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Der Nordwind wehte davon, aber zuvor ließ er noch eine Eichel auf den Strand fallen. Scatterheart hob sie auf und steckte sie zu den anderen drei Eicheln in ihre Tasche.

Spätnachts legten die Kähne in Parramatta an. Am Ufer standen ein paar Hütten, aus deren Fenstern trübes orangefarbenes Licht fiel. Ansonsten herrschte absolute Dunkelheit. Hannah schauderte bei der Vorstellung, was hinter dem Lichtkegel der Bootslaterne lauern mochte. Sie dachte an das herausfordernde Grinsen des Eingeborenen, den sie in Sydney gesehen hatte, und nahm Molly fest an die Hand.

Auf dem schwankenden Landungssteg mussten sie sich in einer Reihe aufstellen. Eine kleine Schar Männer und Frauen steckte die Köpfe zusammen und beobachtete sie. Manche sahen mit ihren rauen Händen und breiten Hüten wie Bauern aus. Andere waren eindeutig von höherem Stand, die Frauen trugen lange Röcke und Hauben und die Männer hatten Zylinder und Gehstöcke.

Ein Mann in Offiziersuniform ging mit einer Laterne in der Hand vor den Frauen auf und ab, musterte sie genau, schaute sich ihre Zähne und Augen an und fragte sie nach ihrem Namen und dem Vergehen, das sie nach New South Wales gebracht hatte.

Einige der Frauen wies er den wartenden Leuten auf dem Landungssteg zu, andere ließ er stehen. Als er zu Molly kam, bückte er sich und sah ihr ins Gesicht.

»Wie heißt du denn, kleines Fräulein?«

»M… Molly«, antwortete sie.

»Und dein Nachname?«

»Nur Molly.«

»Nun, Molly, wie alt bist du?«

Molly zuckte die Achseln und entspannte sich ein wenig.

»Sieben, acht, neun, ich weiß nicht genau.«

Der Mann nickte und winkte einer Frau, die ebenfalls unter den Wartenden stand.

»Bringen Sie sie ins Waisenhaus«, sagte er zu ihr. »Sie ist noch zu klein für die Fabrik.«

Molly klammerte sich an Hannah.

»Warten Sie«, rief diese, »das ist meine Schwester.«

Der Offizier entgegnete gleichgültig: »Das spielt keine Rolle, selbst wenn sie Ihr eigenes Kind wäre. Sie muss ins Waisenhaus.«

Die Frau wollte Molly an die Hand nehmen, doch die wehrte sich und schrie: »Ich will nicht ins Waisenhaus! Ich will bei Hannah bleiben.«

Augenblicklich packte die Frau Molly und hob sie hoch. Voller Verzweiflung trat Molly um sich, sie biss und schrie, aber die Frau war stark und trug sie fort.

»Hannah!«, kreischte Molly. »Sie dürfen mich nicht wegbringen.«

Hannah sah Mollys blasses, angstverzerrtes Gesicht.

»Es wird alles gut, Molly!«, rief sie ihr hilflos nach.

Als die Frau mit Molly in der Dunkelheit verschwand, wollte es Hannah beinahe das Herz zerreißen.

Nun wandte sich der Offizier ihr zu.

»Name?«

»Hannah Cheshire.«

»Alter?«

»Ich bin vierzehn«, antwortete sie und merkte im selben Moment, dass das nicht stimmte. Irgendwann auf der Reise war sie fünfzehn geworden, sie hatte es nicht einmal bemerkt.

»Vergehen?«

Hannah runzelte die Stirn.

»Ich habe nichts getan. Ich bin aus Versehen hier.«

Der Offizier sah sie spöttisch an.

»Das gilt doch für alle, oder?« Er packte sie am Kinn und drückte ihr den Mund auf, um ihre Zähne zu untersuchen. Es war demütigend, wie ein Pferd auf dem Markt begutachtet zu werden. Sie dachte an den Zahn, der ihr auf der Derby Ram ausgefallen war. Der Offizier warf einen Blick auf ihr kurzes Haar.

»Aha, du bist auf der Fahrt bestraft worden. Was hast du denn angestellt?«

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, wiederholte sie und sah einen Moment lang das Gesicht von Dr. Ullathorne vor sich, als er über Bord fiel.

