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Pentimento
1890
Ich mag Männer mit ausgeprägten Ohrmuscheln«, sagte Juliette. Sie hielt Lucien bei den Ohren und zerrte seinen Kopf hin und her, als wollte sie sicherstellen, dass sie auch ordentlich befestigt waren. »Symmetrie. Ich mag Symmetrie.«
»Hör auf, Juliette. Lass los. Die Leute gucken schon.«
Sie saßen auf einer Bank gegenüber vom Cabaret Lapin Agile, hinter ihnen ein kleiner Weinberg, unterhalb von ihnen die Stadt Paris. Sie waren die Rue des Abbesses hinaufgestiegen, blickten einander unablässig in die Augen, und obwohl der Tag warm und der Weg steil war, keuchten sie weder, noch schwitzten sie, als hätten sie die einzige kühle Brise dieses Nachmittags für sich gepachtet.
»Na gut«, sagte Juliette und wandte sich von ihm ab, um zu schmollen. Sie öffnete ihren Sonnenschirm, stach ihm beinah eine Strebe ins Auge, dann ließ sie die Schultern hängen und betrachtete Paris mit vorgeschobener Unterlippe. »Ich liebe deine Ohren nun mal.«
»Und ich liebe deine Ohren«, hörte Lucien sich sagen, und obwohl es stimmte, überlegte er, wieso er es sagte. Ja, er liebte ihre Ohren, er liebte ihre Augen, so frisch und leuchtend blau wie der Mantel der Jungfrau Maria. Er liebte ihre Lippen, keck und zart, einfach zum Küssen. Er liebte sie. Und dann – als sie auf die Stadt hinunterblickte und ihn nicht direkt ansah – rutschte ihm die Frage heraus, die ihm schon den ganzen Nachmittag durch den Kopf ging, doch stets von seinem Entzücken für sie vertrieben wurde.
»Juliette, wo, zum Teufel, bist du gewesen?«
»Gen Süden«, sagte sie mit starrem Blick auf Eiffels neuen Turm. »Er ist größer geworden, als ich gedacht hätte.« Der Turm war kaum drei Stockwerke hoch gewesen, als sie sich in Luft aufgelöst hatte.
»Gen Süden? Gen Süden? Gen Süden ist keine Antwort nach zweieinhalb Jahren ohne Nachricht.«
»Und gen Westen«, sagte sie. »Daneben wirken die Kathedralen und Paläste wie Puppenstuben.«
»Zweieinhalb Jahre! Nichts als ein Zettel, auf dem stand: Ich komme wieder.«
»Und da bin ich«, sagte sie. »Ich frage mich, wieso sie ihn nicht blau angemalt haben. Blau wäre hübsch gewesen.«
»Ich habe dich überall gesucht. Niemand wusste, wo du warst. Monatelang haben sie dir deine Stelle im Hutladen freigehalten und auf dich gewartet.« Sie hatte als Putzmacherin gearbeitet und Hüte für feine Damen genäht, bevor sie weggegangen war.
Jetzt wandte sie sich zu ihm um, kam ganz nah heran und versteckte sich und ihn hinter dem Sonnenschirm, dann küsste sie ihn, und als er eben bemerkte, dass ihm schwindlig wurde, beendete sie den Kuss und grinste. Er lächelte sie an, vergaß einen Moment, wie wütend er war. Dann fiel es ihm wieder ein, und sein Lächeln erstarb. Sie leckte mit der Zungenspitze über seine Oberlippe, dann stieß sie ihn von sich und lachte.
»Sei mir nicht gram, Liebster. Ich hatte zu tun. Familienangelegenheiten. Private Dinge. Jetzt bin ich wieder da, und du bist mein Ein und Alles.«
»Du hast gesagt, du bist ein Waisenkind, du hast keine Familie.«
»Das war dann wohl gelogen, oder?«
»War es?«
»Möglich. Lucien, gehen wir in dein Atelier. Ich möchte, dass du mich malst.«
»Du hast mir wehgetan«, sagte Lucien. »Du hast mir das Herz gebrochen. Der Schmerz war so schlimm, dass ich dachte, ich müsste sterben. Monatelang habe ich nicht gemalt. Ich habe nicht gebadet. Ich habe das Brot verbrennen lassen.«
»Wirklich?« Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes, wenn Régine in der boulangerie das frische Gebäck auslegte.
»Ja, wirklich. Frag nicht so hämisch.«
»Lucien, ich möchte, dass du mich malst.«
»Nein, ich kann nicht. Gerade erst ist ein Freund gestorben. Ich sollte mich um Henri kümmern und mit Pissarro und Seurat sprechen. Außerdem muss ich für Willettes Zeitschrift La Vache Enragée eine Karikatur zeichnen.« Im Grunde wollte er viel lieber dableiben und ihr erzählen, wie sehr sie ihm wehgetan hatte, aber sie sollte leiden. »Du kannst nicht so einfach an irgendeiner Straßenecke auftauchen und wieder in mein Leben treten und erwarten … was hast du eigentlich mitten am Tag auf der Avenue de Clichy gemacht? Deine Arbeitsstelle …«
»Ich möchte, dass du mich nackt malst«, sagte sie.
