18
Zeit der Züge
Es ist halb drei. Es ist halb drei. Es ist halb drei.« »Du sollst die Uhr im Auge behalten, um dich zu konzentrieren«, erklärte der Professeur, der seine Taschenuhr vor Luciens Gesicht baumeln ließ. »Nicht um ständig die Uhrzeit anzusagen.«
»Das wusste ich nicht.« Lucien blinzelte die Uhr an. Seit einer halben Stunde suchten sie nun schon einen Zugang zu seinen frühesten Erinnerungen an den Farbenmann, doch sie hatten bisher nur die Uhrzeit gefunden. »Sie haben gesagt, ich soll mich auf die Uhr konzentrieren. Ich dachte, Sie wollten wissen, wie spät es ist.«
»Wann fängt er an, sich wie ein Huhn aufzuführen?«, fragte Henri. »Ich muss bald in die Druckerei.«
»Der zu Hypnotisierende muss für die Hypnose empfänglich sein«, sagte der Professeur. »Vielleicht sollten wir es mit Ihnen versuchen, Monsieur Lautrec.«
»Und die vielen tausend Francs vergeuden, die ich für Alkohol ausgegeben habe, um genau diese Erinnerungen zu vertreiben, die Sie wachrufen wollen? Ich glaube kaum. Aber ich habe eine Idee, die bei Lucien funktionieren dürfte. Könnten wir ein Experiment wagen?«
»Gewiss«, sagte der Professeur.
»Dafür bräuchte ich den Rest der blauen Ölfarbe, die ich Ihnen zur Analyse überlassen habe.«
Der Professeur holte die Tube aus dem Schlafzimmer/Laboratorium und gab sie Lautrec, der sie aufschraubte.
»Ich werde keine Farbe essen«, sagte Lucien.
»Du musst sie auch nicht essen«, sagte Henri. »Du sollst sie dir nur ansehen.« Und mit diesen Worten drückte er einen Farbklecks auf die Uhr des Professeurs und verschmierte ihn auf dem Zifferblatt.
»Diese Uhr gehörte meinem Vater«, sagte der Professeur und betrachtete stirnrunzelnd sein frisch gestrichenes Zeiteisen.
»Im Namen der Wissenschaft!«, erklärte Toulouse-Lautrec. »Versuchen Sie es jetzt noch mal.« Er hinkte in die Küche. »Haben Sie denn nicht wenigstens Sherry zum Kochen?«
Der Professeur ließ die Uhr vor Luciens Gesicht baumeln. »Wenn du dich jetzt einfach nur auf die Uhr konzentrieren könntest, auf das Blau.«
Lucien saß kerzengerade auf dem Sofa. »Ich sehe keinen Sinn darin. Woran soll ich mich erinnern?«
Henri kehrte mit einer sehr staubigen Flasche Brandy in der Hand ins Wohnzimmer zurück. »Wir wissen erst, woran du dich erinnerst, wenn du dich daran erinnerst.«
»Glauben Sie, es wird mir helfen, Juliette zu finden?« Denn daher rührte der Widerstand. Lucien fürchtete, der Professeur könnte tatsächlich dazu in der Lage sein, verlorene Erinnerungen wachzurufen, und was wäre, wenn ihm wieder einfiel, dass seine Juliette gewissermaßen eine falsche Schlange war? Er konnte es nicht ertragen.
»Moment mal. Henri, du sagtest, Carmen hätte sich nicht an dich erinnert, aber sie war nicht unfreundlich zu dir, oder? Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie sich vor dir verstecken. Vielleicht hat sie eher unfreiwillig beim Plan des Farbenmannes mitgemacht. Vielleicht hat sie dich von Herzen geliebt, und er hat dafür gesorgt, dass sie es vergisst. Vielleicht wurde auch Juliette gegen ihren Willen manipuliert.«
»Vielleicht«, sagte Lautrec gedankenverloren, »aber sie ist zu schön, als dass sie frei von Bosheit wäre.«
Henri schlenderte im Zimmer herum und suchte die Ecken und Winkel ab, verschob diverse Apparate und Instrumente und entschied sich schließlich für ein kleines, zylindrisches Messgefäß. In dieses schenkte er Brandy ein.