»Ich bin auf der Suche nach Thomas Behr. Er ist Offizier.«

Der Mann schaute sie misstrauisch an. »Thomas Behr hast du gesagt?«

Hannahs Herz machte einen Sprung. »Ja, kennen Sie ihn? Ist er hier?«

Der Mann schwieg, er wirkte nachdenklich, aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein, hier ist niemand, der so heißt. Für eine Dienstmagd bist du zu schnippisch. Du kommst in die Fabrik.«

Hannah konnte sich nicht erklären, warum sie in die Fabrik geschickt und nicht einer Familie zugewiesen wurde. Bei ihrer Ankunft betrachtete sie der Fabrikvorsteher verwundert. Der Offizier, der sie begleitete, beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Hannah zuckte zusammen. Hatte er nicht Thomas Behr erwähnt? Warum sah sie der Fabrikvorsteher plötzlich so eigenartig an und presste die Lippen zusammen? Wo war Thomas?

Die Fabrik war ein zerfallener Dachboden über einem Gefängnis, kaum größer als der Frauentrakt im Orlopdeck, in dem jedoch doppelt so viele Gefangene untergebracht waren.

Hannah schob sich mit den anderen Neuankömmlingen hinein und schaute sich entsetzt um. Das Gebäude machte den Eindruck, als würde es gleich auseinanderfallen. Zwischen dem Dach und den Seitenwänden war eine Lücke, durch die der Wind pfiff, und die Fußbodenbretter waren so aufgesprungen, dass Hannah ihre Finger in die Risse stecken konnte. In der ersten Nacht in dem zugigen Raum zitterte sie vor Kälte und wünschte, sie hätte ihre Decke nicht an Bord gelassen. Sie hatten weder Bettzeug noch frische Kleidung bekommen. Kurz vor Morgengrauen begann es auch noch zu regnen und das kalte Wasser tröpfelte durch das undichte Dach auf Hannah herab.

In der Fabrik waren all die Frauen, die nicht als Dienstmädchen für die Bürgerhäuser in Sydney und Parramatta oder als Mägde für die umliegenden Höfe ausgewählt worden waren. Es waren die Schlimmsten der Sträflinge, die Bösen, Kranken und Alten.

Hannah hasste das Leben in der Fabrik. Zu jeder Tagesund Nachtzeit wurden Männer hereingelassen, die sich mit Frauen, die für ein paar Kupfermünzen alles taten, in die Ecken verzogen. Pennyhuren nannten sie das.

Jeden Donnerstag führte ungefähr ein Dutzend der gefangenen Frauen den Tanz der Seejungfrau auf. Zuerst zogen sich die Frauen nackt aus und auf ihre Rücken wurden Nummern in hellblauer Farbe gemalt. Dann spielte jemand mit der Fidel oder der Flöte auf und die Frauentanzten. Die Männer riefen die Nummern ihrer Favoritinnen und überboten sich gegenseitig. Sie stampften mit den Füßen, klatschten in die Hände und pfiffen. Die Frauen tanzten immer heftiger – sie versuchten sich gegenseitig an Schamlosigkeit und Obszönität zu übertreffen. Am Schluss zahlte der Meistbietende sein Geld und verschwand mit seinem »Gewinn«.

In der ersten Woche hatte Hannah Angst, sie würde gezwungen, am Tanz der Seejungfrau teilzunehmen. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich die Gefangenen freiwillig zur Verfügung stellten und der Fabrikvorsteher das Geld mit ihnen teilte. Hannah war empört, dass die Frauen sich wegen ein paar Kupfermünzen so unzüchtig aufführten. Aber dann fiel ihr ein, was Long Meg gesagt hatte. Das mache ich für Geld, Grog und Schutz. Und Cathy hatte gemeint: Wir tun das, weil wir überleben wollen.

Hannah traf in der Fabrik nur wenig bekannte Gesichter. Von der Derby Ram waren nur eine Handvoll Frauen da, unter anderem die alte Tabby, die sich gleich nach der Ankunft in einen Haufen ranziger, schmutziger Rohwolle vergrub, aus dem sie nur noch selten auftauchte.

Die Frauen mussten jeden Tag Wolle aus einer benachbarten Schäferei kämmen und verspinnen. Die geschickteren unter ihnen verwoben das grobe Garn zu einem rauen, kratzigen Stoff, aus dem Winterkleidung für die Sträflinge gefertigt wurde.

Frauen, die in der Fabrik unangenehm auffielen, wurden zu schweren körperlichen Arbeiten ins Freie geschickt. Man legte ihnen mit Nägeln gespickte Halsbänder an und dann wurden sie von Soldaten in roten Uniformen vor das Fabriktor getrieben. Dort mussten sie in Eimern Erde und Bauschutt schleppen, während die Soldaten im Takt einer Trommel auf sie einschlugen. Wer eine Pause machte oder irgendwie aufsässig war, bekam das Botany-Bay-Dutzend – das waren fünfundzwanzig Peitschenhiebe – oder zwölf, wenn die Frau sich nackt auspeitschen ließ.

