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Auf der anderen Seite des Sees kam Scatterheart in eine große Wildnis. Sie sah Dinge von unbeschreiblicher Schönheit und ein paar Mal war sie dem Tod gefährlich nah. Aber sie wanderte weiter.

Vor ihnen erhoben sich die Ausläufer des Gebirges. Hannah konnte flussabwärts in südlicher Richtung undeutlich eine Art Baugrube und ein paar provisorisch aussehende Gebäude erkennen.

»Da wird wahrscheinlich die Straße gebaut«, sagte sie.

»Vielleicht haben sie Mr Bär getroffen«, meinte Molly.

Hannah überlegte. Wenn sie bis zur Baustelle gingen, würde sie vielleicht erfahren, wo sich Thomas versteckt hielt. Andererseits bestand die Gefahr, dass sie den Behörden übergeben und nach Parramatta zurückgeschickt werden würden. Aber sie hatte keine Ahnung, wie groß das Gebirge war. Sie hatte weder eine Karte, noch gab es einen Weg. Sie wusste nicht einmal, wo sie mit der Suche beginnen sollte. Vielleicht würde sie ihn niemals finden.

»Also gut«, entschied sie, »wir gehen zur Baustelle. Aber wir müssen aufpassen, dass uns niemand sieht, bis wir sicher sind, dass wir ihnen trauen können.«

»Ja«, sagte Molly, »ich will nicht ins Waisenhaus zurück.« Sie arbeiteten sich durch das Unterholz und mieden Lichtungen und das offene Flussufer. Die Gegend war an dieser Stelle weniger dicht bewaldet, denn die Bäume fanden kaum Halt in der kargen Erde am steilen Berghang. Auf dem Boden wuchs kräftiges, hartes Gras, das Hannah die Beine aufkratzte.

Schon nach wenigen Minuten waren beide außer Atem. Sie legten eine kleine Pause ein und tranken einen Schluck Wasser. Hannah holte tief Luft, die Lunge tat ihr jetzt schon weh. Molly hustete wieder.

»Soll ich dir ein Märchen erzählen?«, fragte Hannah und lächelte Molly aufmunternd zu.

Das Mädchen nickte.

»Also gut«, begann Hannah und zwängte sich durch ein paar niedrig hängende Äste. »Das Märchen handelt auch von einem großen Wald. Einem Wald, der ganz dicht und voller Dornen ist, und in dem mitten darin eine Prinzessin schläft …«

Sie liefen immer weiter und irgendwann ging Hannah die Luft zum Erzählen aus. Am Spätnachmittag kamen sie an einen Holzschuppen ohne Fenster mit einer großen zweiflügligen Tür, die fest verriegelt war. Auf einem leicht verblichenen Schild stand:

Blue Mountains Western Road
LAGER

»Niemand da«, meinte Molly und schaute Hannah fragend an.

»Wahrscheinlich arbeiten sie weiter oben in den Bergen«, überlegte Hannah.

»Soll ich das Schloss aufbrechen?«, schlug Molly mit glänzenden Augen vor.

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »darin gibt es nur Schaufeln und Seile und solches Zeug. So etwas brauchen wir nicht.«

Molly sah enttäuscht aus.

Die Straße machte einen verwaisten Eindruck. Sie bestand lediglich aus einem Streifen aufgewühlter Erde und Schotter, der sich durch das Unterholz am Berghang hinaufschlängelte und ungefähr zwölf Fuß breit war. Auf beiden Seiten war jeweils noch einmal ein vier Fuß breiter Streifen, auf dem Bäume und Büsche gerodet worden waren. In den Boden war ein Schild aus Brettern gerammt:

Blue Mountains Western Road
Durchgang VERBOTEN
Unbefugte ohne Sondergenehmigung des Gouverneurs
werden strafrechtlich verfolgt.

Hannah lauschte auf menschliche Stimmen, aber außer dem fernen Gurgeln des Flusses war nichts zu hören.