»Monsieur«, sagte der Professeur kopfschüttelnd, »das wurde zuletzt für eine ziemlich giftige Substanz verwendet.«
»Mist, blöder«, sagte Lautrec. Er nahm den Schädel eines kleinen Tiers, eines Äffchens, wie es schien, vom Schreibtisch des Professeurs und gab einen Schwung Brandy hinein, dann schlürfte er daran.
»Henri!«, schimpfte Lucien.
»Dürfte ich eine demitasse aus der Küche vorschlagen?«, sagte der Professeur. »Ich bereite mir morgens meinen Kaffee selbst.«
»Auch gut«, sagte Henri, trank den Affenschädel leer, stellte ihn auf den Schreibtisch zurück und hinkte in die Küche.
»Wieso trinkst du nicht einfach aus der Flasche?«, rief Lucien ihm hinterher.
Henri blickte um die Ecke. »Ich bitte Euch, Monsieur, bin ich etwa ein Barbar?«
Als sie alle wieder im Wohnzimmer saßen, Henri mit seinem Brandy, der Professeur mit seiner Uhr, Lucien mit seiner dunklen Vorahnung, ging die ganze Chose wieder von vorn los. Diesmal drehte der Professeur die Uhr langsam an ihrer Kette, während er Lucien seine entspannende, konzentrierende, einschläfernde Litanei vorbetete.
»Deine Augenlider werden schwer, Lucien. Du darfst sie schließen, wenn du möchtest. Wenn du es tust, fällst du in tiefen Schlaf. Du wirst mich immer noch hören und mir antworten können, aber du wirst schlafen.«
Lucien schloss die Augen, und sein Kopf sank auf die Brust.
»Du bist hier in Sicherheit«, sagte der Professeur. »Dir kann nichts passieren.«
»Falls du das dringende Bedürfnis verspüren solltest, nach Würmern zu scharren, könnten wir das verstehen«, sagte Henri.
Der Professeur hieß den Maler schweigen, hielt einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Bitte, Monsieur, ich will ihn nicht dazu bewegen, sich wie ein Huhn aufzuführen.« Zu Lucien sagte er: »Wie geht es dir, Lucien?«
»Ich bin hier in Sicherheit. Mir kann nichts passieren.«
»Recht so. Jetzt möchte ich, dass du zurückgehst, zurückreist, rückwärts durch die Zeit. Stell dir vor, du steigst eine Treppe hinab, und bei jedem Schritt gehst du ein Jahr zurück. Du siehst deine Vergangenheit an dir vorüberziehen und erinnerst dich der schönen Momente, gehst aber immer weiter, bis du zum ersten Mal dem Farbenmann begegnest.«
»Ich sehe ihn«, sagte Lucien. »Ich bin mit Juliette zusammen. Wir trinken Wein im Lapin Agile. Ich sehe ihn draußen vor dem Fenster. Er steht mit seinem Esel auf der anderen Straßenseite.«
»Wie weit bist du zurückgereist?«
»Drei Jahre etwa. Ja, drei Jahre. Juliette ist bezaubernd.«
»Natürlich ist sie das«, sagte der Professeur. »Aber jetzt musst du deine Reise fortsetzen, die Treppe hinab, bis du den Farbenmann wiedersiehst. Abwärts, abwärts, rückwärts durch die Zeit.«
»Ich sehe ihn!«
»Und wie weit bist du gegangen?«
»Ich bin vielleicht vierzehn Jahre alt.«
»Erregen dich die Nonnen in der Schule insgeheim?«, fragte Henri.
