisa.«

»Und was glauben Sie, was die Mona Lisa damals gesagt hätte?«, fragte die Frau. Sie stieß Monet in die Rippen, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen, dann beugte sie sich zu ihm vor. »Hm? Mon petit ours?«

»Ich … äh …« Niemand hatte ihn je »Bärchen« genannt, und er war nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. Er sah Manet an, in der Hoffnung, der ältere Maler könnte ihn retten.

»Dann nenne ich es vielleicht Das Frühstück im Grünen«, sagte Manet. »Nachdem ich es offenbar versäumt habe, das Modell ausreichend zu befeuchten.« Er warf seinen Gehstock in die Luft und fing ihn wie ein Zauberer, dessen Vorstellung nun begann. »Madame, wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muss gehen. Meine Herren, es war mir ein Vergnügen. Sollten Sie heute Abend frei sein, gesellen Sie sich vielleicht auf einen Trunk zu mir, im Café de Bade am Boulevard des Italiens, so gegen acht.« Er gab allen die Hand, verneigte sich vor der Frau, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Ausstellung mit einem Gefühl, als wäre er eben einem Mordanschlag entgangen.

»Monsieur Manet war es selbst, der in den Büschen auf ihr lag«, sagte die Frau mit dem Spitzenschleier, während sie über Monets Schulter hinweg das Bild betrachtete. »Meinen Sie nicht?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Monet. »Ein Künstler und sein Modell …«

»Sie sind Maler, richtig? Sie sind doch alle Maler, oder?«

»Das sind wir allerdings, Mademoiselle«, sagte Bazille. »Aber wir ziehen es vor, plein air zu malen.«

»Draußen? Bei Tageslicht? Ach, wie schön …«, sagte sie. »Nur damit Sie Bescheid wissen: Wenn Sie sich mit Ihrem Modell in die Büsche schlagen, breiten Sie eine Decke aus. Das gehört sich so.«

Das wütende Bellen eines Mannes hallte durch die Galerie. Die Frau blickte auf, erschrocken.

Renoir entdeckte einen kleinen Kerl in braunem Anzug und mit Melone, der sich durch die Menge rempelte und in einer Sprache brüllte, die er nicht erkannte.

»Ich glaube, der alte Knabe dort winkt Ihnen«, sagte Renoir.

»Ach du je, das ist mein Onkel. Ein solcher Langweiler. Ich muss gehen.« Sie raffte ihre Röcke zusammen und beschrieb eine forsche Wende. »Wir sehen uns wieder, meine Herren.«

»Aber wie sollen wir Sie erkennen?«, fragte Monet. »Wir wissen nicht einmal Ihren Namen.«

»Sie werden mich schon erkennen.« Und damit enteilte sie, schob sich durch die Menge wie eine schwarze Wolke, wobei der kleine Mann ihr hinterherhinkte und versuchte, sie zwischen den Reifröcken, Rockschößen und Sonnenschirmen nicht aus den Augen zu verlieren.

Monet sagte: »Hat jemand ihr Gesicht gesehen?«

»Nein«, sagte Renoir, »nur die schwarze Spitze, als trüge sie Trauer.«

»Vielleicht ist sie vernarbt«, sagte Bazille.

»Sie trug blaues Lippenpuder«, sagte Monet. »Ich konnte es durch die Spitze erkennen. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Glaubt ihr, sie ist eine Professionelle?«, fragte Renoir.

»Könnte sein«, sagte Bazille. »Keine echte Dame würde so sprechen.«

»Nein, ich meine Manets Modell.« Renoir sah sich wieder das Bild an. »So dürr, wie sie ist, muss sie wahrscheinlich Modell sitzen, um ihren Hurenlohn aufzubessern.«

»Möglich«, sagte Monet, der seine Aufmerksamkeit nun vollends dem Bild zuwandte. »Könnt ihr euch vorstellen, so etwas unter freiem Himmel zu malen? Einen solchen Moment auf einer riesigen Leinwand festzuhalten, in Originalgröße?«

»Nun, du wirst wohl eine Prostituierte malen müssen, wenn du möchtest, dass sie sich nackt an den Fluss setzt«, sagte Renoir.