»Oh«, sagte er.
»Ich meine, deine Socken kannst du anbehalten, wenn du möchtest.« Sie grinste. »Aber ansonsten: nackt.«
»Oh«, sagte er. Sein Gehirn hatte kurz ausgesetzt, als sie sagte, er solle sie nackt malen.
Er wollte ihr unbedingt böse sein, aber irgendwie war er zu der Überzeugung gelangt, dass Frauen wundersame, mysteriöse, magische Wesen waren, denen man nicht nur mit Respekt, sondern auch mit Verehrung und sogar Ehrfurcht begegnen sollte. Vielleicht lag es an dem, was seine Mutter früher oft zu ihm gesagt hatte. Sie sagte: »Lucien, Frauen sind wundersame, mysteriöse und magische Wesen, denen man nicht nur mit Respekt, sondern auch mit Verehrung und sogar Ehrfurcht begegnen sollte. Jetzt geh und feg die Treppe.«
»Mysteriös und magisch«, wiederholten seine Schwestern dann im Chor und nickten, wobei Marie ihm für gewöhnlich den Besen reichte.
Magisch und mysteriös. Nun, für Juliette galt das allemal.
Aber sein Vater hatte ihm erklärt, dass Frauen außerdem grausame und selbstsüchtige Furien waren, die einem Mann früher oder später das Herz aus dem Leib rissen und darüber lachten, während sie sich die Fingernägel feilten. »Grausam und selbstsüchtig«, sagten seine Schwestern und nickten. Dann klaute ihm Régine sein letztes Stückchen Kuchen vom Teller.
Auch das galt für Juliette.
Wie sein Lehrer Renoir ihm erklärt hatte: »Alle Frauen sind gleich. Ein Mann muss nur die Richtige finden und sie heiraten, um alle Frauen dieser Welt zu besitzen.«
Das war sie, Juliette. Für ihn war sie alle Frauen dieser Welt. Er war schon früher mit Mädchen zusammen und sogar verliebt gewesen, aber sie hatte ihn überwältigt, mitgerissen wie eine Woge im Sturm.
»Doch selbst wenn du die Richtige gefunden hast«, fuhr Renoir fort, »bedeutet das keineswegs, dass du sie nicht alle nackt sehen möchtest. Der Anblick hübscher Brüste lässt keinen gesunden Mann unberührt.«
»Ich habe keine Farben. Ich habe keine Leinwand für ein Bild von solcher Größe«, sagte Lucien.
»Welche Größe, cher?« Sie lächelte kokett.
»Nun, ich glaube, es müsste eine große Leinwand sein.«
»Etwa, weil ich eine große Frau bin? Willst du mir das damit sagen?« Sie tat, als sei sie gekränkt.
»Nein, weil meine Gefühle für dich darauf passen müssen«, sagte der Maler.
»Ach, Lucien, das war die richtige Antwort.« Und sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann klappte sie den Sonnenschirm zu und sprang auf wie ein Soldat zum Appell. »Komm, wir besorgen dir Farbe. Ich kenne einen Händler.«
Wie war das passiert? Lucien stand auf und stolperte hinter ihr her. »Ich habe immer noch so viele Fragen an dich, Juliette. Ich bin dir immer noch böse, weißt du?«
»Das weiß ich doch. Unter Umständen zeige ich dir eine befriedigende Methode, um Dampf abzulassen, hm?«
»Ich weiß nicht, was das heißen soll«, sagte Lucien.
»Das wirst du schon noch merken«, sagte sie. Ja, er ist der Richtige, dachte sie.
Auf der Avenue de Clichy hatte sich währenddessen Toulouse-Lautrec dem Farbenmann genähert.
»Bonjour, Monsieur«, sagte dieser. »Ihr seid Maler, non?«
»Das stimmt«, sagte Toulouse-Lautrec.
Als er zwölf Jahre alt war, hatte Henris Mutter ihn nach Italien mitgenommen, und in den Uffizien von Florenz stand er vor einem Gemälde der Heiligen Jungfrau von Tintoretto, auf dem dunkle, geisterhafte Gesichter am Himmel zu schweben schienen, kaum zu erkennen, doch dem eifrigen, jungen Künstler fielen sie unwillkürlich auf.
»Man nennt diesen Effekt Pentimento«, sagte der Führer, den seine Mutter engagiert hatte. »Der Meister hat ein anderes Gemälde übermalt, und im Laufe der Jahre kommt es langsam wieder durch. Es ist nicht deutlich zu erkennen, aber man sieht, dass da vorher etwas war, das nicht dorthin gehört.«
Als er den Farbenmann entdeckte, hatte Henri gespürt, wie ein düsteres Pentimento in ihm aufstieg, und irgendwie hatte es ihn über die Straße gelockt.