»Nein, da sind keine Nonnen«, sagte Lucien.
»Vielleicht ging es nur mir so«, sagte Henri.
»Nein, es ging nicht nur Ihnen so«, sagte der Professeur ohne nähere Erklärung. »Sprich weiter, Lucien. Was siehst du?«
»Es ist früh am Morgen, und es regnet. Ich war draußen im Regen, aber jetzt stehe ich unter einem Dach. Einem sehr hohen Glasdach.«
»Und wo ist dieses Dach?«
»Es ist ein Bahnhof. Es ist der Gare Saint-Lazare. Ich trage drei Staffeleien und einen Farbkasten für Monsieur Monet. Er steht noch immer draußen im Regen und unterhält sich mit dem Farbenmann. Der Farbenmann kann seinen Esel nicht dazu bewegen, unter das Vordach des Bahnhofs zu kommen. Monsieur Monet sagt, er hat kein Geld für Farben. Er sagt, er will das Wüten von Rauch und Dampf einfangen. Der Farbenmann reicht ihm eine Tube Ultramarin. Er sagt, nur damit geht es, und Monet kann ihn später bezahlen. Ich verstehe nicht, was der Farbenmann als Nächstes sagt, aber Monsieur Monet lacht ihn aus und nimmt die Farbe.«
»Arbeitet der Farbenmann mit einem Mädchen?«, fragte Henri. »Siehst du ein Mädchen?«
»Ja. Nicht direkt beim Farbenmann, aber in der Nähe. Sie steht im Bahnhof, aber es ist noch sehr früh, und kaum ein Mensch ist da.«
»Wie sieht sie aus?«
»Ich kann sie nicht richtig sehen. Sie hält einen Schirm in der Hand, und der verbirgt ihr Gesicht. Sie ist klein, dünn. Nach ihrem Kleid und der Haltung zu urteilen, würde ich sagen, sie ist ziemlich jung.«
»Kommst du näher heran?«, fragte der Professeur. »Versuch mal, einen Blick auf sie zu werfen.«
»Ich stelle die Staffeleien ab und gehe auf sie zu. Sie blickt hinter ihrem Schirm hervor, dann hastet sie davon, zum Ausgang an der Rue de Rome. Als sie in den Regen hinaustritt, muss sie den Schirm anheben. Ja, sie ist jung. Hübsch.«
»Kennst du sie?«
»Kannst du ihre Brüste berühren?«, fragte Henri.
»Monsieur Toulouse-Lautrec, ich muss doch sehr bitten«, sagte der Professeur.
»Was? Sie ist eine Illusion, da gelten keine Anstandsregeln.«
»Es ist Margot«, sagte Lucien. »Das Mädchen, das Monsieur Renoir im Moulin de la Galette gemalt hat. Sie beugt sich vor, spricht hinter ihrem Schirm mit dem Farbenmann. Gemeinsam gehen sie weg. Ich will versuchen, ihnen zu folgen.«
Paris 1877, Gare Saint-Lazare
»Ich bin der Maler Monet«, verkündete Monet dem Bahnhofsvorsteher. Der Schaffner, der Monets Visitenkarte vorgelegt hatte, stand am Schreibtisch des Vorstehers, in halber Verbeugung vor dem feinen Herrn erstarrt. Lucien wartete – wie vereinbart – sabbernd in der Tür und balancierte mit zwei linken Händen die drei Staffeleien, Monets Farbenkasten und eine breite Holzkiste zum Transport der feuchten Leinwände.
Monet trug ein Samtjackett, dazu eine seidene Weste mit goldener Uhrkette, Spitzenmanschetten an den Handgelenken, eine schwarze Seidenkrawatte um den Hals gebunden und mit perlenbesetzter Krawattennadel festgesteckt – von Kopf bis Fuß ein Gentleman, ein Dandy, Herr über seine Welt. Das Revers beulte ein wenig aus und verriet ein halbes Baguette, das unter seiner Jacke versteckt war, die Reste des Frühstücks, das ihm Mère Lessard hatte zukommen lassen, da er kein Geld besaß, mit dem er sich etwas hätte kaufen können.