Der Vorsteher der Frauenfabrik hieß Green. Er tauchte in unregelmäßigen Abständen auf und brachte einen Bottich mit einer wässrigen Graupensuppe. Er verachtete die Gefangenen und nannte sie immer nur dreckige Huren, wenn er von ihnen sprach. Musste er einmal eine berühren, verzog er angeekelt das Gesicht.

Ansonsten waren die Frauen sich selbst überlassen.

Hannah fragte jede, die ihr über den Weg lief, ob sie Thomas Behr gesehen habe. Sie nahm kaum den ranzigen Gestank der Schafwolle wahr und sie merkte auch nicht, wie wund ihre Finger schon nach wenigen Stunden Wollekämmen wurden. Es machte ihr auch nichts aus, dass das Essen viel schlechter war als auf der Derby Ram und dass es viel seltener etwas gab. Sie fieberte nur noch danach, Informationen über ihren Hauslehrer zu bekommen.

Ihre Mitgefangenen schüttelten verständnislos den Kopf und Hannah wurde immer mutloser. Vielleicht war er ja überhaupt nicht in New South Wales? Vielleicht war er gar nicht Offizier auf See geworden?

Doch dann dachte sie an den eigenartigen Blick, mit dem der Offizier sie auf dem Kai angesehen hatte, als sie Thomas’ Namen erwähnt hatte. Er musste etwas gewusst haben. Möglicherweise war Thomas nach England zurückgeschickt worden.

Eines Abends, Hannah hatte sich schon in ihre Ecke zurückgezogen und ihr Magen knurrte, obwohl das Essen eben erst ausgeteilt worden war, kam eine Frau mit krausen braunen Haaren zu ihr, stellte sich als Bess vor und setzte sich.

»Ich habe gehört, dass du nach einem Herrn suchst«, begann sie.

Hannahs Herz klopfte zum Zerspringen.

»Er heißt Thomas Behr. Weißt du etwas über ihn?«

Bess schüttelte den Kopf. »Den Namen kenne ich nicht. Aber vor ’ner Weile, als ich noch in Sydney war, habe ich von so einer Sache gehört. Dann gab es zwischen meiner Herrin und mir ein paar Missverständnisse und ich wurde hier hergebracht.«

»Was für eine Sache?«

Bess kratzte ihren Arm, der rot entzündet war. »Ein Offizier ist in Schwierigkeiten gekommen. Hatte was mit einer Frau zu tun. Er hat sie umgebracht oder so ähnlich. Dann ist er abgehauen. Das könnte dein Mann sein. Mehr weiß ich nicht.«

Hannah blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Thomas würde niemals jemanden töten. Das kann er nicht gewesen sein.«

Bess zuckte die Achseln und stand auf. »Männer machen alles Mögliche, wenn es um Frauen geht.« Sie schlurfte davon.

Tabby starrte Hannah von ihrem Wollhaufen aus an.

»Du suchst Gnade in einem gnadenlosen Gesicht«, murmelte sie.

»Die Frau wusste etwas«, erwiderte Hannah.

Tabby runzelte die Stirn. »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.«

Hannah seufzte.

»Die Not lehrt die nackte Frau das Spinnen«, sagte Tabby.

Hannah sah sie verständnislos an.

»Könige und Bären machen ihren Hütern oft Sorgen«, fuhr Tabby fort.

Hannah packte sie an ihrem dünnen, knochigen Arm.

»Weißt du etwas? Hast du etwas erfahren?«

Tabby schüttelte den Kopf. »Puddings und Liebschaften müssen heiß angefasst werden«, krächzte sie.

Hannah ließ sie los.

»Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Tabby kicherte und vergrub sich in ihren Wollhaufen.

Drei Tage später traf eine Frau aus Sydney ein. Sie hatte einen riesigen blauen Fleck auf der Wange und ihr rechtes Auge war fast zugeschwollen.

Als der Fabrikvorsteher Green und ein Bediensteter das kärgliche Abendessen brachten, eilte Hannah zu der Neuen hinüber.

»Behr?«, fragte die Frau und kniff die Augen zusammen.

»Weißt du etwas über ihn?«, hakte Hannah nach.

Die Frau schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie.

Hannah fasste sie am Handgelenk. »Bitte, überleg. Hast du noch nie etwas über einen, der Behr heißt, gehört?«

Bess gesellte sich zu ihnen.