»Und du brauchst Geld, um sie zu bezahlen«, sagte Bazille.

»Zweifellos«, sagte Renoir. »Zwar könnte man vermutlich ein Mädchen dazu bewegen, sich in einen zu verlieben, und die würde sich umsonst ins Gras setzen, aber wenn sie keine Hure ist, glaube ich kaum, dass sie die Sache mit dem Nacktsein mitmacht.«

»Du hast recht, Renoir«, sagte Monet, während er den Blick auf das Bild gerichtet hielt. »Wir müssen gehen.«

»Müssen wir?«, sagte Renoir. »Wollen wir uns denn dein Bild gar nicht ansehen?«

»Nein, wir müssen diese Frau mit der spanischen Spitze finden. Sie wird es tun. Zumindest schien sie mir offen für die Idee zu sein.« Ein breites, begeistertes Grinsen zerteilte seinen Bart. »Ein zeitgenössisches Abbild der Moderne, eingefangen auf einer gigantischen Leinwand. Ich werde die Zeit anhalten – für mein eigenes Frühstück im Grünen!« Er drehte sich um und marschierte mit solcher Entschlossenheit in die Menge, dass ihm die Leute Platz machten, ohne dass er darum bitten musste.

»Aber für so eine große Leinwand hast du kein Geld«, sagte Bazille, der seinen Freunden in den nächsten Ausstellungsraum folgte. »Weder für Farbe noch für Pinsel.«

»Aber du«, sagte Monet.

Renoir blickte über seine Schulter und nickte. »Und wenn du deinen Vater fragst, denk daran, dass auch noch genug für die Hure bleiben muss.«

»Ich werde meinen Vater nicht um Geld für eine Hure bitten, damit du sie malen kannst«, sagte Bazille.

»Doch, wirst du«, sagte Monet.

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Als er den »W«-Saal betrat, fiel Manet sofort ein sehr großes Bild von einer rothaarigen Frau auf, ganz in Weiß. Ihr Blick wirkte, als würde sie den Betrachter nicht nur ansehen, sondern direkt in ihn hinein, als durchschaute sie ihn, als hätte sie ihn in der Hand. Seine Badende besaß eine ähnliche Qualität, und diesen Ausdruck in einem anderen Gemälde zu finden, nahm der Kritik, die er den ganzen Tag über erlitten hatte, die Schärfe. Dann entdeckte er den Maler, der einer kleinen Gruppe von Bewunderern einen Vortrag hielt.

»Whistler!«, rief Manet. »Wie geht’s deiner Mutter?«

Der Amerikaner verneigte sich vor der Gruppe und wandte sich seinem Freund zu, um ihn zu begrüßen. Er war ein hagerer, dunkelhaariger Bursche etwa im selben Alter wie Manet, mit haarsträubendem Schnauzer und einem Monokel, das in sein Auge geschraubt war wie das Bullauge eines Kriegsschiffes. Er sah schwächer, blasser aus als bei ihrer letzten, ausgesprochen amüsanten Begegnung vor einem Jahr im Café Molière, und er stützte sich sogar auf seinen Gehstock wie ein Lahmer, statt ihn zu schwenken wie ein modisches accoutrement.

Whistler scherzte oft über seine puritanische Mutter, die ihn mit wöchentlichen Briefen daran erinnerte, dass er sein Leben und den guten Namen der Familie verspielte, indem er versuchte, in London als Maler zu überleben.

»Ach, Mutter«, sagte Whistler auf Englisch. »Sie ist eine Komposition in Grau und Schwarz. Ihr Unmut fällt wie ein Schatten über den Atlantik. Und deine?«

Manet lachte. »Verbirgt ihre Scham und betet darum, dass einer ihrer Söhne die Juristerei aufnimmt wie unser Vater.«

»Unsere Mütter sollten einander beim Tee ihr Leid klagen«, sagte Whistler.