»Ich habe beschlossen, Ihren Bahnhof zu malen«, sagte Monet. »Ich gebe zu, ich war hin- und hergerissen zwischen dem Gare du Nord und Ihrem Bahnhof, doch ich finde, Ihr Bahnhof hat mehr Charakter, und so soll es der Gare Saint-Lazare sein, der geehrt wird.«
Der Bahnhofsvorsteher, ein dürrer, nervöser Mann mit halber Glatze – wie geschaffen für die Bürokratie – fühlte sich geschmeichelt. Er stand am Schreibtisch, in seinem ockergelb karierten Anzug, und begann in seinen Unterlagen herumzuwühlen, als könnte ihm irgendetwas auf dem Schreibtisch den Wert seines Bahnhofs bestätigen.
»Das ist mein Assistent Lucien«, verkündete Monet, machte auf dem Absatz kehrt und schritt in die große Halle des Bahnhofs voraus. »Er ist ein Einfaltspinsel, aber ich erlaube ihm, mein Handwerkszeug zu tragen, damit er nicht verhungern muss. Seien Sie unbesorgt, falls er Farbe essen sollte. Ich gestatte ihm eine halbe Tube täglich.«
»Bonjour«, sabberte Lucien.
Der Bahnhofsvorsteher und der Schaffner nickten dem Jungen unbehaglich zu, dann schoben sie sich in der Tür an ihm vorbei, als könnten sie sich bei einer Berührung anstecken, und folgten Monet auf den Bahnsteig unter die große Uhr hinaus.
»Ich möchte den Dampf und den Rauch malen, das Wüten der Maschinen, die sich auf die Abfahrt vorbereiten. Verstehen Sie, ich will Nebel malen und auf der Leinwand einfangen, was noch kein Maler eingefangen hat.«
Der Bahnhofsvorsteher und der Schaffner nickten gemeinsam, rührten sich jedoch nicht und machten diesbezüglich auch keinerlei Anstalten, als hätte das Gebaren des Künstlers sie schier überwältigt.
»Lucien, stell meine Staffeleien auf«, sagte Monet und deutete mit dem Finger. »Da! Da! Da!«
Die barschen Anweisungen des Malers rissen den Bahnhofsvorsteher aus seiner Benommenheit. Wenn da Dampf sein sollte, würde man die Lokomotiven beheizen müssen. »Bringt mir Lok Nummer zwölf unters Dach. Gebt den Maschinisten draußen vor der Halle Bescheid, sie sollen Dampf machen.«
»Für mich wäre es von einiger Bedeutung, dass sie gleichzeitig dampfen«, sagte Monet.
»Sagt ihnen, sie sollen auf mein Kommando Dampf ablassen«, wies der Bahnhofsvorsteher den Schaffner an, der sogleich die Schienen entlanglief. Zu Monet gewandt, sagte der Vorsteher: »Monsieur, dürfte ich vorschlagen, dass vielleicht nur ein Zug zurzeit Dampf ablässt. An einem feuchten Tag wie heute könnte der ganze Bahnhof derart vernebelt sein, dass Sie nicht mehr sehen, was Sie malen.«
»Gut so! Ich brauche einen Sturm aus Dampf. Turners Geist soll sich rühren, angesichts des Sturmes, den ich heute einfangen werde«, sagte Monet. »Geben Sie mir Zeichen, wenn alles bereit ist.« Er nahm seine Palette aus dem Kasten und begann, sie mit Farben aufzufüllen, während Lucien grundierte Leinwände auf die Staffeleien stellte und dann mit hochgezogenen Augenbrauen zum Meister hinübersah, um dessen Zustimmung zu suchen.