»Braucht Ihr vielleicht Farbe?«, fragte der Mann. Er klopfte an den Holzkoffer, den er bei sich trug, groß genug, wie Henri bemerkte, dass er selbst hineinpassen mochte, ohne sich sonderlich verrenken oder verstümmeln zu müssen.
Er war kleiner als Henri und auf eine Art und Weise verbogen, die in Henri die Vorstellung weckte, jemand habe ihn möglicherweise mit einem Ladestock in diesen Koffer gestopft, ohne auf Komfort oder Unversehrtheit seiner Gliedmaßen Rücksicht zu nehmen. Der Maler empfand eine traurige Verbundenheit mit dem Farbenmann, obgleich sich ihm wegen irgendetwas lang Vergessenem vor Unbehagen die Nackenhaare sträubten.
»Kenne ich Sie nicht?«, fragte Henri. »Haben Sie mir vielleicht schon mal etwas verkauft?«
»Könnte sein«, sagte der Farbenmann. »Ich reise viel.«
»Haben Sie nicht normalerweise einen Esel dabei, der Ihre Waren trägt?«
»Ach, Etienne … der hat Urlaub. Braucht Ihr Farben, Monsieur? Ich habe die feinsten Erden und Mineralien, nichts Unechtes. Ich habe den Stoff, mit dem man Meisterwerke schafft, Monsieur.« Der Farbenmann ließ die Scharniere an seinem Koffer schnappen und klappte ihn am Kantstein auf, zeigte reihenweise Tuben her, die von Bronzedrähten festgehalten wurden. Eine davon nahm er, schraubte die Kappe ab und drückte einen Tupfer von dunkelroter Farbe auf seine Fingerspitze. »Purpur aus dem Blut rumänischer Jungfrauen.«
»Wirklich?«, sagte Henri. Ihm schwirrte der Kopf, und er musste sich auf seinen Stock stützen.
»Nein, nicht wirklich. Aber das Pigment kommt aus Rumänien. Aus Käfern hergestellt, einzeln von den Wurzeln eines Krauts bei Bukarest gesammelt. Hässliche Viecher. Garantiert Jungfernkäfer. Ich würde die nicht ficken wollen. Möchtet Ihr was davon?«
»Leider habe ich bereits alle Farben, die ich brauche. Ich muss heute noch eine Lithographie zu Stein bringen, ein Plakat fürs Moulin Rouge. Und außerdem scheint mich eine Übelkeit zu plagen, um die ich mich noch kümmern muss. Der Drucker hat sicher die nötigen Farben.«
»Pah, Lithographie!« Der Farbenmann spuckte aus, um seiner Verachtung für alles Ausdruck zu verleihen, das mit Kalkstein und Druckerfarben zu tun hatte. »Eine Mode. Sobald sich das Neue abnutzt, wird niemand es mehr wollen. Vielleicht etwas Zinnober? Aus dem feinsten Cinnabarit. Ich zerreibe es selbst. Ihr wisst schon, um die Rothaarigen zu malen, die Euch so gut gefallen.«
Henri trat zurück und stolperte vom Kantstein, fing sich gerade noch, bevor er fiel. »Nein, Monsieur, ich muss gehen.« Er eilte davon, so schnell, wie sein Kater und der Schmerz in seinen Beinen es gestatteten, verfolgt von einem rothaarigen Geist, von dem er glaubte, er hätte ihn schon lange hinter sich gelassen.
»Ich werde Euch in Eurem Atelier aufsuchen, Monsieur«, rief ihm der Farbenmann noch hinterher.
»Das wird nicht gehen«, sagte Juliette. Sie stand im Atelier an der Rue Caulaincourt, am Fuße des Montmartre, das sich Lucien mit Henri teilte. Die beiden hatten die hintere Wohnung im Erdgeschoss gemietet, damit Henri mit seinen Leinwänden keine Treppen steigen musste, doch da das fünfstöckige Gebäude nur einen winzigen Innenhof besaß, hatte die Wohnung einen nicht zu unterschätzenden Nachteil.
»Hier gibt es keine Fenster«, sagte Juliette. »Wie kannst du ohne Fenster arbeiten?«
»Sieh doch, die vielen Gaslampen! Und es gibt einen Paravent, hinter dem sich die Modelle umziehen können. Und ein Wasserklosett. Und einen Herd, um Tee zu kochen. Und einen Bistrotisch und eine Bar mit allem, was man sich wünschen kann. Und in der Tür da ist ein Fenster.« Da war tatsächlich ein Fenster in der Tür, eine trübe, ovale Scheibe, etwa von der Größe eines mittelgroßen Herrenhutes. Es fiel gerade so viel Licht aus dem Flur herein, dass Lucien die Gaslampen anzünden konnte, ohne über das Chaos am Boden zu stolpern und sich dabei den Hals zu brechen.