»Ich dachte, das könnte dieser Offizier sein«, sagte sie zu der Neuen. »Der, der diese Frau getötet hat.«

»Das war eine üble Geschichte«, seufzte die und erschauderte.

Hannah ließ die Frau wieder los.

»Macht nichts.« Enttäuscht wandte sie sich zum Gehen.

»Warte«, sagte da die Neue, »dieser Offizier hatte einen deutschen Namen. Es könnte Behr gewesen sein.«

»Das ist unmöglich«, erwiderte Hannah. »Thomas ist kein Mörder.«

Die Frau kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern.

»Mein Herr hat einmal darüber gesprochen.« Sie fasste an ihre Wange und zuckte zusammen.

»Mein ehemaliger Herr, genauer gesagt. Er meinte, ein deutscher Offizier hätte sich in eine Sträflingsfrau verliebt. Dann ist er irgendwie in Schwierigkeiten geraten und von der Bildfläche verschwunden.«

Eine andere Frau mit geschorenem Kopf mischte sich jetzt ein. »Redest du von diesem Offizier, der seinen Vorgesetzten umgebracht hat? Er soll ihn kaltblütig ermordet haben.«

»Ich habe gehört, er hätte eine Frau getötet«, sagte Bess.

»Nein«, entgegnete die Frau mit dem geschorenen Kopf.

»Der Vorgesetzte hat die Frau getötet und dann hat er den Vorgesetzten getötet. Vor zwei Monaten hat man ihn aufgeknüpft.«

Bess widersprach: »Soviel ich weiß, ist er nach England zurückgeschickt worden.«

»Ihr habt beide unrecht«, mischte sich die Neue wieder ein. »Er ist in ein Arbeitslager nach Van-Diemens-Land gebracht worden.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Hannah. »Das ist er nicht.« Der Fabrikvorsteher Green knallte seinen Stock gegen die Wand. »An die Arbeit!«, brüllte er.

Die anderen Frauen gingen zurück an ihre Webstühle, doch Hannah blieb auf dem Boden sitzen. Wieso sollte sie noch etwas tun? Er war nicht da. Thomas hatte England womöglich nie verlassen. Sie war allein in dieser furchtbaren Hölle am Ende der Welt. Selbst Molly hatten sie ihr genommen.

»Du!«, bellte der Vorsteher und stellte sich drohend über Hannah. »Faulheit wird hier nicht geduldet!«

Er ließ seinen Stock mit aller Kraft auf Hannahs Rücken sausen. Das dünne Holz schnitt durch ihr Kleid bis tief in ihre Haut, aber Hannah rührte sich nicht. Green schlug ein zweites Mal zu und der Schmerz explodierte auf ihren Rippen. Hannah erhob sich mühsam und ging zu den Haufen fettiger Wolle, vor denen die Frauen im Schneidersitz hockten und sie kämmten.

Das Blut in ihrem Kleid trocknete und ihr Rücken brannte und wurde steif. Aber was machte das schon? Alles war unwichtig geworden.

An den Sonntagen mussten sich die Frauen vor dem Fabrikgebäude in einer Reihe aufstellen und sich von den unverheirateten Männern der Kolonie begutachten lassen. Manche der Arbeiterinnen putzten sich heraus und lächelten, andere sahen mürrisch drein und scharrten mit ihren Schuhen auf dem Boden.

Die Männer schoben sich an der Reihe entlang, fand einer eine Frau, die ihm gefiel, ließ er sein Taschentuch vor ihr fallen. Wenn der Mann ihr zusagte, hob sie das Tuch auf und ging mit ihm nach Hause.

Hannah genoss die frische Luft, machte aber jedes Mal, wenn einer an ihr vorüberkam, ein missmutiges Gesicht. Die Männer ließen vor ihr nie ein Taschentuch fallen. Ein bisschen empfand sie das als Kränkung – war sie etwa nicht mehr schön genug? In London hätten diese dreckigen, grobschlächtigen Kerle alles darum gegeben, sie auch nur ansehen oder in ihrer Nähe stehen zu dürfen. Und nun waren sie zu gut für sie.

Es war Hannahs dritter Sonntag vor der Fabrik. Der Himmel war bedeckt und dunkle Wolken kündigten Regen an. Neben ihr stand Tabby in gekrümmter Haltung und kaute auf einer schwarzen, stechend riechenden Masse herum.

Hannah tastete nach der Tasche, die sie in ihr graues Baumwollkleid genäht hatte. Thomas Behrs Taschentuch war immer noch da, ein kleiner, erbärmlicher Stofffetzen, genauso brüchig wie das bisschen Hoffnung, an das sie sich klammerte.