Monet stellte sich hinter die einzelnen Leinwände und begutachtete den jeweiligen Blick auf den Bahnhof, dann richtete er die Staffeleien so aus, dass er von jedem Standpunkt nahezu dieselbe Perspektive hatte. Dann nahm er einen breiten, flachen Pinsel, befeuchtete ihn mit Terpentin von der Palette, nahm damit reichlich Bleiweiß auf und tippte lediglich eine Ecke des Pinsels in das Ultramarin des Farbenmannes. Im nächsten Moment überzog er die einzelnen Leinwände mit hellem Blau, wobei er von einer Staffelei zur nächsten und wieder zurück ging.
»Aber Monsieur Monet«, sagte Lucien verwirrt. »Die Züge sind noch nicht bereit. Wie könnt Ihr den Moment einfangen, wenn der Moment noch gar nicht gekommen ist?« Wie sollte er etwas von seinen Meistern lernen, wenn sie ihre Methoden ohne Ansage änderten? Monet färbte seine Leinwände sonst niemals ein, bevor er ein Bild begann, oder zumindest hatte Lucien es bei ihm noch nie gesehen.
»Pass einfach auf, Lucien. Und vergiss nicht zu sabbern, wenn der Bahnhofsvorsteher wiederkommt.«
Monsieur Monet war verrückt, dachte Lucien. Nun, nicht wirklich, aber andere hätten dieses Unterfangen für verrückt erklärt. Lucien war dabei gewesen, als Monet und Renoir in der Bäckerei Kaffee tranken, kurz nach der ersten Ausstellung der Impressionisten, als einer der Kritiker geschrieben hatte: Monsieur Monet scheint die Welt durch einen Nebel zu betrachten.
»Denen werde ich es zeigen«, sagte Monet zu seinem Freund. »Ich werde Nebel malen.«
»Du bist verrückt«, hatte Renoir gesagt.
»Du wirst schon sehen.«
»Glaubst du wirklich, du kannst das?«, fragte Renoir.
»Woher soll ich das wissen?«, sagte Monet. »Es hat ja noch keiner versucht.«
Im Bahnhof türmte sich der Rauch der Dampfmaschinen unter dem Glasdach und trieb in großen Wolken hinaus in den morgendlichen Himmel. Lucien blickte von der Leinwand zur Lokomotive und wieder zur Leinwand. Er hatte gesehen, wie Monet mit wilder, frenetischer Präzision Farbe aufgetragen hatte, schneller als alle anderen Maler, aber Lucien fragte sich, wie er ein flüchtiges Objekt wie den Dampf einer Lokomotive einfangen wollte.
Als der Maler merkte, dass der Bahnhofsvorsteher herübersah, winkte er mit seinem Pinsel und gab das Startzeichen. Daraufhin gab der Bahnhofsvorsteher seinerseits den Schaffnern Zeichen, die wiederum den einzelnen Lokführern Bescheid gaben, und schon ließen drei Lokomotiven, eine in der Halle und zwei davor, mächtige Wolken von Rauch und Dampf aufsteigen. Ihr Pfeifen war in der ganzen Stadt zu hören.
Monet malte. Lucien stand hinter ihm und versuchte zu lernen und sich einzuprägen, wie er die einzelnen Bilder aufbaute, dabei von einem zum nächsten eilte und Blau- und Grün- und Brauntöne auftrug, wobei die dunklen Linien die Maschinen und die Struktur des großen Daches darstellten, das über pastellfarbenen Gebilden aufragte. Wieder schrillten die Dampfpfeifen, und Lucien blickte zur großen Bahnhofsuhr über dem Fahrkartenschalter auf. Eine halbe Stunde war vergangen.