»Nein«, sagte Juliette. Sie hielt ihren zusammengeklappten Sonnenschirm wie eine Waffe, als müsste sie sich mit Gewalt gegen die Leinwände wehren, die rundum an den Wänden lehnten, in unterschiedlichsten Trocknungsstadien. Sie schlug nach einer Staffelei, die mitten im Raum stand, als wollte sie das hölzerne Gestell davor warnen, sich mit ihr anzulegen. »Hier drinnen sehe ich aus wie eine Leiche. Wir brauchen Sonnenlicht.«
»Meistens arbeite ich sowieso bei Nacht, wenn Henri im Moulin Rouge ist oder an einer seiner anderen, äh, Wirkstätten. Bis mittags bin ich fast immer in der Bäckerei und …« Er ließ die Schultern hängen, denn ihm wollte nichts einfallen, was er sonst noch Positives sagen konnte.
»Es muss doch irgendwo ein anderes Atelier geben«, sagte sie, trat nah an ihn heran, schob die Unterlippe vor und schmollte wie ein kleines Kind. »Wo man den warmen, goldenen Sonnenschein auf meinem Körper malen kann.« Sie tat, als wollte sie ihn küssen, dann tanzte sie eine Pirouette, stieß ihn mit ihrem Reifrock beinah um und stolzierte auf die Tür zu. »Oder eben nicht.«
»Henri zahlt den größten Teil der Miete«, fügte Lucien lahm hinzu. »Eigentlich ist es sein Atelier.«
»Das sehe ich … der kleine Troll in seiner Höhle, non?«
Sie war stehen geblieben, um ein paar Leinwände zu begutachten, die bei der Tür an der Wand lehnten.
»Sag so was nicht. Henri ist mir ein guter Freund. Wenn er nicht wäre, könnte ich mir kein Atelier leisten.«
»Ist das eines von Henris Bildern?« Sie bückte sich und hielt die Leinwand am oberen Rand, auf Armeslänge. Es war das Bild einer rothaarigen Frau, die aus einem Fenster blickte, in schlichter, weißer Bluse und schwarzem Rock.
»Das ist Carmen, Henris Wäscherin.«
»Sie sieht traurig aus.«
»Ich kannte sie nicht gut. Henri meinte, er wollte zeigen, wie stark sie war. Erschöpft und doch stark.«
»Ist sie nicht mehr da?«
»Henri hat sie weggeschickt. Nun … wir haben ihn mit Hilfe seiner Mutter davon überzeugt, sie zu verlassen. Da ist sie gegangen.«
»Traurig«, sagte Juliette. »Aber wenigstens hatte sie ein Fenster, aus dem sie rausgucken konnte.«
Henri stieg hinauf in den ersten Stock zu seiner Wohnung. Die Dienstmagd war da gewesen, und es standen frische Blumen auf dem Tisch. Er hängte Mantel und Hut an die Garderobe bei der Tür und trat unmittelbar an seinen Schreibtisch. Seine Hand zitterte, sei es vom Suff oder weil er dem Farbenmann begegnet war oder beides. Wie dem auch sei, da konnte nur ein Cognac helfen, also schenkte er sich einen aus der Karaffe ein, dann setzte er sich und nahm aus der Schublade den letzten Brief, den er von Vincent bekommen hatte.
Mein lieber Henri,
ganz wie Du gesagt hast, ist das südliche Klima dem Malen unter freiem Himmel ausgesprochen förderlich, und die Farben der Hügel einzufangen, fordert nicht nur mein Können heraus, sondern treibt mich an, noch härter zu arbeiten. Doch sind es die Farben, die meinen Fortschritt zu behindern scheinen, und meine Beschwerden haben noch zugenommen, seit ich hier bin. Was ich mir als Flucht vor dem Irrsinn des rastlosen Paris erhofft hatte, und vor den anderen negativen Einflüssen, die meine Gesundheit gefährdeten, war alles andere als eine Flucht. Er ist hier, Henri. Der kleine, braune Farbenmann ist hier in Arles. Und selbst wenn ich ihm sage, dass er verschwinden soll, ertappe ich mich doch dabei, dass ich seine Farben verwende, und meine Absencen nehmen zu. Ganze Tage gehen mir verloren, und dann finde ich in meinem Zimmer Bilder vor, die gemalt zu haben, ich mich nicht erinnern kann.
Leute im Wirtshaus, in dem ich gelegentlich zu Abend esse, erzählen mir, ich sei dort gewesen, betrunken am helllichten Tag, aber ich schwöre, mir geht die Zeit nicht etwa verloren, weil ich zu viel trinke.
Theo hat mir geschrieben, ich soll die Farben sein lassen und mir meine Zeichnungen vornehmen. Ich habe ihm nichts vom Farbenmann erzählt und auch nichts von dem Mädchen, da ich nicht möchte, dass er sich Sorgen macht. Du, mein Freund, bist der Einzige, dem ich mich anvertraue, und ich danke Dir dafür, dass Du mich nicht für verrückt erklärst. Ich hoffe, dass Dich Deine eigenen Probleme diesbezüglich nicht mehr quälen und dass Deine Arbeit gut vorangeht. Theo sagt, er hat zwei Deiner Bilder verkauft, und ich freue mich für Dich. Vielleicht habe ich – als ich hierherkam – die Krankheit aus Paris mitgenommen, und Du kannst nun in Frieden arbeiten.