Sie sah Molly an und sagte: »Ich bin dafür, dass wir die Straße nehmen. Das ist viel einfacher, als sich ständig durch den Wald zu schlagen. Wir müssen nur aufpassen, dass wir niemandem begegnen.« Sie blickte zum Himmel hinauf. Die Sonne war hinter den hohen Bergen verschwunden, aber sie nahm an, dass es bis zum Einsetzen der Dunkelheit noch einige Stunden dauern würde. Entschlossen machten sie sich auf den Weg.

Auf der vorläufigen Straße lagen überall Geröll und Äste, an denen man sich leicht die Zehen anschlagen konnte.

Endlich hatten sie den Gipfel des ersten Gebirgsausläufers erreicht und drehten sich um, um zu sehen, wie weit sie gekommen waren. Die Berge warfen lange Schatten über die goldenen Felder der Emu Plains. Der Fluss schlängelte sich als dunkelbraunes, grün gesäumtes Band von Norden nach Süden. Hannah erkannte die Erhebung von Prospect Hill und eine Ansammlung gelber Gebäude, Parramatta. Sie fragte sich, ob James schon zurückgekehrt und ihr Verschwinden bemerkt hatte. Weiter im Osten konnte sie gerade noch Sydney ausmachen und dahinter den blau glitzernden Ozean.

In dieser Nacht fanden sie unweit der Straße Schutz unter einem großen Baum, dessen Rinde rissig und rau wie aufgesprungener Lehm war. Es war kalt, aber sie kuschelten sich unter ihrer Decke eng aneinander.

Am nächsten Tag setzten sie ihren Weg über die Straße fort. Die Bäume zu beiden Seiten wurden größer und mächtiger, das Unterholz dichter und grüner, ein Gewirr aus Büschen und Kriechgewächsen, das die Straße rechts und links wie eine massive Mauer begrenzte. Der intensive Waldgeruch wurde immer stärker, je weiter sie ins Gebirge vordrangen.

Hannah erzählte ihr sämtliche Märchen, die sie kannte – vom gestiefelten Kater, vom Mädchen Allerleirauh und von König Blaubart.

Molly hörte ihr aufmerksam zu, sprach jedoch wenig. Sie sah blass aus, ihr Atem ging schnell und sie blieb oft hinter Hannah zurück.

Am dritten Tag erzählte ihr Hannah das Märchen von Aschenputtel und den gläsernen Pantöffelchen zu Ende. Sie dachte an Thomas und stellte sich vor, wie er am Feuer saß und an einem Stock schnitzte. Dann hörte er Schritte, die sich näherten. Er packte sein Messer fester und ging in Angriffsstellung. Aber da tauchte Hannah aus dem Unterholz auf und das Messer fiel zu Boden.

Sie war so in ihrem Tagtraum gefangen, dass sie weder das Pfeifen noch die gleichmäßigen Tritte von Stiefeln hörte. Als der Mann um eine Wegbiegung kam, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte sie an.

Hannah schaute verzweifelt hierhin und dorthin und überlegte, ob sie wegrennen und sich verstecken konnten, aber dieser Straßenabschnitt war ungewöhnlich breit und kahl. Molly drückte sich von hinten an sie und stieß ein leises, ängstliches Fiepen aus.

Der Mann war groß und breitschultrig, sein Gesicht war von der Sonne verbrannt, sein Bart stoppelig. Aber seine Kleider sahen ziemlich neu und solide aus, auch wenn sie sehr schmutzig waren. Auf seiner Schulter trug er einen Sack. Er schaute sie überrascht an und Hannah dachte, dass der Anblick eines kurzhaarigen Mädchens in einem teuren Kleid und einem Kind mit halbem Gesicht in der Tat sehr merkwürdig sein musste.

»Ich nehme an, ich muss euch gar nicht erst nach einer Durchgangsgenehmigung fragen«, sagte der Mann. Er hatte nicht den breiten Akzent der Kolonieburschen, sondern sprach wie ein englischer Bauer.

Hannah biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Sie überlegte, ob er sie verhaften wollte und ob sie ihm entkommen konnten. Er sah schrecklich stark aus.

»Sträflinge?«, fragte der Mann.

»Ja«, antwortete Hannah.

Er nickte. »Ich auch, zumindest jetzt noch. Wenn wir beim Straßenbau hart arbeiten, werden wir angeblich freigelassen.« Er machte nicht den Eindruck, als wollte er sie verhaften.