Monet trat von drei fertigen Bildern zurück und suchte die Szenerie noch einmal nach Details ab, die er übersehen haben mochte. »Nehmen wir die Leinwände ab und legen sie in den Kasten, Lucien«, sagte der Maler. »Wir sollten dem Vorsteher seinen Bahnhof zurückgeben.« Er schob die Palette in seinen Farbenkasten und legte die Pinsel in eine flache Blechschale, damit Lucien sie auswaschen konnte, dann wischte er seine Hände ab und stolzierte zum Büro des Bahnhofsvorstehers, um sich bei ihm zu bedanken.
Lucien klappte die Kiste auf, um die neuen Bilder zu verstauen. Darin waren Schienen befestigt, die verhinderten, dass die Bilder sich beim Transport berührten. Es würde eine Woche dauern, vielleicht zwei, bis man sie berühren konnte, und Monate, bis sie trocken genug waren, um den Firnis auftragen zu können.
In der Kiste steckten bereits drei fertige Gemälde. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Lucien zog die oberste Leinwand auf ihren Schienen heraus. Es war ein Bild vom Bahnhof. Terpentingeruch stieg davon auf. Er berührte die Farbe am Rand, der vom Rahmen verdeckt sein würde. Frische, feuchte Farbe. Irgendwie hatte Monet in dreißig Minuten sechs Bilder gemalt. Als Lucien sämtliche Leinwände verstaut, die Staffeleien zusammengeklappt und die Pinsel des Meisters einer vorläufigen Reinigung mit Terpentin und Leinöl unterzogen hatte, ragte Monet grinsend über ihm auf.
»Ihr habt es geschafft«, sagte Lucien. »Ihr habt es tatsächlich geschafft.«
»Ja«, sagte Monet.
»Wie habt Ihr es geschafft?«, fragte Lucien.
Der Maler ignorierte Luciens Frage und hob stattdessen die Kiste mit den fertigen Bildern an. »Wollen wir gehen? Renoir dürfte gerade mit dem Frühstück fertig sein. Ich denke, wir sollten ihm zeigen, wozu ein Verrückter in der Lage ist.«
Er führte Lucien aus dem Bahnhof auf den Boulevard hinaus und blieb nur kurz stehen, um seinen Hut gegen den Regen ins Gesicht zu ziehen.
Der Professeur holte Lucien aus seiner Trance. »Drei, zwei, eins, und nun bist du wach.«
»Deine Erinnerung muss dich täuschen«, sagte Henri.
Lucien sah sich im schmuddeligen Wohnzimmer des Professeurs um und blinzelte, als käme er eben aus dem grellen Sonnenschein ins Haus. »Ich glaube kaum«, sagte er.
»Ich habe eines von Monets Saint-Lazare-Bildern gesehen«, sagte Lautrec. »Nicht einmal der große Monet könnte in einer halben Stunde ein solches Werk erschaffen, geschweige denn sechs. Irgendwie erinnerst du dich nicht recht.«
»Die Frage ist«, sagte Lucien, »wieso ich mich ausgerechnet daran erinnere. Zwar war der Farbenmann da und auch Margot, aber der Professeur bat um eine Erinnerung an den Farbenmann, nicht an Monet, wie er den Bahnhof malt.«
»Vielleicht hat dein Gehirn die Details hinzugefügt«, sagte der Professeur. »Unsere Erinnerungen folgen manchmal einer erzählerischen Logik und konstruieren Details, um überzeugender zu erscheinen, wie zum Beispiel durch eine Komprimierung des Zeitverlaufs.«
»Aber ich habe es mir nicht ausgedacht. Bis eben konnte ich mich nicht daran erinnern. Irgendetwas Merkwürdiges ist mit der Zeit passiert, und es hat mit der Farbe zu tun. Mit demselben Blau, mit dem Sie die Uhr bemalt haben, hat Monet die Leinwände vorgemalt. Nicht meine Erinnerung weist Lücken auf, sondern die Wirklichkeit.«
»Woher weißt du das?«, fragte Henri.