Noch immer hoffe ich, ein Atelier gleichgesinnter Maler hier im Süden einzurichten. Theo will Gauguin überreden, dass er sich zu mir gesellt, und es sieht so aus, als wollte er tatsächlich kommen. Vielleicht ist es nur Einbildung, ein Symptom meiner Krankheit, dass ich den Farbenmann für gefährlich halte. Schließlich sind seine Farben fein und preiswert. Vielleicht denke ich zu viel. Ich will versuchen auszuharren. Seltsamerweise finde ich mich besser, wenn ich nachts arbeite. Ich habe ein Bild des hiesigen Straßencafés beendet, und den Innenraum einer Bar, in der ich mir manchmal die Zeit vertreibe, und die ich beide mag, und ich hatte beim Malen keinerlei Anwandlungen. Ich hoffe, Theo die Bilder schicken zu können, sobald sie trocken sind.
Noch einmal Dank für Deinen Rat, Henri. Ich hoffe, ich werde Deinem geliebten Süden gerecht. Auf ein baldiges Wiedersehen.
Ich reiche Dir die Hand,
Vincent
PS: Wenn Du dem Farbenmann begegnest, flieh! Flieh! Du bist zu begabt und von Deiner Konstitution her zu zerbrechlich, um durchzuhalten. Ich bin nicht verrückt. Du musst mir glauben.
Armer Vincent. Vielleicht war er tatsächlich nicht verrückt. Wenn ihm der Farbenmann erst nach Arles gefolgt war, dann nördlich nach Auvers, konnte es dann Zufall sein, dass er wenige Tage nach Vincents Tod in Paris auftauchte? Bis sie sich draußen vor dem Rat Mort begegnet waren, hatte Henri Vincents sonderbaren Brief völlig vergessen und auch, überhaupt schon mal vom Farbenmann gehört zu haben. Und doch war er ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Vielleicht durch Vincents Beschreibung. Henri trank seinen Cognac, dann schenkte er sich nach. Er faltete den Brief und legte ihn wieder in die Schublade, nahm einen Stift und schrieb:
Meine liebe Mama,
die Umstände haben sich geändert, und wie sich herausstellt, kann ich Dich nun doch im Château Malromé besuchen. Obschon ich endlich in der Lage war, einige Modelle zu finden, was für einen Maler ungemein beruhigend ist, allesamt sehr anständige, junge Damen, bin ich doch überreizt, nicht durch meine Arbeit, sondern durch persönliche Umstände. Ich habe kürzlich einen Freund verloren, Monsieur Vincent van Gogh, einen Holländer, der unserer Künstlergruppe angehörte. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich von ihm erzählt habe. Sein Bruder stellt meine Bilder in seiner Galerie aus, was mir schon sehr geholfen hat. Vincent erlag einer langen Krankheit, und sein Verlust lastet schwer auf meinem Herzen und – wie ich fürchte – auf meiner Konstitution.
Ich brauche nicht so sehr eine Pause von der Arbeit, da diese gut gelingt, sondern eine Pause von der Stadt, vom Alltag. Ich werde nicht länger als einen Monat bleiben, da ich vor dem Herbst wieder in Paris sein muss, um die Ausstellung meiner Bilder mit den Zwanzig in Brüssel vorzubereiten. Ich freue mich darauf, frische Luft zu atmen und die Nachmittage mit Dir und Tante Cécile zu verbringen. Gib ihr einen Kuss von mir, und für Dich – wie immer – ganz viele liebe Küsse.
Dein Henri
Ein Monat würde vielleicht genügen. Wie dem auch sei, in Paris konnte er jedenfalls nicht bleiben. Langsam begriff er, welches Bild in ihm heranwuchs, das Pentimento in seinem Herzen, nachdem er zuerst Luciens Juliette gesehen hatte und kurz darauf den kleinen Farbenmann. Es war Carmen. Nicht ihre Anmut, ihre sanfte Stimme, ihre Berührung, es war etwas anderes, etwas Düsteres, das er nicht wiedersehen wollte, denn er wusste, er würde es nie mehr vertreiben können.
Jetzt ein Bad, dann zurück zum Moulin Rouge, Jane Avril tanzen sehen, La Goulue, das Clownsweib, singen hören, und anschließend wollte er die Grüne Fee in einem der gastfreundlichen Bordelle reiten und dort umnebelt verweilen, bis sein Zug ging, der ihn zur Burg seiner Mutter auf dem Lande bringen sollte.
Henri war ihr fünf Jahre zuvor begegnet, auf dem Weg zu einem späten Mittagessen mit Lucien, Émile Bernard und Lucien Pissarro, dem Sohn von Camille. Sie alle waren junge Künstler, überzeugt von sich, von ihrem Talent und den unendlichen Möglichkeiten der Resultate, wenn sich Phantasie mit Handwerk paarte. Sie hatten den Tag in Cormons Atelier verbracht, dem Lehrer gelauscht, der über die akademische Tradition und die Techniken der alten Meister schwafelte. Mitten in seinem Vortrag über die Atmosphäre im Raum und wie man – am Beispiel der Helldunkelmalerei des italienischen Meisters Caravaggio – das Spiel von Licht und Schatten schafft, hatte Émile Bernard auf seiner Leinwand dicke, rote Streifen gemalt. Seine Freunde hatten gelacht, und sie wurden allesamt des Unterrichts verwiesen.