»Warum gehen Sie zurück?«, fragte Hannah.

Der Mann verzog kläglich das Gesicht und hielt seine Hand hoch. Sie war mit einem Stück Segeltuch notdürftig verbunden.

»Hab mir einen bösen Splitter geholt. Ist entzündet. Ich muss nach Parramatta und mich verarzten lassen. Aber in ein oder zwei Tagen komme ich wieder her. Ich heiße Will. Will Appledore.«

Hannah lächelte. »Ich heiße Hannah und das ist Molly.« Molly machte sich hinter Hannah noch kleiner.

»So, so«, sagte er augenzwinkernd, »und vor wem rennst du weg, Hannah?«

Molly trat einen Schritt vor. »Wir suchen jemanden«, antwortete sie.

Als der Mann Mollys einzelnes Auge bemerkte, huschte ein Ausdruck von Mitleid über sein Gesicht. Hannah entschied, dass sie ihm trauen konnten.

»Wir suchen … einen Freund«, erklärte sie. »Sein Name ist Thomas Behr.«

Appledore zuckte die Achseln. »Der arbeitet hier nicht. Ich kenne jeden.«

»Er arbeitet auch nicht an der Straße«, erwiderte Hannah.

»Er hat sich in den Bergen versteckt.«

Appledore schaute sie einen Augenblick schweigend an, dann sagte er: »Es gibt einige, die sich in den Bergen verstecken.«

»Er war Offizier«, ergänzte Hannah. »Er ist geflohen.«

»Der kann überall und nirgends sein«, meinte Appledore.

»Vielleicht ist er tot.«

»Er ist nicht tot«, widersprach Hannah. »Dessen bin ich mir ganz sicher. Wissen Sie vielleicht etwas?«

»Tut mir leid, Miss«, antwortete er, »ich würde euch gerne helfen. Aber ich habe Familie und Superintendent Cox hat gesagt, wenn wir uns beim Straßenbau anstrengen, kommen wir frei und kriegen auch noch ein Stück Land. Wenn ich das Gesetz breche und einem Flüchtigen helfe, schade ich mir nur.«

»Also wissen Sie doch etwas«, sagte Hannah.

Appledore zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid«, murmelte er.

Hannah verfluchte im Stillen den Ruderer, der ihr das ganze Geld abgeknöpft hatte.

»Ich … ich habe kein Geld mehr. Ich habe nichts, was ich Ihnen anbieten könnte.« Schon während sie es aussprach, wusste sie, dass es nicht stimmte. Der Mann im Boot hatte ihr zwei Zahlungsmöglichkeiten zur Wahl gestellt. Sie schluckte. So weit war sie schon gekommen.

»Ich könnte … vielleicht … «, stotterte sie errötend und blickte zur Seite.

Will Appledore runzelte die Stirn. »Ich habe eine Tochter in deinem Alter«, sagte er und seufzte. »Dieser Ort macht aus den anständigsten Männern und Frauen Diebe und Huren.«

Hannah empfand eine seltsame Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Wie sollte sie Thomas jetzt finden?

»Hört her«, begann Appledore erneut, »ich habe euch nicht getroffen, falls jemand fragt. Und ihr habt mich nicht getroffen. Wir haben tatsächlich jemanden gesehen, als wir an der Straße gearbeitet haben. Ich weiß nicht, ob das der war, nach dem du suchst, aber ich weiß, wo du ihn finden kannst.«

Hannah schöpfte wieder einen Funken Hoffnung.

»Wenn ihr ungefähr drei Tage lang dieser Straße folgt«, erklärte Appledore, »dann kommt ihr an einen Ort, der heißt Schindelhütte. Ihr erkennt ihn an dem Lagerschuppen, der genauso aussieht wie der weiter unten an der Straße. Von dort aus führt ein Trampelpfad ungefähr eine Meile bis zum Fluss. Wenn ihr jetzt ein Stück flussabwärts geht, kommt ihr an einen Wasserfall. Da wartet ihr, bis es dunkel wird. Dann stellt ihr euch auf den Felsen und schaut über das Tal. Auf diese Weise werdet ihr ihn finden.«

Molly schoss vor und drückte Appledore die Hand. »Vielen Dank«, sagte sie.