Lucien leerte die demitasse mit dem Brandy, den Henri ihm eingeschenkt hatte, und stellte sie auf den Tisch. »Das weiß ich, weil es draußen nicht regnet.«
»Ich verstehe nicht«, sagte der Professeur.
»Werfen Sie mal einen Blick auf Ihre Schultern. Fassen Sie sich an den Kopf. Sie waren im Regen. Genau wie ich.«
Sie waren nicht gerade klatschnass, sahen aber aus, als wären sie durch den Regen gelaufen, um eine Droschke zu bekommen. Henri warf einen Blick auf seine Schuhe, auf denen noch immer Wassertropfen perlten.
»Es hat in Paris seit einer Woche nicht geregnet«, sagte Henri.
»Und es ist sogar noch sehr viel länger her, dass es in meinem Wohnzimmer geregnet hat«, sagte der Professeur.
»Sechs Bilder in einer halben Stunde«, sagte Lucien.
»Ja, aber was sagt uns das? Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Professeur.
»Es bedeutet, dass Lucien keine Vernunft annimmt und sich nicht wie ein echtes Huhn benehmen will wie alle anderen auch«, sagte Henri.
»Es bedeutet, dass ich Monet besuchen werde«, sagte Lucien. »Ich nehme morgen früh den ersten Zug nach Giverny.«
»Ich kann nicht mitkommen«, sagte Henri. »Ich muss nach Brüssel. Octave Maus zeigt meine Bilder bei einer Ausstellung der Zwanzig. Ich muss dabei sein.«
»Es gibt einen Maler namens Octave Maus?«, fragte der Professeur.
»Er ist Anwalt«, sagte Henri.
»Na, das passt schon eher«, sagte der Professeur.
»Nein, tut es nicht«, sagte Lucien. »Octave Maus ist trotzdem ein absurder Name, selbst für einen Anwalt. Wischen Sie das Blau von Ihrer Uhr, Professeur. Es trübt Ihr Urteilsvermögen.«
Kurz vor Sonnenaufgang stand der Farbenmann mit Etienne am Gleis beim Gare de Lyon und wartete auf einen Zug, der einen Tag zuvor in Turin und davor in Genua abgefahren war. Der Zug brachte reine Farbe, frisch aus den italienischen Hügeln gegraben: gelbliche und umbrabraune Erden aus Siena, rotes, gelbes und oranges Ocker aus Verona, Neapel und Mailand. Die meisten Hersteller von Ölfarben warteten ab und ließen sich die zerriebenen Mineralien vom Großhändler in ihre Läden liefern, doch der Farbenmann wollte die groben Erze selbst aussuchen, aus denen er seine Farbe erschuf. Mit dem Sacré Bleu übte er seine Macht aus, doch er war ein Mann jedweder Farbe. Einige Rituale brachte er sogar während der Herstellung der anderen Farben zur Anwendung, nicht weil es nötig wäre, sondern weil es die Dienstmädchen erschreckte.
Als die Bremsen des Zuges zischten und kreischten und das riesenhafte Untier zum Stehen kam, fiel dem Farbenmann ein anderer Mann an der Strecke auf, ein schlanker Bursche mit einem Ziegenbärtchen, der einen hellgrau karierten Anzug mit Hut trug, was für einen Schaffner oder Gepäckträger entschieden zu fein war, und abgesehen vom Farbenmann war sonst niemand zu sehen, so weit unten an der Strecke, abseits der Bahnsteige für die Fahrgäste. Der Mann in Grau hielt ein pince-nez und schien die Schilder an den Waggons zu entziffern.
»Was sucht Ihr?«, fragte der Farbenmann.
»Man sagte mir, dies sei der Zug aus Italien«, sagte der Mann und musterte misstrauisch Etiennes Strohhut. »Ich erwarte eine Lieferung farbiger Erden, weiß aber nicht, wo ich sie finden kann.«
»Vermutlich ist es dieser hier«, sagte der Farbenmann und deutete auf einen Waggon, von dem er sicher sein konnte, dass er es nicht war. »Seid Ihr Maler?«
»Ja. Ich bin George Seurat. Hier ist meine Karte.«
Der Farbenmann betrachtete die Visitenkarte, dann reichte er sie Etienne, dem sie zu schmecken schien.