Sie beschlossen, ins Café Nouvelle Athène an der Rue Pigalle einzukehren. Toulouse-Lautrec zahlte für eine Pferdedroschke, die sie den Hügel hinunterbrachte und aus der sie, vor dem Café angekommen, lachend herausstolperten. Kaum einen Block entfernt kam eine junge, rothaarige Frau eben von der Arbeit in einer Wäscherei, die Haare zu einem Dutt gebunden, der sich in Auflösung befand, die Hände und Arme rosig.
»Seht sie euch an!«, sagte Toulouse-Lautrec. »Wie umwerfend roh sie ist!« Er breitete die Arme aus, um seine Freunde aufzuhalten. »Bleibt zurück! Sie gehört mir! Ich muss sie malen!«
»Sie gehört dir«, sagte Bernard, dieses Milchgesicht, an dessen Kinn kaum ein Barthaar wuchs. Wie frischer Schimmel auf Käse, hatte Henri gespottet. »Wir warten drinnen auf dich.«
Toulouse-Lautrec winkte ihnen und rief der Rothaarigen, die zum Hügel lief, hinterher: »Pardon! Mademoiselle? Pardon!«
Sie blieb stehen, wandte sich um, schien überrascht, dass jemand sie rief.
Henri näherte sich ihr mit seinem Stock in beiden Händen, wie flehend. »Verzeiht, Mademoiselle. Ich möchte Euch nicht belästigen, aber ich bin Maler. Henri Toulouse-Lautrec ist mein Name. Und ich … ich …«
»Ja?«, sagte sie mit gesenktem Blick, sah ihm nicht in die Augen.
»Verzeiht mir, Mademoiselle, aber Ihr seid … Ihr seid atemberaubend. Wie Ihr ausseht, ich meine … ich muss Euch malen. Ich werde Euch bezahlen, um mir Modell zu sitzen.«
»Monsieur, ich bin kein Modell.« Eine leise Stimme, scheu.
»Bitte, Mademoiselle. Ich versichere Euch, ich hege gewiss keine üblen Absichten. Ich bin Künstler von Beruf. Ich bezahle gut. Mehr als die Wäscherei. Und ich werde in jedem Falle respektieren, dass Ihr noch einer anderen Beschäftigung nachgeht.«
Da lächelte sie, geschmeichelt vielleicht. »Ich bin noch nie gemalt worden. Was muss man da machen?«
»Dann werdet Ihr für mich posieren? Himmlisch! Einfach himmlisch!« Er reichte ihr seine Visitenkarte mit der Adresse seines Ateliers sowie seinem Namen und Titel, geprägt unter dem Familienwappen.
»Herrje«, sagte sie. »Ein Graf?«
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Henri. »Kommt morgen nach der Arbeit in mein Atelier. Macht Euch keine Gedanken um das Abendessen. Ich kümmere mich darum. Kommt einfach so, wie Ihr seid.«
»Aber, Monsieur …« Sie deutete auf ihre Arbeitskleidung, schlicht, schwarz und weiß. »Ich habe ein hübsches Kleid. Ein blaues Kleid. Ich kann …«
»Nein, meine Liebe. Kommt einfach so, wie Ihr seid. Bitte.«
Sie verbarg die Karte in ihrem Rock. »Ich werde da sein. Nach vier.«
»Mein Dank, Mademoiselle. Dann sehen wir uns morgen. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet. Ich muss zurück zu meinen Freunden. Guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte das Mädchen.
Toulouse-Lautrec wandte sich ab, doch dann fiel ihm noch etwas ein. »Oh, Mademoiselle, Verzeihung: Wie heißt Ihr?«
»Carmen«, sagte sie. »Carmen Gaudin.«
»Dann auf morgen, Mademoiselle Gaudin.« Und schon war er durch die Tür des Cafés verschwunden.
Carmen ging über den Place Pigalle in Richtung Montmartre, dann nahm sie eine der engen Gassen, die sie zur Rue Abbesses und den Hügel hinaufführen würde. Auf der Hälfte der Gasse stand ein Zuhälter, der eben den Abend einläutete und eine Zigarette rauchend an einem baufälligen Schuppen lehnte. Hinter dem Schuppen war ein Grunzen zu hören, vielleicht von einer der Huren des Zuhälters, die einen frühen Freier im Stehen bediente.
Der Zuhälter trat Carmen in den Weg. »Ach, wie süß bist du«, sagte er. »Suchst du Arbeit, kleines Dummchen?«
»Bin auf dem Heimweg«, sagte sie, ohne aufzublicken.