Sie achtete nicht auf die Männer, die an ihr vorbeigingen und deren Haut von der Sonne rot und rissig war. Sie starrte standhaft auf ihre Zehen und versuchte sich möglichst unsichtbar zu machen. Tabby spuckte einen schwarzen Auswurf aus.

Etwas Weißes flatterte vor Hannahs Füße. Erschrocken sah sie hoch und blickte in die blauen Augen von James. Es schien ihm peinlich zu sein, sich hier, unter diesen einfachen Männern und straffälligen Frauen, aufzuhalten. Aber er lächelte Hannah an und schaute dann auf sein Taschentuch, das vor ihr im Staub lag.

»Wer Schiffbruch leidet, kommt oft auch in den Hafen«, murmelte Tabby.

»Geh nach Hause, James«, sagte Hannah ausdruckslos. »Hannah«, begann dieser, »ich muss mit dir sprechen. Ich werde mein Erbe bekommen. Aber es gibt eine Klausel, die besagt, dass ich verheiratet sein muss. Deshalb möchte ich dich zu meiner Frau nehmen.«

Hannah schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich habe hier in der Nähe etwas Land gekauft – einhundert Morgen – und zehn Sträflinge als Diener angestellt. Es gibt dort ein großes Haus mit weißem Porzellan, Chintzsesseln und Samtvorhängen. Es wird dir gefallen. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis ich dich holen konnte. Ich wollte erst alles fertig haben.«

Sie ignorierte ihn. Er packte sie am Handgelenk.

»Hannah, ich weiß doch, dass du mich tief in deinem Herzen liebst.«

Hannah wollte sich von ihm befreien, aber er drückte noch fester zu.

»Es könnte für dich viel schlechter werden als jetzt«, sagte er drohend. »Ich weiß, was du getan hast.«

Hannah schloss die Augen und stellte sich Thomas vor, wie er an die Stuckdecke ihres Wohnzimmers schaute und über die Geschichten lachte, die sie ihm erzählte.

»Ich habe dich in der Sturmnacht gesehen. Zusammen mit Dr. Ullathorne. Ich weiß, dass du ihn gestoßen hast.« James sprach gedämpft, damit niemand ihn hörte.

Hannah öffnete die Augen und stieß ein freudloses Lachen aus. »Nun, mach schon«, blaffte sie. »Sag dem Vorsteher, was ich getan habe. Sag es Captain Gartside. Du kannst es gern auch dem Gouverneur Macquarie erzählen. Ich jedenfalls werde nur mit einem Mann von hier fortgehen.«

»Er ist tot«, sagte James.

»Hör auf. Ich komme nicht mit dir mit.«

»Dein kostbarer Behr. Er ist tot.«

Hannah schüttelte den Kopf.

»Er ist verrückt geworden«, fuhr James fort. »Er hat sich Befehlen widersetzt und dann im Rausch einen Vorgesetzten getötet. Man hat ihn gehängt.«

»Ich glaube dir nicht«, entgegnete Hannah.

James zuckte die Achseln und drückte ihr etwas Kaltes, Hartes in die Hand. Dann bückte er sich und hob sein Taschentuch auf.

»Nächste Woche bin ich wieder hier«, sagte er und ging.

»Falsche Kröte«, zischte Tabby. »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.«

Hannah sah sich an, was er ihr gegeben hatte. Es war eine runde Brille mit silbernem Rand. Ein Brillenglas fehlte, das andere war verschmiert und zerbrochen. Die Bügel waren verbogen.

Thomas’ Brille.

Einen Augenblick lang war ihr, als würde der Stock des Fabrikvorstehers Green tausendmal auf sie einschlagen. Einen Augenblick lang war ihr, als würde sie in tausend Stücke zerspringen und vom Wind fortgetragen werden.

Aber nur einen Augenblick lang. Dann spürte sie nichts mehr.

An diesem Abend vergrub sich Tabby in ihren schmierigen Wollhaufen und stand nicht mehr auf. Hannah fand sie am nächsten Morgen. Ihre Amseläuglein blickten umwölkt und leer, ihre rechte Hand war zu einer Klaue gekrümmt, ihre linke um eine schwarze Feder geklammert. Hannah spürte noch, wie sie ihr Leben aushauchte. Jetzt war sie von allen verlassen. Von ihrer Mutter, ihrem Vater, von Long Meg, Molly, Thomas Behr. Und nun auch von der verrückten Alten.

Als James am nächsten Sonntag sein Taschentuch vor ihr fallen ließ, bückte sich Hannah und hob es auf.