»Ihr habt das große Bild vom Äffchen im Park gemalt.«
»Es war ein sehr kleines Äffchen in einem sehr großen Park. ›Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte‹. Bei dem Gemälde ging es mir um die Platzierung der Farbe.«
»Ich mochte das Äffchen. Ihr solltet Eure Farben bei einem Farbenmann kaufen.«
»Ich arbeite nur mit reinen Farbtönen«, sagte Seurat. »Nach Chevreuls Theorie, dass sich die Farben im Auge mischen, nicht auf der Leinwand. Nebeneinanderliegende Punkte von Komplementärfarben lösen eine instinktive, emotionale Reaktion im Kopf des Betrachters aus … eine Vibration, wenn Sie so wollen. Etwas, das sich nicht mit Farben erzielen lässt, die auf der Palette vermischt werden. Ich brauche die Farben so rein wie möglich.«
»Das ist doch gequirlte Scheiße«, sagte der Farbenmann.
»Chevreul war ein großartiger Wissenschaftler. Der führende Farbentheoretiker der Welt, und er hat die Margarine erfunden.«
»Margarine? Ha! Butter ohne Geschmack und ohne Farbe. Er ist ein Scharlatan!«
»Er ist tot.«
»Da seht Ihr es selbst«, sagte der Farbenmann und dachte, allein die Tatsache, dass er noch lebte, stützte seine Argumentation. »Ihr solltet Eure reine Farbe von einem Farbenmann kaufen. Dann habt Ihr mehr Zeit zum Malen.«
Da lächelte Seurat und klopfte mit seinem Gehstock auf die Steine. »Sie sind ein Farbenmann, wie ich vermute?«
»Ich bin der Farbenmann«, sagte der Farbenmann. »Nur die feinsten Erden und Mineralien, keinerlei Streckmittel, gemischt nach Bestellung, in jedem beliebigen Medium. Ich mag Mohnöl. Kein Vergilben. Wie Margarine. Aber wenn Ihr Leinöl oder Walnussöl wollt, habe ich die auch.« Der Farbenmann klopfte mit den Knöcheln gegen den großen Holzkasten, der auf Etiennes Rücken geschnallt war.
»Lasst mich sehen«, sagte Seurat.
Der Farbenmann wuchtete den Kasten von Etiennes Rücken, stellte ihn auf die Steine und klappte ihn auf. »Ich habe kein Blau mehr, aber wenn Ihr wollt, lasse ich Euch etwas davon in Euer Atelier bringen.« Der Farbenmann reichte dem Maler eine Tube Neapelgelb.
»Sehr schön«, sagte Seurat, drückte Farbe von der Länge eines Wurmkopfes aus der Tube und drehte und wendete sie, um das Licht der aufgehenden Sonne einzufangen. »Das sollte gut genug sein. Ich war ohnehin nicht begeistert von der Vorstellung, den ganzen Tag Erze zu zerstampfen. Wie ist Ihr Name?«
»Ich bin der Farbenmann.«
»Das habe ich verstanden, aber Ihr Name? Wie heißen Sie?«
»Der Farbenmann«, sagte der Farbenmann.
»Wie ist Ihr Nachname?«
»Farbenmann.«
»Verstehe. Wie Zimmermann oder Böttcher. Aus alter Familientradition? Und Ihr Vorname?«
»Der«, sagte der Farbenmann.
»Sie sind ein ausgesprochen sonderbarer Bursche, Monsieur Farbenmann.«
»Ihr malt Damen ebenso gern wie Äffchen, habe ich recht?«, fragte der Farbenmann mit einer Geste, die ganz und gar nicht danach aussah, als male er.