Der Zuhälter nahm sie beim Kinn, blies ihr Rauch ins Gesicht, während er sie taxierte. »Du bist hübsch, aber nicht mehr lange, was? Vielleicht solltest du die Arbeit nehmen, solange dich noch jemand will?« Er griff fester zu, kniff sie grob in die Wangen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Seid Ihr ein Maler?«, fragte sie mit leiser Stimme, scheu.
»Nein, kein Maler. Ich bin dein neuer Herr«, sagte der Zuhälter.
»Tja, dann kann ich mit Euch nichts anfangen«, erwiderte sie.
Sie schlug seine Hand beiseite und packte ihn bei der Kehle, grub ihre Finger ins Fleisch um seine Luftröhre, dann knallte sie ihn gegen die Mauer, als wäre er eine Puppe, brach ihm den Schädel. Als er von der Mauer abprallte, riss sie ihn rücklings über ihr angewinkeltes Knie, und seine Wirbelsäule brach wie ein Zweig. Es hatte kaum eine Sekunde gedauert. Sie ließ ihn auf das Pflaster fallen, und wie ein feuchter, lebloser Furz entwich der letzte Atemzug aus ihm.
»Nicht das Geringste«, sagte sie leise, ernst. Sie setzte ihren Weg fort, die Gasse entlang, und stieg schon den Hügel hinauf, als sie die Hure schreien hörte.
Régine sah, wie ihr Bruder einem sehr hübschen, dunkelhaarigen Mädchen im blauen Kleid die Tür der Bäckerei aufhielt. Seltsam, dachte sie. Lucien bringt seine Mädchen doch nie mit in die Bäckerei.
»Juliette, das ist meine Schwester Régine«, sagte Lucien. »Régine, das ist Juliette. Sie wird mir Modell sitzen.«
»Enchanté«, sagte Juliette mit einem leichten Knicks.
Lucien führte Juliette um den Tresen herum ins Hinterzimmer. »Wir sehen uns mal den Schuppen auf dem Hof an.«
Régine sagte nichts. Sie sah, wie ihr Bruder den Schlüsselring von der Wand nahm und dann das hübsche Mädchen durch die Hintertür der Bäckerei auf den kleinen, von Unkraut überwucherten Hof hinausführte. Da wuchs auch in ihrem Herzen ein Pentimento heran, von einem anderen hübschen Mädchen, das zum Lagerschuppen geführt wurde und das sie kaum zu Gesicht bekommen hatte. Rückwärts wich sie zur Treppe zurück und nahm immer zwei Stufen auf einmal, als sie hinauf in die Wohnung rannte.
Lucien riss die abgewetzte Brettertür auf und gab den Blick auf einen langen, offenen, weiß getünchten Raum frei, in den durch ein großes Oberlicht die Sonne schien. Teilchen von Staub oder vielleicht auch Mehl jagten einander im Sonnenlicht wie ein Mahlstrom kleiner Feen. Säcke mit Mehl und Zucker waren bei der Tür gestapelt. Ganz hinten stand eine alte, unbenutzte Staffelei.
»Mein Vater hat das Oberlicht eingebaut«, sagte Lucien. »Und hier hast du reichlich Platz, um mir Modell zu sitzen.«
Juliette teilte die Begeisterung, drückte seinen Arm und küsste sein Ohr. »Es ist perfekt. Lichtdurchflutet und ungestört. Du kannst mich in derselben Pose malen wie das Mädchen auf diesem Manet, den du mir gezeigt hast.«
»Olympia«, sagte Lucien. »Ein Meisterwerk, aber du bist viel hübscher als Manets Modell Victorine. Er hat sie auch für sein Frühstück im Grünen verwendet. Beides Meisterwerke. Monet und Degas wollen den Staat dazu bewegen, Madame Manet die Bilder für den Louvre abzukaufen. Hätte Manet ein Modell wie dich gehabt, würde Frankreich in den Krieg ziehen, um die Gemälde zu besitzen, das kannst du mir glauben.«
Spielerisch boxte sie ihm gegen den Arm. »Ich glaube, es liegt am Maler, nicht am Modell. Willst du ein Meisterwerk von mir malen? Soll ich mich ausziehen?«
Es schien Lucien, als wäre es im Schuppen auf einmal viel zu warm, und sein Kragen wurde ihm eng. »Nein, Liebste, heute können wir noch nicht anfangen. Ich muss erst diese Vorräte rausschaffen und durchfegen. Meine Farben und die Staffelei sind noch im anderen Atelier. Ich muss die Chaiselongue aus der Wohnung heruntertragen, damit du es bequem hast.«
»Werden wir es auch beide darauf bequem haben?«
»Ich … wir … ich kann morgen anfangen. Wärst du am Nachmittag bereit?«
»Ich bin jetzt bereit«, sagte sie. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Er wich zurück, um es zu verhindern. Nirgends wollte er lieber sein als in ihren Armen, doch nicht jetzt, in der Tür zum Vorratsschuppen, zumal er Schritte aus der Bäckerei kommen hörte.