Manet ließ die Hand des Freundes los und wandte seine Aufmerksamkeit dem Bild zu. »Der Salon hat es abgewiesen? Sie ist so kühn. So lebensnah.« Das Mädchen im langen, weißen Kleid stand barfüßig auf einem weißen Bärenfell, darunter ein orientalischer Teppich mit blauen Blumen.

»Mein Mädchen in Weiß‹. Sie wurde vom Salon und der Londoner Akademie abgewiesen. Sie heißt Jo Hiffernan«, sagte Whistler. »Eine irische Wildkatze – Haut wie Milch. Schlagfertig, für eine Frau, mit einer Seele, tief wie ein Brunnen.«

»Ach, armer Jemmie«, sagte Manet. »Musst du dich denn in jede Frau verlieben, die du malst?«

»Nichts dergleichen. Das Weib hat mich vergiftet, und der Beweis dafür hängt hier.« Whistler deutete auf das Bild. »Bestimmt hundertmal habe ich die Farbe von der Leinwand gekratzt und von vorn begonnen. Das viele Bleiweiß dringt in die Haut. Ich sehe immer noch einen farbigen Saum um jede Lichtquelle herum. Mein Arzt sagt, es wird noch Monate dauern, bis ich wieder normal sehen kann. Ich war sogar schon zur Erholung in Biarritz, am Meer.«

Das erklärte es. Bleivergiftung. Manet atmete etwas ruhiger. »Und das Hinken? Auch von der Bleivergiftung?«

»Nein, letzte Woche habe ich am Strand gemalt und wurde von einer Welle umgerissen. Die Brandung hat regelrecht auf mich eingeprügelt. Ich wäre ertrunken, wenn mich nicht ein paar Fischer gerettet hätten.«

Sie schob sich zwischen die beiden wie ein kleiner Sturm, mit schwarzer Spitze im Fahrwasser. »Dann hätten Sie wohl lieber in London bleiben und die Rothaarige auf dem Bärenfell begatten sollen, was?«, sagte sie auf Englisch mit irischem Akzent.

Whistler verlor das Wenige, was er an Farbe im Gesicht hatte. »Verzeihen Sie, Mademoiselle …«

»Ein Bärenfell ist doch um einiges bequemer als das Ufer der Seine, nicht wahr, Édouard?«, sagte sie auf Französisch zu Manet und drückte seinen Bizeps. »Immerhin hat er sich bei ihr keine Syphilis eingefangen, non?«

Manet spürte, wie sich sein Mund bewegte, doch es kamen keine Worte heraus. Die Maler, beide nie um einen guten Spruch verlegen, sahen sich an, sprachlos.

»Sie beide sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen. Oh, da ist mein Onkel wieder! Ich muss gehen. Ta-ta!«

Sie eilte durch die Menge davon. Whistlers Monokel fiel aus seinem Auge und baumelte am Ende der seidenen Kordel. »Wer war diese Frau?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Manet. »Kennst du sie denn nicht?«

»Nein. Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht«, log Manet.

»Sie kannte deinen Namen.«

Manet zuckte mit den Schultern. »Man kennt mich in Paris.«

Er wusste wirklich nicht, wer sie war. Er wusste nicht einmal, was sie war. Plötzlich fühlte er sich krank, und das nicht wegen der Kritik an seinem Bild. »Jemmie, du hast doch nicht an deinem Mädchen in Weiß gearbeitet, als du in Biarritz deinen Unfall hattest, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Das war im Atelier. Das Bild in Biarritz hieß Die Blaue Welle.«

»Verstehe«, sagte Manet. »Selbstredend.«

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Die Blaue Welle hieß zufällig auch das Gemälde, das der Farbenmann mit sich herumtrug, in Schlachterpapier gewickelt, unterm Arm, während er der Frau mit dem spanischen Spitzenschleier hinterherlief.

»Wo warst du?« Er folgte ihr aus dem Palast hinaus in die grelle Mittagssonne.

»Hab mich amüsiert«, sagte sie, ohne langsamer zu werden. »Hast du sie gesehen? Diese jungen Künstler? Sie malen unter freiem Himmel – im Sonnenschein! Weißt du denn nicht, was das bedeutet?«

»Blau?«

»Oui, mon cher. Beaucoup bleu.«