Er wurde rot.

»Denkt daran. Ich habe euch nicht gesehen und ihr habt mich nicht gesehen.«

Allmählich drangen sie immer weiter in die Berge vor. Das Gelände auf den Höhen war steinig und karg und in den Tälern grün und feucht. Die Straße war oft morastig und Hannahs Rock war bald über und über mit Lehm verschmiert. Das Wasser in den Bächen, die sich hier und da munter plätschernd den Berg hinunterschlängelten, hatte eine braungelbe Färbung wie Tee. Es war eiskalt und schmeckte nach fetter Erde und intensiv duftendem Eukalyptus. Hannah fand den Geschmack köstlich.

Sie teilte das Essen sorgfältig ein und hielt ständig Ausschau nach Äpfeln, Birnen oder anderem Essbaren. Aber die Bäume waren ihr alle fremd – allerdings hätte sie einen Apfel- oder Birnbaum auch nur erkannt, wenn er Früchte getragen hätte. Beeren und Nüsse fand sie nicht und die Pilze sahen so eigenartig und wild aus und hatten so merkwürdig kräftige Farben, dass Hannah es nicht wagte, sie zu berühren.

Am Morgen des vierten Tages schaute Hannah erwartungsvoll nach der Schindelhütte aus. Das Wetter war klar und schön. Die Sonne brannte und kein Wölkchen stand am Himmel.

»Hat Will Appledore nicht behauptet, wir würden Mr Bär bei einem Wasserfall finden?«, fragte Molly.

»Ich weiß nicht genau«, sagte Hannah. »Vielleicht ist er es gar nicht.«

»Doch, ganz bestimmt«, entgegnete Molly.

Sie gingen eine Weile schweigend weiter, dann fragte Molly: »Wie sollen wir ihn denn nachts im Dunkeln erkennen?«

Hannah zuckte die Achseln. »Womöglich kommt er zum Wasserfall, um frisches Wasser zu holen.«

Molly blickte zum blauen Himmel hinauf.»Vielleicht zeigen uns die Sterne den Weg«, sagte sie träumerisch.

Hannah lächelte, aber sie machte sich allmählich Sorgen. Sie waren jetzt genau vier Tage unterwegs – warum hatten sie die Hütte immer noch nicht erreicht? Waren sie aus Versehen daran vorbeigelaufen? Waren die Straßenarbeiter zurückgekehrt und hatten die Hütte abgebrochen? Hatte Will Appledore sie angelogen?

Und wenn es gar nicht Thomas war, den er meinte gesehen zu haben?

Als sie am Spätnachmittag über eine Höhe kamen, hätte Hannah vor Freude laut schreien können. Da war sie. Eingebettet in das Blätterwerk am Rand der Straße stand eine einfache, gedrungene Hütte. Molly klatschte in die Hände und tanzte vor Glück.

»Wir kommen, Mr Bär!«, schrie sie.

»Psst«, machte Hannah, »vielleicht sind noch Arbeiter in der Nähe.«

Molly verstummte.

Hannah schlich um die Hütte herum und betete, dass sie den Weg zum Wasserfall finden mochten, ohne auf einen Soldaten zu treffen, der ihnen auflauerte. Aber dawar er, ein Pfad, der grob durch das Unterholz geschlagen war. Hannah staunte, dass es so einfach sein sollte.

»Komm, Molly, vor Einbruch der Dunkelheit können wir es bis zum Wasserfall schaffen.«

Sie kämpften sich den Pfad entlang, der anscheinend seit Monaten nicht mehr benutzt worden war. Schlingpflanzen und hohes, spitzes Gras behinderten ihren Weg.

Sie hörten den Wasserfall lange, bevor sie ihn sahen – ein dumpfes Dröhnen, das Hannah an die Derby Ram erinnerte, als sie Dr. Ullathorne im Sturm über Bord gestoßen hatte.

Hannah ging erwartungsvoll weiter und ihre Lunge brannte. Die Luft kam ihr sehr dünn vor und das Atmen fiel ihr schwer. Molly war schon vorausgeklettert. Sie hörte sie leise singen.