»Wir müssen gehen«, sagte er, nahm sie bei der Hand, zog sie aus der Tür und schloss ab. Als er den Schlüssel drehte, sagte er: »Es gibt da einen schmalen Gang zwischen den Häusern und dem Platz. Den benutzen nur die kleinen Jungen, aber im Zweifel ist er breit genug.«
Als sie wieder in die Bäckerei kamen, stand Mère Lessard beim Brotregal, die Arme vor dem Busen verschränkt, den Unterkiefer weit vorgeschoben, damit sie ihren Sohn an ihrer Nase entlang ins Visier nehmen konnte.
»Maman!«, sagte Lucien.
»Du hast deine Schwester zum Weinen gebracht«, sagte Mère Lessard. »Sie ist oben und heult, als hättest du sie geohrfeigt.«
»Ich habe sie nicht geohrfeigt.«
»Eine erwachsene, verheiratete Frau, die heult wie ein kleines Mädchen. Ich hoffe, du bist stolz auf dich.«
»Ich habe nichts getan, Maman. Ich werde mit ihr sprechen.« Dann fing er sich, schüttelte die prickelnde Lust ab, die er eben noch empfunden hatte, und stürmte gegen den Vorwurf seiner Mutter an. »Das ist Juliette. Sie wird mir Modell sitzen, und ich brauche den Schuppen als Atelier.«
»Enchanté, Madame Lessard«, sagte Juliette, wiederum mit einem leichten Hofknicks.
Madame Lessard schwieg einen Moment, zog nur eine Augenbraue hoch und musterte Juliette, bis Lucien sich räusperte.
»Ist das die Juliette, die dir das Herz gebrochen und dich in die Trunkenheit getrieben hat? Jene Juliette, die dich und uns fast umgebracht hätte, weil wir deine Arbeit mit erledigen mussten? Jene Juliette?«
Lucien hatte die Idee, Juliette am helllichten Tag durch die Bäckerei zu führen, nicht zu Ende gedacht, weil er es kaum erwarten konnte, den Sonnenschein auf ihrem nackten Leib zu sehen.
»Ebenjene«, sagte Juliette und trat vor. »Aber ich habe mich geändert.«
Lucien nickte heftig, um zu versichern, dass sie sich geändert hatte, obwohl er nicht recht wusste, inwiefern.
»Lucien ist jetzt mein Ein und Alles«, sagte Juliette. Sie zog Lucien an seiner Krawatte zu sich herab und küsste ihn auf die Wange.
Aus unerfindlichem Grund dachte Lucien an die Kreuzigung, den Moment, in dem Christus auf die römischen Soldaten hinunterblickte und betete: Vergib ihnen, Herr, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Madame Lessards tadelnde Augenbraue leistete ganze Arbeit, hob und senkte sich wie eine Zugbrücke in die Verdammnis, und als diese aufsetzte, sagte sie: »Sie wissen, dass seine Schwester Régine die Bäckerei bekommt, wenn ich nicht mehr bin? Hier ist also kein Vermögen zu machen.«
»Nein, Madame«, sagte Juliette. »Ich würde doch nie …«
»Wie dem auch sei. Er ist wild entschlossen, Künstler zu werden, und faul und ungeschickt wie alle aus dieser Brut, also wird er ohne die Bäckerei niemals in der Lage sein, Sie zu versorgen, und ihr zwei werdet hungernd auf der Straße hocken, euch an eure syphilitischen Leiber klammern und nach billigem, englischem Gin und Opium stinken. Die Ratten werden fressen, was von euren dürren Schenkeln übrig ist. Sind Sie sich darüber im Klaren?«
Da wurde selbst Juliette ein wenig unruhig, nachdem die kühle Verheißung, die sie vor der Hitze schützte, unter Madame Lessards gestrengem Blick verdampft war.
Sie hob an, etwas zu sagen: »Madame, ich versichere Ihnen …«
»Und eines sollten Sie wissen: Wenn Sie meinem Sohn noch einmal Schmerz zufügen, wenn er auch nur traurig in seinen Kaffee seufzt, werde ich jemanden anheuern, vermutlich einen Russen, der Sie jagt und Ihnen die hübschen, schwarzen Haare vom Kopf reißt, die Ärmchen und Beinchen bricht, Sie anzündet und Ihnen dann mit einem Hammer den Rest gibt. Und sollten in Ihrem liederlichen Schoß Kinder heranwachsen, werde ich den Russen anweisen, diese in kleine Stücke zu hacken und an Madame Jacobs Hund zu verfüttern. Denn selbst wenn aus Lucien nur ein nichtsnutziger, einfältiger, brotloser Künstler werden sollte, ist er mir doch der Liebste von allen, und ich werde nicht zulassen, dass man ihm etwas antut. Haben wir uns verstanden?«
Juliette nickte nur.
»Dann guten Tag«, sagte Madame Lessard. »Geht mit Gott.« Und damit entschwebte sie durch die Bäckerei, die Treppe zur Wohnung hinauf.
»Ich bin ihr der Liebste von allen«, sagte Lucien mit breitem Grinsen.