Hannah konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Schweiß rann ihr in die Augen, das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Atem kam in rauen, schmerzhaften Stößen.

Würden sie Thomas tatsächlich beim Wasserfall finden? Sie stellte sich vor, wie er über einen rasch dahineilenden Fluss gebeugt Wasser schöpfte oder sein Hemd auswusch. Er würde aufblicken, sobald er sie bemerkte, und vollkommen überwältigt sein. Dann würde er lächeln, ihr entgegenrennen und sie in seinen Armen auffangen … Mollys Singen hörte plötzlich auf. Hannah konnte sie nicht mehr sehen.

»Molly?«, rief sie. Keine Antwort. Hannah kraxelte den Hang hinauf und brach durch das letzte Hindernis aus Ästen und Zweigen.

Molly war bis zum Rand eines Abhangs getreten. Ein breiter, brausender Fluss schoss auf die Kante des rötlichgelben Felsens zu, auf dem sie stand, und stürzte, einen weißen Gischtvorhang versprühend, darüber hinab. Hinter dem Wasserfall erhoben sich Berge. Unendlich viele Berge. Vor ihnen, über ihnen, neben ihnen, überall waren Berge. Berge, über denen ein stumpfes Blaugrün waberte, aus dem nur dann und wann eine raue Felswand oder eine gelbe Felsspitze aufragte. Molly stand mit offenem Mund da. Ohne sich umzudrehen, streckte sie ihre Hand nach Hannah aus. Die ergriff sie und drückte sie fest.

»Es geht ewig so weiter«, flüsterte Molly.

Und genauso war es. So weit das Auge reichte, wellten sich Bergkämme, Gipfel und Täler vor ihnen und verschwanden in dem blauen Dunst, der über allem lag.

Hannah hätte sich niemals vorstellen können, dass die Welt so groß war. Selbst nach der langen Reise auf der Derby Ram konnte sie es nicht fassen, dass solche Entfernungen existierten. Sie klafften über und unter ihr und erfüllten sie mit einer tiefen Leere.

Die Spätnachmittagssonne tauchte die Berge in ein gelbes Licht und warf dramatische blaue Schatten. Als Hannah ins Tal blickte, drehte sich ihr der Magen um. Tief unter ihr vereinigte sich der Fluss wieder mit der Erde und wand sich in einer geschwungenen, tief eingeschnittenen Linie zwischen zwei hoch aufragenden Gipfeln davon.

Die Leere, die Hannah empfand, drohte sie zu verschlingen. Sie hätte weinen mögen, aber sie konnte nicht. Wie sollten sie in dieser unermesslichen Weite eine einzelne Person ausfindig machen?

»Wir werden ihn niemals finden«, flüsterte sie. »Niemals.« Molly sah sie an und lächelte, dann wandte sie sich wieder um und saugte die Schönheit der Landschaft in sich auf.

»Wir sind doch schon da«, sagte sie. »Das ist es. Wir haben es gefunden. Hier ist das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes.«

Und vielleicht hatte sie recht. Hannah gestand sich ein, dass sie sich geirrt hatte, als sie Port Jackson dafür gehalten hatte. Der Ort war malerisch, aber nicht so paradiesisch wie dieses Gebirge. Port Jackson war zahm im Vergleich zu den Bergen.

»Dieser Ort ist schön und schrecklich zugleich … wie …«, sie unterbrach sich und suchte nach den richtigen Worten.

»Wie der weiße Bär«, murmelte Molly.

Hannah nickte.

Sie setzten sich auf den Felshang neben dem Wasserfall und sahen zu, wie die Sonne unterging und die Berge und Täler ringsum im blauen Dunst verschwanden. Die letzten Strahlen der Sonne verwandelten die Gischt des Wasserfalls in eine Wolke aus tausend Regenbögen.

Hatte Will Appledore einen Scherz gemacht, als er ihnen sagte, sie würden Thomas finden, wenn die Sonne untergegangen sei?

Molly blickte träumerisch über die Berge. »Es sieht aus wie das Meer. Wie große, gefrorene Wellen.«

Einen Moment lang sah Hannah ein Schloss, das ganz aus Eis war und dessen weiße Türmchen und Festungswälle in den rosa- und orangefarbenen Strahlen der untergehenden Sonne aufblitzten.

»Molly!«, rief sie atemlos. Aber dann war das Schloss wieder verschwunden. »Ich dachte, mir wäre das Ende des Märchens eingefallen. Ist es aber doch nicht«, sagte sie.

Sie hörten über sich ein Rascheln und als Hannah den Kopf hob, entdeckte sie einen seltsamen weißen Vogel, der sich auf einem Zweig niedergelassen hatte. Molly schaute ebenfalls hoch und quiekte.

Der Vogel war sehr groß und ganz weiß, nur sein Schnabel und seine Augen waren schwarz und auf seinem Kopf saß ein hellgelber Helmbusch. Hannah starrte den Vogel mit offenem Mund an.

»Ein Zaubervogel?«, flüsterte Molly.

»Ich weiß nicht. Könnte sein«, sagte Hannah.

Ruckartig bewegte der Vogel seinen Kopf auf und nieder und sein gelber Helmbusch breitete sich zu einem goldenen Fächer aus.

»Wie wunderschön!«, rief Molly leise.

Der Vogel blickte sie aus seinen schwarzen Augen an, dann öffnete er den Schnabel und stieß das schrecklichste Geräusch aus, das Hannah je gehört hatte. Es klang schrill und rau zugleich, wie der Schrei eines Sterbenden. Molly hielt sich die Ohren zu.

»Er hat so schön ausgesehen«, sagte sie entsetzt.

»Hier ist nichts, wie es scheint«, entgegnete Hannah, ohne ihren Blick von dem Vogel zu lösen. »Die Elster war hässlich und hat herrlich gesungen. Und dieser Vogel sieht herrlich aus und singt hässlich.«

Der Vogel stieß wieder seinen rauen, schrillen Schrei aus, dann schlug er mit den Flügeln aus und erhob sich in den dunkler werdenden Himmel.

Hannah sah ihm nach, wie er über das Tal flog und auf eine gelbe Felsspitze zuhielt.

»Er zeigt uns den Weg!«, rief Molly und wies in die Richtung, in die der Vogel geflogen war. »Das hat Will Appledore gemeint. Er wusste, dass der Vogel kommen und uns den Weg zu Mr Bär weisen würde.«

Hannah lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Will Appledore hat nur einen Scherz gemacht«, sagte sie traurig.

Weit hinten am Horizont, in der Richtung, die der Vogel genommen hatte, tauchte ein großer gelber Stern auf. Dann, weiter oben am Himmel, noch einer, ein roter. Danach ein grüner. Und plötzlich war der ganze Himmel von Sternen übersät, es waren so viele, dass kaum ein schwarzes Fleckchen übrig blieb.

»Herrlich«, flüsterte Molly.

Aber es gab keinen Großen Bären, der sie hätte führen können. Hannah seufzte und packte die Decke und einen verschrumpelten Apfel aus. Molly rollte sich in einer Felskuhle zusammen.

»Weck mich, wenn Mr Bär kommt«, sagte sie schläfrig und schloss die Augen.

Hannah deckte sie zu und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie saß nur da und beobachtete die Bewegung der Sterne, stundenlang, wie es ihr schien.

Auf einmal tauchte am Horizont eine weiße hell leuchtende Scheibe auf. Im ersten Moment machte Hannahs Herz einen Sprung und sie dachte, es wäre der weiße Bär, der zu ihrer Rettung kam. Aber es war nur der Mond, der langsam in den nächtlichen Himmel hinaufwanderte. Jetzt konnte Hannah auch wieder die Umrisse der Berge erkennen.

Als der Mond hoch am Himmel stand, warf er ein seltsames fahles Licht über den Felshang und den Wasserfall. Hannah starrte auf den hellen gelben Stern, der direkt unter dem Horizont aufleuchtete.

»Molly«, sagte sie leise.

Es sah aus, als flackerte der Stern.

»Molly!« Sie rüttelte sie wach.

»Ist Mr Bär gekommen?«, fragte Molly schläfrig.

»Nein«, antwortete Hannah. »Aber ich weiß, wo er ist.«

Sie zeigte auf den gelben Stern. »Das ist kein Stern, das ist ein Lagerfeuer.«